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Titel: Um auf die israelischen Besatzer wütend zu sein, brauchen Palästinenser keinen Antisemitismus
Datum: 8. Juni 2024 um 15:00 Uhr
Rubrik: Antisemitismus, Audio-Podcast, Militäreinsätze/Kriege, Postdemokratie
Verantwortlich: Redaktion
Warum der Antisemitismus-Vorwurf nicht aufklärt, sondern zudeckt. Zur Grundkonstante in der öffentlich-rechtlichen Diskussion gehört, Palästinensern einen Platz nahe am Antisemitismus zuzuweisen. Oder man spricht ganz umstandslos von einem arabischen Antisemitismus. Warum sollte das nicht stimmen? Warum sollten sie weniger rassistisch sein als die Europäer? Von Wolf Wetzel.
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Warum sollten sie nicht dasselbe tun wie in Europa, wo viele, viel zu viele die wahren Herrschaftsverhältnisse verschleiern, indem sie die „Juden“ für alles verantwortlich machen? Der Antisemitismus war ganz sicher im Dritten Reich Staatsraison. Und auch im Nachkriegsdeutschland hält sich der Antisemitismus ganz hartnäckig, wenn man Bill Gates nicht für seine milliardenschweren Politiken verantwortlich macht, sondern wegen seiner jüdischen Herkunft. Auch so kann man das, was der Kapitalismus von Profit- in Machtakkummulation umwandelt, ins „jüdische“ Wesen umlenken – was ja nichts anders bedeuten soll als: Der Kapitalismus ist ganz in Ordnung, wenn es nicht „die Juden“ gäbe. Die antisemitische Grundformel vom „schaffenden“ (deutschen) und dem „raffenden“ (jüdischen) Kapital dient bis heute der Verschleierung der tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse.
Warum sollten Palästinenser nicht auch der Versuchung erliegen, sich in komplexen Herrschaftsverhältnissen zu verlaufen? Doch meist geht man gar nicht diesen Fragen nach, sondern hält sich raus. Am Ende ist man selbst ein Antisemit oder jemand, der antisemitische Narrative bedient. Wenn genug zustimmen bzw. schweigen, ist jede Diskussion hinfällig.
Bevor es losgeht, möchte ich eines erklärend hinzufügen: „Die Palästinenser“ gibt es so wenig wie „die Deutschen“. Der palästinensische Bauinternehmer hat so wenig mit der Palästinenserin im Flüchtlingslager gemein wie die Kassiererin in einer Supermarktkette mit ihrem Chef. Wenn ich hier von „den Palästinensern“ (in besetzten Gebieten) rede, dann aufgrund einer tatsächlichen Gemeinsamkeit: Sie sind alle der israelischen Besatzungsmacht unterworfen.
Was macht Palästinenser zu Antisemiten?
Wenn man dieser Frage ernsthaft nachgeht, muss man zuvor die Frage beantworten: Was ist eigentlich Antisemitismus? Es gibt ja mittlerweile so viele Antisemitismen, dass man auch da lieber abwinkt, als den Begrifflichkeiten auf den Grund zu gehen. Lassen wir einmal beiseite, was den religiösen, christlichen Antisemitismus vom sekundären Antisemitismus unterscheidet. Konzentrieren wir uns auf den in den letzten Jahren sehr in Mode gekommenen Begriff vom „israelbezogenen Antisemitismus“.
Ich möchte mich auf diese Begrifflichkeit konzentrieren, denn sie wird zurzeit wie Streusalz verteilt, wenn jemand die Politik der israelischen Regierung kritisiert oder gar den Krieg im Gazastreifen nicht für ein Selbstverteidigungsrecht hält, sondern für einen vorsätzlichen und gewollten Massenmord, der durchaus die Merkmale eines Genozids erfüllt. Wer das tut, ist ganz schnell ein Antisemit, wird aus jeder öffentlich-rechtlichen Diskussion ausgeschlossen und bekommt es bestenfalls mit Polizei, Hausdurchsuchungen und Strafverfahren zu tun (wie zum Beispiel die Frauenorganisation „Zora“ aus Berlin).
