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Titel: Die Rolle des Internationalen Gerichtshofs im Gaza-Krieg
Datum: 6. Juni 2024 um 13:14 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
Koloniale Gewalt und der Weg zur Gerechtigkeit. Der Krieg in Gaza wütet jetzt schon über sieben Monate und hat schon längst die unfassbaren Dimensionen eines Völkermordes erreicht. Alle Initiativen, diesem Grauen mit politischen Mitteln ein Ende zu setzen, sind bisher gescheitert. Und nun wird, wie so oft, von der Justiz als ultima ratio der Frieden erhofft. Von Norman Paech[*].
Jahrzehntelang wurde sie ebenso wie die UNO aus dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern herausgehalten. Doch nun hat die mutige Initiative Südafrikas den Bann gebrochen und eine unerwartete weltweite positive Resonanz erhalten – außer bei Israel und seinen cronies (= Spießgesellen) um die USA und BRD. Seit dem vorläufigen Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) am 26. Februar dieses Jahres hat er bereits dreimal in der Klage Südafrikas gegen Israel Stellung bezogen. Die beiden ersten Urteile haben Israel nicht zu der geforderten Änderung ihrer Kriegsführung bewogen und die dritte Entscheidung auch nicht, wie die Bombardierung Rafahs unmittelbar nach der Entscheidung des Gerichtshofs, die Offensive einzustellen, beweist. Es stellt sich also die Frage, welche Bedeutung kommt der internationalen Gerichtsbarkeit bei der Verhinderung und Bewältigung von Kriegen überhaupt zu. Und daran mag sich dann die Frage anschließen, wie sich Deutschland, sprich die Bundesregierung, gegenüber einem solchen Gericht zu verhalten hat, das heißt, welche Bedeutung das Völkerrecht für ihre Außenpolitik hat.
Israel zumindest hat jahrzehntelang das Völkerrecht missachtet – aber ohne Folgen. Israel ist das am meisten von den Organen der Vereinten Nationen, insbesondere von der Generalversammlung, aber auch dem Menschenrechtsausschuss, verurteilte Land. Alle Regierungen Israels haben keine Resolution akzeptiert und höchstens mit dem Vorwurf des Antisemitismus reagiert. Die internationale Gerichtsbarkeit konnte dabei niemals eingreifen, es fehlte schlicht an Klägern. Erst seit wenigen Jahren hat sich das grundsätzlich geändert. Es sind insgesamt vier Gerichtsverfahren, die derzeit direkt und indirekt gegen Israel anhängig sind.
Es geschah zunächst nichts nach diesem Antrag, die Angriffe von 2008/2009 zu untersuchen. Als dann allerdings 2014 eine zweite Militäroffensive gegen Gaza von der israelischen Armee gestartet wurde, die sogenannte Protective Edge, die 50 Tage dauerte mit weit über 2.000 Toten und über 10.000 Verletzten, wurde der Internationale Strafgerichtshof, d.h. seine Chefanklägerin Fatou Bensouda aktiv. Es begannen nun Untersuchungen wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und vor allen Dingen auch wegen der Siedlungstätigkeit seit dem Jahre 2014.
2019 berichtete Fatou Bensouda über ihre Vorermittlungen und erklärte, sie seien abgeschlossen. Dann erklärte sich auch der Internationale Gerichtshof 2021, also zwei Jahre später, für zuständig. Palästina war seit 2015 Vertragsstaat und hatte das römische Statut anerkannt. Die Frage war, genügt die Aktivlegitimierung dazu? Es hatte immerhin zwei Jahre gedauert, bis der Strafgerichtshof die Aktivlegitimierung anerkannte, obwohl Palästina in der UNO immer noch nicht als Staat anerkannt ist. Der Beobachterstatus reichte dem Gerichtshof für die Aktivlegitimierung vor Gericht, weswegen das Verfahren jetzt in offizielle Untersuchungen übergeleitet werden konnte. Da spielte nun auch Artikel 7 des Römischen Statuts mit den Tatbeständen Apartheid und Segregation als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine Rolle.
Lange Zeit geschah allerdings nichts. Das hing auch damit zusammen, dass Fatou Bensouda 2021 durch einen neuen Chefankläger, den Engländer Karim Khan, abgelöst wurde. Er tat vorerst nichts, bis sich dann im März 2023 32 UNO-Sonderberichterstatter in der UNO und beim Internationalen Strafgerichtshof beschwerten, warum offiziell bisher immer noch nicht untersucht worden sei. Man muss im Hintergrund wissen, dass ein solcher Chefankläger eine politische Position ist, genauso wie auch in den nationalen Rechtsordnungen der europäischen Staaten. Jeder Staatsanwalt ist abhängig von seiner Regierung. So ist auch der Chefankläger des IStGH abhängig von den dominanten Staaten. Khan war der bevorzugte Kandidat von Großbritannien und den USA, die in der Tat kein Interesse an der Untersuchung gegen Israel haben. Deswegen dauerte es so lange.