Dass es in Deutschland nach wie vor antisemitische Denk- und Handlungsweisen gibt, ist ein Erbe der „zweiten Schuld“ (Ralph Giordano) nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches. Daran sind nicht die Nazis schuld, sondern all jene „demokratischen“ Parteien, die nach 1948 die Regierung stellten. Man schwieg darüber, wie weit der Antisemitismus staatstragend und parteiübergreifend (von deutsch-national bis liberal) war und dass die Nazis dabei wenig neu erfinden mussten. Und man schwieg nach 1948 darüber, dass viele Nazis, die überlebt hatten, ihre Karriere in Westdeutschland fortsetzen konnten.
Aber ein fast noch größeres Tabu ist, dass heute viele Neonazis und Postfaschisten Israelfans sind. Für sie ist die israelische Siedlerpolitik, der rassistische Umgang mit den „Arabern“, die in allen Belangen gefeierte Überlegenheit gegenüber den „anderen“, der Krieg als Grundkonstante staatlichen, nationalen Daseins, viel mehr Vor- als Feindbild.
Vom Sühnefall zum Vorposten westlicher Hegemonialmächte
Aber auch hier lohnt sich ein historischer Rückblick: Als Israel im sogenannten Sechstagekrieg 1967 die arabischen Armeen besiegte, den Gazastreifen, die Golanhöhen, Ost-Jerusalem und das Westjordanland besetzte, hatte das Entsetzen im politischen Establishment über den israelischen Angriffskrieg die Lautstärke eines Taubstummen. Umso größer war die Begeisterung für diese militärische Meisterleistung. Und damit war auch die Metamorphose eingeleitet. Der antisemitisch konnotierte Jude war gestorben. Die israelische Armee wurde eingedeutscht. Die deutschen Medien, allen voran die BILD-Zeitung, machten aus Moshe Dayan, dem Befehlshaber der israelischen Armee, einen zweiten „Rommel“. Letzterer leitete im Dritten Reich den Angriffskrieg in Afrika. Und noch etwas sollte seine faschistische Konnotation verlieren: Man feierte hier den „Blitzsieg“ Israels und ebnete damit sehr bewusst die deutschen Kriegsverbrechen ein. Seit diesem überwältigenden Sieg war Israel kein Pflege- und Sühnefall mehr, sondern ein militärischer Vorposten der westlichen Hegemonialmächte, dem das gelang, woran Generalfeldmarschall Rommel (auch „Wüstenfuchs“ genannt) im Afrikafeldzug scheiterte. Seit diesem Sieg erkannte die BILD-Zeitung die Zeichen der Zeit und verkündete fortan ihre große, innige Liebe zu Israel, ein Vorläufer des staatlichen Bekenntnisses, Israel in die deutsche Staatsraison einzugliedern.
Damit hatte man auf gewisse Weise den militärischen Sieg Israels getoppt. Fortan konnte man das Gedenken an den Holocaust problemlos mit Kriegsverbrechen, internationalen Rechtsbrüchen, Post-Kolonialismus und kriegstüchtigem Staat verzahnen.
Es wäre eine eigene Untersuchung wert, was dies bedeutet, wenn Seite an Seite die politische „Mitte“ und nicht unbedeutende Teile der „Neurechten“ (von AfD bis hin zu Teilen der „Sezession“) in Netanjahu genau den starken Mann sehen, den sie sich auch für Deutschland wünschen – ein Mann, der sich nichts vorschreiben lässt, der die institutionelle Gewaltenteilung für liberalen Bullshit hält und der genau weiß, dass es nicht auf (die Einhaltung von) Gesetze(n) ankommt, sondern auf das Gewaltpotenzial, über alle Gesetze und Grenzen hinweg Fakten zu schaffen. Dass die deutschen „Neurechten“ dies begrüßen, ist genauso wenig ein Irrtum wie die Unterstützung der Netanjahu-Regierung von Mitgliedern, die sich selbst als Faschisten bezeichnen. Schon allein diese bizarre politische Konstellation macht die Fadenscheinigkeit deutlich, mit der die Kritik an der israelischen Staatsführung als „rechts“ und dann als antisemitisch denunziert wird.
Manche Analysen dieses merkwürdigen Seitenwechsels erklären dies mit einem „Philosemitismus”. Psychologisch könnte man das in die Nähe von Hassliebe rücken. Ich halte diese Erklärung für falsch und werde darauf zurückkommen.
In diesem Beitrag geht es nicht um deutsche Befindlichkeiten und Nachstellungen. Es geht darum, dem Vorwurf nachzugehen, dass Palästinenser (und alle pro-palästinensischen Aktivisten und Aktivistinnen) antisemitisch motiviert seien, wenn sie gegen die israelische Besatzungsmacht aufbegehren.
Es gibt keine dümmere und haltlosere Art der Denunziation.
Zu diesem Fazit kommt man, wenn man sich die Genese des Antisemitismus, also die zentralen Grundannahmen vor Augen führt:
Der Antisemitismus wurde in einer Zeit mächtig, als die Welt auf den Abgrund zulief. Der Erste Weltkrieg war noch nicht wirklich vorbei, die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre brachte für viele Menschen noch mehr Elend und Verzweiflung. Der Kapitalismus kämpfte gegen sich selbst und gegen den kommunistischen Ostblock.
Der Antisemitismus bot eine blendende Möglichkeit, den Kapitalismus zu retten, indem er seine elende Seite den Juden zuschob und die eigenen Weltherrschaftsansprüche dem Kommunismus. Das mündete in der Formel von der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“.
Die Ideologie des Antisemitismus funktioniert folglich in einer doppelten Paradoxie:
Wenn man diese Axiome zugrunde legt, dann kommt man mit Blick auf das, was Palästinenser in besetzten Gebieten erleben und zu verarbeiten haben, zu einem sehr eindeutigen Ergebnis:
Die Palästinenser brauchen sich keinen imaginären Feind zuzulegen, den man im Antisemitismus in der Gestalt des Juden findet. Während der Antisemitismus den omnipotenten Feind erfindet, also von den wirklichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen ablenkt, leben die Palästinenser (in den besetzten Gebieten) mit einem realen Feind, dem Staat Israel, der ihr Leben fast vollständig in der Hand hat. Es gibt wenige Orte auf der Welt, wo der Antisemitismus so dermaßen überflüssig ist, um von den eigentlichen Feinden abzulenken.
„Die reine Teufelei ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.“
Gideon Levy ist Journalist und Mitherausgeber der israelischen Tageszeitung Haaretz. Er ist es gewohnt, gegen rechte ultra-orthodoxe Positionen anzukämpfen. Doch seit dem Krieg in Gaza um Palästina beobachtet er eine erschreckende Verschiebung. Was früher rechts außen war, ist nun Mainstream geworden. Mehr noch: Was früher reaktionär war, nähert sich heute einer faschistischen Logik:
„Es ist nicht mehr nur die politische Rechte. Es ist jetzt der Mainstream. […] Das Ungeheuerliche ist zur Realität geworden. Die reine Teufelei ist in der Mitte der Gesellschaft und sogar links der Mitte angekommen. Noch ein oder zwei Kriege mehr, und alle werden wie Meir Kahane sein.“
Das erklärt er am Beispiel des ehemaligen Leiters der Operations- und Planungsabteilung des Militärs und Chef des Nationalen Sicherheitsrats Giora Eiland:
„Giora Eiland ist einer der ‚denkenden Offiziere‘, die aus der IDF, den israelischen Streitkräften, hervorgegangen sind. Er wirkt sympathisch und ist wortgewandt, sein Auftreten ist von Mäßigung und gesundem Urteilsvermögen geprägt. […] Er wird oft interviewt und von der Arbeiterbewegung hoch geschätzt. Er ist nicht wortkarg und ignorant wie zum Beispiel Brigadegeneral Amir Avivi und nicht blutrünstig wie zum Beispiel Itamar Ben Gvir. Er ist ein Mann der politischen Mitte, der gemäßigten Rechten.“