Wir erinnern uns daran, dass Khan im September 2021 die bereits laufenden Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen in Afghanistan gegen die US-Soldaten wegen Foltervorwürfen im Gefängnis Bagram einstellte, offiziell wegen fehlender Kapazitäten und mangelnder Erfolgsaussichten. Er beschränkte deshalb die Untersuchungen auf die Verfolgung möglicher Kriegsverbrechen der Taliban. Präsident Trump hatte schon seiner Vorgängerin Fatou Bensouda mit Sanktionen gedroht, sollte weiter gegen US-Soldaten ermittelt werden. Auch der Mossad mit Yossi Cohen an der Spitze hat Bensouda massiv unter Druck gesetzt, die Untersuchungen fallenzulassen, wie der Guardian jüngst am 28. Mai aufdeckte. Der Druck auf Khan wird nicht viel geringer gewesen sein, wie man jetzt aus den Reaktionen in Israel und den USA schließen kann. Trotzdem wurde er am 7. Oktober 2023 mit dem Überfall der Hamas auf Israel plötzlich aktiv. Er begab sich nach Rafah, um die Untersuchung nun zu eröffnen – natürlich nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen die Hamas.
Und nun der politisch überraschende, aber juristisch folgerichtige und gebotene Antrag eines Haftbefehls gegen Ministerpräsident Netanjahu und Verteidigungsminister Galant und gegen die drei Führungspersönlichkeiten der Hamas Ismail Hanyieh, Yahya Sinwar und Mohammed Deid. Noch hat die zuständige Kammer des Gerichtshofs dem Antrag nicht stattgegeben, aber die politische Wirkung ist bereits erheblich. Zum ersten Mal wagt es der Strafgerichtshof, einen Staatschef aus dem westlichen Lager zur Haft auszuschreiben. Er wird dem Antrag Khans folgen müssen, wenn er seine Glaubwürdigkeit nicht verlieren will.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf ein Gutachten verweisen, welches der Internationale Gerichtshof schon 2004 ebenfalls auf Anfrage der UN-Generalversammlung erstellt hatte, das sogenannte Mauer-Gutachten. Der Gerichtshof sollte prüfen, ob die Mauer bzw. der Sperrzaun, den Israel rund um die besetzten Gebiete gezogen hat und immer noch zieht, rechtmäßig ist. Die Richter haben 2004 ihr Gutachten veröffentlicht, was allerdings nicht verbindlich ist. Aber die Sprache ist sehr klar. Die Mauer ist so weit rechtswidrig, als sie palästinensisches Gebiet abzweigt. Denn die Israelis hatten die Mauer nicht nur auf ihrem Gebiet errichtet, sondern zu 80 Prozent auf palästinensischem Territorium. Jeder Staat kann sich einmauern. Aber er darf natürlich damit nicht gleichzeitig fremdes Gebiet sich aneignen. Der Gerichtshof hat Israel verpflichtet, die Mauer zurückzubauen und Entschädigung für die enteigneten Besitzer zu zahlen. Israel hat sich um nichts gekümmert. Da der Internationale Gerichtshof aber keine Durchsetzungsmöglichkeiten hat, hängt dieses Gutachten nun in der Luft. Der Gerichtshof hat zwar festgestellt, dass der überwiegende Teil der Mauer rechtswidrig ist, kann aber nichts unternehmen, um seine Meinung auch durchzusetzen.
Die Entscheidung ist bekannt. Die 15 Richter und zwei Richterinnen haben konkrete humanitäre Maßnahmen zur Verhinderung eines Völkermords gefordert. Mehr allerdings nicht. Das Ende der Kriegshandlungen, das Südafrika gefordert hatte, haben sie nicht verfügt. Dabei hatte noch am 15. Januar, also eine Woche zuvor, UN-Generalsekretär Antonio Guterres dringend einen sofortigen Waffenstillstand gefordert. Dem wollte sich allerdings das Gericht nicht anschließen. Es gibt auch kein Dissenting Vote, also ein Minderheitsvotum, welches einen Waffenstillstand fordert.
Wie zu befürchten war, hat Israel auch diese Entscheidung des IGH ignoriert und das Ziel, die Hamas zu vernichten, gnadenlos mit furchtbaren Opfern unter der Zivilbevölkerung weiter verfolgt. Südafrika hat seine Forderung nach Stopp der Waffen noch dreimal wiederholt. Der Gerichtshof meinte allerdings beim ersten Antrag Südafrikas, alles Notwendige bereits in seiner Entscheidung vom 26. Februar gesagt zu haben. In einem weiteren Antrag danach forderte Südafrika, den Stopp der Rafah-Offensive zu verfügen. In seiner Entscheidung am 28. März erkannte das Gericht die drastische Verschlechterung der Situation in Gaza an, die alle Lebensbereiche in einer Dramatik gefährden, die bis dahin ohne jegliche Vergleichbarkeit sind. Es ordnete weitere dringende Maßnahmen der humanitären Hilfe an, ohne allerdings über einen Stopp der Waffengewalt zu entscheiden. Nach Medienberichten aus den Niederlanden sollen diesmal sieben Richter für einen sofortigen Waffenstillstand votiert haben. Der Vorsitz im Gericht hatte gewechselt von der Karrierejuristin aus dem US-Außenministerium Joan E. Donogue auf den Libanesen Nawaf Salam. Das kann entscheidend sein, wenn ein achter hinzukommt. Nun hat Südafrika am 10. Mai einen dritten dringenden Appell an den Gerichtshof gerichtet, einen sofortigen Stopp der Offensive gegen Rafah zu fordern. Südafrika nutzte die öffentliche Anhörung am 16. Mai, wiederum das entsetzliche Grauen und die maßlose, ungezügelte Gewalt der israelischen Armee im Süden des Gazastreifens in allen Details zu schildern. Die Entscheidung ist nun am 24. Mai dem Antrag gefolgt und mit 13:2 Stimmen entschieden, dass Israel seine Militäroffensive sofort zu stoppen hat. Das Lob für diese Entscheidung ist jedoch vorwiegend an die Regierung Südafrikas zu richten, die mit ihrem Mut und ihrer Hartnäckigkeit nicht nur das Gericht zu dieser Entscheidung getrieben hat, sondern die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf diese Verbrechen gelenkt hat, um den Druck auf Israel zu erhöhen, endlich fast 60 Jahre kolonialer Unterdrückung zu beenden.
Wie immer auch dieses furchtbare Massaker in Gaza weitergeht und hoffentlich doch schnell zu einem Ende kommt, der Internationale Gerichtshof wird in beiden Verfahren mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt befasst bleiben. Und es stellt sich die Frage, wie wird er damit umgehen?
Während der Beratungen zur Resolution 1514 reichten Liberia und Äthiopien im November 1960 eine Klage in Den Haag gegen Südafrika ein. Sie wollten dessen Verwaltung in Südwestafrika beenden. Dieses Land war 1884 unter die brutale deutsche Kolonialherrschaft gekommen mit Massakern an den Völkern der Herero und Nama, die nach langem Zögern nun auch von der deutschen Regierung als Völkermord anerkannt wurden. Mit dem Ende der deutschen Herrschaft 1919 verwandelte der Völkerbund das Gebiet in ein britisches Mandat, welches das Land unter die Verwaltung der Südafrikanischen Union stellte. Dort blieb es auch nach der Unabhängigkeit Südafrikas 1931 und nach der Ablösung des Völkerbundes durch die UNO 1945. Die Generalversammlung nahm aber zunehmend Anstoß an der Apartheidpolitik, die Südafrika auch auf das Mandatsgebiet übertrug. Sie beauftragte insgesamt drei Gutachten beim Internationalen Gerichtshof, die Rechte der Menschen und die Kontrollmöglichkeiten der UNO über das Gebiet zu untersuchen. Das Ergebnis genügte Liberia und Äthiopien jedoch nicht, sodass sie Klage erhoben.
Zunächst musste sich das Gericht mit dem Einwand Südafrikas auseinandersetzen, die beiden klagenden Länder hätten kein berechtigtes gesetzliches Interesse an der Behandlung der Bewohner eines dritten Landes. Doch mit einer knappen Mehrheit von 8 zu 7 Stimmen verwarf das Gericht den Einwand und erkannte die Klagebefugnis an. Das war 1962. Als jedoch 1968 die Beratungen zur Schlussentscheidung anstanden, hatte sich die Richterbank verändert. Der Anführer der Mindermeinung, der australische Richter Sir Percy Spender war zum Präsidenten des Gerichtshofs gewählt worden und es gelang ihm, den pakistanischen Richter Sir Zafarullah Khan so stark unter Druck zu setzen, dass dieser sich schließlich als befangen zurückzog. Es nahmen also nur noch 14 Richter an der Entscheidung teil, und sie endete 7 zu 7 Stimmen unentschieden. Da in diesem Fall die Stimme des Vorsitzenden entscheidet, wurde die Klage abgewiesen. Ein klarer politischer Rückschritt, und eine deutliche Niederlage für die UNO. Ein Vertrauensverlust für den Gerichtshof und offenbar ein weiterer Beweis für die Ohnmacht und Nutzlosigkeit der Justiz.