Während bereits über 10.000 Menschen in Gaza ermordet worden sind, Gaza-Stadt einer apokalyptischen Trümmerlandschaft gleicht, über eine Million Menschen vom Nordflügel des Gefängnisses in den Südflügel fliehen, weiß der einst gemäßigte Mann, was jetzt noch fehlt:
„Epidemien in Gaza sind gut für Israel! ‚Schließlich werden schwere Epidemien im Süden des Gazastreifens den Sieg Israels erleichtern und die Zahl der Todesopfer unter den IDF-Soldaten verringern‘”, schrieb er diese Woche wörtlich in der Zeitung Yedioth Ahronoth. […] „‚Und nein, es ist keine Grausamkeit ihnen gegenüber‘, betonte er, als ob jemand so etwas hätte denken können. In Wirklichkeit sei es seltene Freundlichkeit und Menschlichkeit, da sie ja israelische Menschenleben retten würde. Giora Eiland, mit diesem Vorschlag gleichzeitig in der Rolle von Mutter Theresa, in der Rolle eines Offiziers und eines Gentlemans in der moralischsten Armee der Welt, machte einen klaren Nazi-Vorschlag – aber in der Bevölkerung brach trotzdem kein Sturm aus!“
Ich hätte noch vor einiger Zeit diese Aussagen als antisemitisch-gesteuerte Horrorgeschichte aus meiner Gedankenwelt getrieben. Tatsächlich reihen sie sich aber in eine Serie von Aussagen ein, die nicht von der „Straße“ kommen, sondern aus Regierungskreisen.
Alles Reaktionen auf ein Schockerlebnis?
So könnte man die ersten Reaktionen nach dem „9/11“ am 7. Oktober 2023 begreifen. Was man selbstverständlich jeden Tag macht, Angst und Schrecken auf fremdem Territorium zu verbreiten, das „Recht“ der puren Gewalt auszuüben, passierte zum Schrecken vieler für einen Tag auf israelischem Territorium. Dieser Schock hätte dazu führen können, in Israel darüber zu reden, was man tagtäglich, Tag und Nacht in besetzten Gebieten macht, was man gutheißt, was man gar nicht so genau wissen möchte.
Das Gegenteil ist eingetreten. Die wahnwitzigen Fantasien werden seit sieben Monaten unaufhaltsam in die Tat umgesetzt: Man zerstört den gesamten Gazastreifen. Über 70 Prozent der Häuser in Gaza sind dem Erdboden gleichgemacht worden. Jetzt werden „Zeltstädte“ bombardiert. Man zerstört gezielt Krankhäuser und humanitäre Einrichtungen. Man setzt die Waffe des Hungers bewusst ein und schließt alle Zugänge zu Gaza für Hilfslieferungen. Man kappt das Stromnetz, man zerstört Wasserzugänge. Die Erwachsenen suchen Tote und Verschüttete unter den Trümmern. Die Kinder stehen in langen Reihen für eine Suppe an. Und die geradezu irre Idee, eine Epidemie als Genozid-Helfer einzusetzen, ist inzwischen Realität in Gaza geworden. Riesige Müllberge sammeln sich an und können nicht beseitigt werden, weil Straßen bewusst unpassierbar gemacht werden.
Und es kommt eine Besonderheit hinzu, die sich von anderen Genoziden unterscheidet. In den allermeisten Fällen könnten die Menschen fliehen, indem sie in Nachbarländern Zuflucht finden (können). In Gaza gibt es keinen Flucht-, keinen Ausweg. Die Menschen sind absolut der israelischen Armee ausgeliefert. Sie fliehen vom Norden in den Süden und von dort wieder in den Norden – eine todbringende Flucht, die sich im Kreis dreht. Man kann dabei auch an Todesmärsche denken.
Wer diese Bilder aushält, wer sich den zahlreichen Handyaufnahmen der Fliehenden aussetzt, wer nicht dankbar dafür ist, dass man in Deutschland (aber auch Israel) davon fast nichts mitbekommt, der bekommt nicht nur Wut auf jene, die in Israel ihre Vernichtungsfantasien umsetzen. Man bekommt auch eine heilige Wut auf jene, hier in Deutschland ihre Beihilfe zum Völkermord und zur Aufrechterhaltung einer postkolonialen Ordnung bekunden, indem sie die Shoa zu ihrer Geisel machen.