Doch die Geschichte war noch nicht zu Ende. Die Generalversammlung bestätigte sofort danach ihre Resolution 1514 von 1960 und beendete das Mandat Südafrikas. Der Sicherheitsrat forderte die Regierung auf, Südwestafrika zu räumen. Doch Südafrika weigerte sich. So wandte sich der Sicherheitsrat erneut an den IGH und erbat ein Rechtsgutachten über die rechtlichen Folgen der Weigerung Südafrikas. Es war inzwischen 1971 und die Richterbank hatte sich erneut verändert. Sir Percy Spender war ausgeschieden und sein Konkurrent Sir Zafarullah Khan war Präsident geworden. Das Gericht entschied nun, dass die Verwaltung Südafrikas rechtswidrig sei und es sofort Namibia zu verlassen habe. Alle Mitgliedsstaaten wurden aufgefordert, jede Unterstützung der Besatzer zu beenden. Die Glaubwürdigkeit des Gerichts war wieder hergestellt.
Dieser kurze Exkurs in die Geschichte der Dekolonisation zeigt zweierlei. Der Kampf um das Recht ist hochpolitisch und kann nur dann gewonnen werden, wenn der Druck der Völker die Normen des Rechts in die Richtung der Befreiung und Gleichberechtigung zwingt. Der lange Kampf um das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist dafür ein lehrreiches Beispiel. Er wird vorwiegend in der UNO geführt. Die Justiz und die Gerichtshöfe sind nur der geregelte Kampfplatz, der den weitgehend unregulierbaren Kriegsschauplatz der Waffengewalt ersetzt, um den Fortschritt der Befreiung, Gleichberechtigung und des Friedens durchzusetzen. Aber auch sie sind hochpolitische Institutionen, um die ständig gerungen wird. Übrigens: Die Bundesregierung hat gerade eine Schlacht um einen freiwerdenden Richterplatz im Internationalen Strafgerichtshof gegen Frankreich verloren. Deutschland wird in den nächsten Jahren dort nicht mehr vertreten sein.
Nicaragua, einst spanische Kolonie, wurde schon 1821 unabhängig, litt aber jahrzehntelang unter der antikommunistischen und pro-US-amerikanischen Herrscherfamilie Somoza. Als diese 1979 in der sandinistischen Revolution gefeuert wurde, griffen die USA ohne Zögern zu ihren beliebten Blockade- und Interventionsinstrumenten und belieferten die sog. Contras mit Geld, Waffen und Ausbildung. Als die USA begannen, die Häfen Nicaraguas zu verminen und den Luftraum über Nicaragua zu verletzen, planten die Sandinisten 1983 eine Klage vor dem IGH. Die Verbündeten Kuba und Sowjetunion waren zwar dagegen, da sie dem Gericht in Den Haag nicht trauten. Aber nach umfangreichen geheimen Konsultationen mit anderen Ländern, genauen Analysen des Gerichts und der Kräfteverhältnisse erhoben sie Anfang 1984 Klage vor dem IGH wegen Verstoßes gegen das Gewaltverbot des Art. 2 Z. 4 UNO-Charta. Die USA verteidigten sich mit kollektiver Selbstverteidigung zum Schutz El Salvadors vor Gewalt aus dem Nachbarstaat. Doch das Gericht unter dem Vorsitz des Richters Elias aus Nigeria ordnete schon im Mai 1984 vorläufige Maßnahmen an, wie die Aufhebung der Blockade und Verminung der Häfen und Beachtung der Souveränität Nicaraguas. Im November 1984 bestätigte der Gerichtshof seine Zuständigkeit für diese Klage. Nur der US-amerikanische Richter Schwebel stimmte dagegen, damit würde die Gerechtigkeit untergraben, und die USA verabschiedete sich aus dem Prozess – nach dem Urteil, welches in Abwesenheit der USA ergehen sollte, verließen sie auch den Gerichtshof. Sie sind ihm nie wieder beigetreten.