Die Menschen in Gaza sind wütend auf Israel, sie sind wütend auf ihre Besatzer. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie Juden sind, sondern, dass sie als Besatzer ihr Leben zur Hölle machen. Der infame Vorwurf, Kritik und Widerstand gegen die israelische Besatzung sei antisemitisch, ist nichts weiter als der Versuch, eine neokolonialistische und imperiale Praxis zu legitimieren.
Was in Gaza, im Westjordanland, in der ganzen Welt zusammenkommt, um gegen diese Vernichtungspolitik zu protestieren, ist genau das Gegenteil von Antisemitismus: Der Protest lenkt nicht von den Herrschaftsverhältnissen ab, sondern macht sie sichtbar, kenntlich und verantwortlich: in den USA, in Lateinamerika, in Europa und in Deutschland. Denn tatsächlich geht es weltweit nicht um das Judentum, sondern um eine imperiale Weltordnung, die sich im Gazakrieg wie eine Vorhölle zeigt.
Der Gazakrieg wird zunehmend zu dem, was er ist: ein furchtbares Menetekel für eine Weltordnung, in der Hunger, Ausbeutung, Unterdrückung, Vernichtung und nackte Gewalt keine Ausnahme, sondern deren Bedingungen sind.
Der Philosemitismus als Teil der deutschen Staatsraison?
Bereits nach dem „Blitzsieg“ Israels 1967 und dem Seitenwechsel reaktionärer Kreise auf die Seite der Sieger rätselt man verständlicherweise, wie das geschehen, wie das zu erklären ist.
Eine Auseinandersetzung mit dem christlichen Judenhass fand bis heute nicht statt, und das gilt auch für den Antisemitismus, der eine wesentliche Achse des deutschen Faschismus bildete. Woher soll also die neu-deutsche Liebe zu den Juden herrühren?
Ich halte diese Erklärung für falsch, denn sie erliegt einer sehr wirksamen Täuschung: Es ging nie um den Juden! Zum einen erkannte man ihn gar nicht, zum anderen war er nicht anders als man selbst. Es geht nicht um die Juden, sondern um die Aufrechterhaltung der herrschenden Verhältnisse. Und dabei half einem nicht der böse Jude, sondern das jahrhundertlang eingeübte Ressentiment gegenüber den Juden – ein Judenhass, den die Nazis nur beerbt hatten, der aber in der christlichen Lehre tief verankert ist.
Dass es auch heute nicht um den Juden geht, macht der Hass auf die „falschen Juden“ ganz besonders deutlich – also auf jene, die sich weder für Israel noch für die deutsche Staatsraison instrumentalisieren lassen und ihre Stimme erheben. Dieser ungeheure Hass auf diese „falschen“ Juden zeigt, dass es heute mehr denn je darum geht, sich in dem Herrschaftsverhältnis zu positionieren. Darin kommt eine postkoloniale Haltung zum Ausdruck, die besagt: Wenn wir Juden mögen, dann nur so, wie wir sie haben wollen. Erweist euch also dankbar oder wir jagen euch zum Teufel.
So erging es u.a. der jüdischen Künstlerin Candice Breitz. Im letzten Jahr wurde in Saarbrücken eine Ausstellung von der Kuratorin der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz Andrea Jahn abgesagt. Als Gründe wurden genannt, dass sie sich „israelfeindlich“ und „antisemitisch“ geäußert habe. Eine nichtjüdische Deutsche besitzt die Frechheit, Juden zu selektieren in jene, die man gerne vorzeigt und jene, die man für antisemitisch hält und zum Schweigen bringen will. Tatsächlich hat sie etwas gesagt, was nichts mit Antisemitismus zu tun hat, sondern mit der deutschen totalitären Staatsraison. Candice Breitz fand sich damit nicht ab und verglich die Auftritts- und Veranstaltungsverbote für die „falschen“ Juden mit der Nazi-Zeit: „In dieser Zeit seien das letzte Mal Ausstellungen jüdischer Künstler abgesagt worden.“
Der Antisemitismusvorwurf will nicht begründen, sondern zum Schweigen bringen
Wer will schon als Antisemit bezeichnet werden. Früher wurde man als Anarchist oder Kommunist denunziert und ausgegrenzt. Doch es gab immerhin noch einige, die stolz darauf waren, Anarchist oder Kommunistin zu sein. Das kann man wahrlich nicht, wenn man als Antisemit bezeichnet wird. Deshalb ist der Reflex auch so groß, sich zu rechtfertigen. Die „falschen“ Juden versuchen, sich zu rechtfertigen, indem sie ihr Jüdischsein anführen. Und die Nicht-Juden versuchen zu erklären, dass sie die Juden nicht ins Meer werfen wollen.
Damit hat dieser instrumentelle Vorwurf genau sein Ziel erreicht. Er will den eigentlichen Konflikt – das wirksame Herrschaftsverhältnis – aus der Diskussion verbannen und vor allem die Frage zum Teufel jagen, auf welcher Seite dieses Herrschaftsverhältnisses man steht. Und dabei geht es nicht nur um eine politische Haltung, sondern um die Rechtfertigung seiner eigenen Inklusion. Denn selbstverständlich wissen viele, dass der Israel-Palästina-Konflikt (der Krieg auf dem Boden der Ukraine) auch der Aufrechterhaltung der Verhältnisse dient, die das Leben hier für viele erträglich machen.
Aus diesem Grund rufen viele, die die Protestcamps in den USA und Europa unterstützen, der „anderen“ Seite (ob der Polizei, der Regierung oder den zivil-gesellschaftlichen Arme/en) zu:
„You stay on the wrong side of the history“.
Viele ahnen, dass dieser wahnsinnige Vernichtungskrieg in Gaza eine Vorschau auf das ist, was die bisherige imperiale Weltmacht (mit dem Weltpolizisten USA und seinen Gehilfen) von dieser Erde übrig lassen wird, wenn sie sich mit Terror, Auslöschung und Mord daran festhalten wird. Und genau das passiert mit der postfaschistischen Regierung Netanjahus vor unser aller Augen. Der Krieg in Gaza besiegt nicht die „Hamas“, sondern den letzten Rest an Hoffnung auf eine aushaltbare kapitalistische Ordnung.
Am Kraterrand der „schöpferischen Zerstörung“
Wir können es – trotz medialer Zensur – jeden Tag sehen: Trümmerlandschaften, unaushaltbares und gewolltes Elend. Eine Soldateska, die sich im Kreis dreht, weil sie nicht siegen kann, weil sie mit jedem Mord, mit jeder Bombe den Kampf gegen die Besatzung unsterblich macht. Und viele erahnen es: Wenn die US-Regierung, die deutsche Regierung dies unterstützen, dies möglich machen, dann können wir uns vorstellen, wozu diese Regierungen im eigenen Land bereit sind.
Es geht um die Zukunft, aber auch um die fortwährende Vergangenheit. Aamer Rahman hat dies in seinem Stück „Culture War“ auf den Punkt gebracht:
„All colonized people see themselves in Palestine […] and all colonizers see themselves in Israel.”
Der Ökonom Joseph Schumpeter hat den Motor des Kapitalismus wie folgt auf den Punkt gebracht: Es handle sich dabei um das wirksame Prinzip der „schöpferischen Zerstörung”. Ich bin mir sicher, dass in den weltweiten Protesten, die erstmal seit Jahrzehnten wieder einer globalen, postkolonialistischen Sichtweise Kraft und Ausstrahlung verleiht, das tektonische Gespür aufscheint, wo wir uns heute befinden: am Kraterrand der „schöpferischen Zerstörung“.
Wenn sie uns also als Antisemiten denunzieren, sollten wir uns nicht rechtfertigen. Wir sollten ihnen ganz nahekommen und sagen: Ja, wir sind der Elefant in deinem Schlafzimmer.
Titelbild: cunaplus/shutterstock.com
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