Das Gericht benötigte nur 2 Jahre, bis im Sommer 1986 der neue Vorsitzende Singh das Urteil verkündete mit 12 zu 3 Stimmen und die USA in insgesamt 11 Punkten wegen rechtswidriger Anwendung von Gewalt, Verletzung der Souveränität Nicaraguas, Ausbildung, Bewaffnung und Finanzierung der Contra-Kräfte zur Einstellung ihrer Aktivitäten und Entschädigung verurteilten. Es wies das US-Argument der kollektiven Verteidigung zurück. Die USA lehnten das Urteil mit der bemerkenswerten Begründung ab, dass das Gericht für ihre Handlungen nicht zuständig und dies ausschließlich Sache der USA sei. Kurz zusammengefasst, das Vorgehen der USA gegen Nicaragua ginge das Gericht nichts an – eine Sicht, die aus der „Political Question Doktrin“ in den USA bekannt ist, die Regierungshandeln weitgehend der richterlichen Prüfung entzieht. Mit dieser Begründung hat auch die ugandische Richterin Sebutinde, nunmehr Vizepräsidentin des Gerichtshofs, alle Entscheidungen zur Klage Südafrikas gegen Israel abgelehnt.
Nicaragua wandte sich sogleich an den UNO-Sicherheitsrat und pochte auf die Verbindlichkeit der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs. Die USA legten am 28. Oktober 1986 natürlich ihr obligates Veto gegen die geplante Entscheidung des Sicherheitsrats ein, Frankreich, Großbritannien und Thailand enthielten sich der Stimme. Unverdrossen wandte sich Nicaragua an die Generalversammlung und erhielt mit einer überwältigenden Mehrheit von 94 Stimmen gegen 3, USA, Israel und El Salvador, die Unterstützung seiner Forderung. Ein Jahr später, am 12. November 1987, bekräftigte die Generalversammlung ihre Forderung an die USA nach „vollständiger und sofortiger Befolgung des IGH-Urteils“ erneut. Die USA hatten ja den Gerichtshof verlassen, stellten aber ihre Interventionen gegen Nicaragua weitgehend ein. Sie zahlten nie eine Entschädigung und Nicaragua hat erst jüngst dem UNO-Generalsekretär eine Erklärung übergeben, in der es immer noch die Erfüllung des Urteils von 1986 anmahnt. Die ursprüngliche Forderung von 12 Milliarden US-Dollar ist inzwischen mit Zinsen auf mehr als 31 Milliarden Dollar angestiegen.
Der Erfolg vor dem Gerichtshof 1986 hat Nicaragua zweifelsohne bewogen, dem Beispiel Südafrikas zu folgen und eine Klage gegen einen Staat, die Bundesrepublik, zu erheben, der wie kein zweiter Staat nach den USA Israel bedingungslos in einem mörderischen Krieg unterstützt. Erst am 16. Mai haben die Anwältinnen und Anwälte Südafrikas in einer erneuten öffentlichen Anhörung detailliert die kaum mehr für möglich gehaltenen Exzesse der Gewalt mit Vertreibung und sog. Vernichtungszonen im Gazastreifen dargestellt, die die Anklage wegen Völkermordes so berechtigt erscheinen lässt. Die beiden historischen Klagen haben aber auch gezeigt, dass nur mit der zusätzlichen Unterstützung der Staaten in der UNO die letzten Bastionen des Kolonialismus überwunden werden können – zu diesen gehört eben auch die Besatzung Palästinas durch Israel.
Zurück zum gegenwärtigen Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof. Er hat schnell entschieden und Deutschland am 2. Mai vom Vorwurf der Unterstützung eines Völkermords vorerst entlastet. Er hat den Eilantrag Nicaraguas, einen Stopp deutscher Waffenlieferungen zu verfügen, abgelehnt, da die Exportgenehmigungen für Rüstungsgüter in diesem Jahr stark zurückgegangen seien. Allerdings hat er den Antrag der Bundesregierung, die Klage Nicaraguas wegen Beihilfe zum Völkermord abzuweisen, ebenfalls abgelehnt. Deutschland bleibt also bis zur endgültigen Entscheidung über diesen Antrag unter Anklage. Wie lange das dauern wird, ist ungewiss.
Für Deutschland würde diese Erkenntnis die Trennung von dem überkommenen Klischee der Erinnerungskultur erfordern, dass die Last des Holocaust die deutsche Politik zwinge, auch die Verbrechen der israelischen Regierungspolitik zu akzeptieren, die sie keinem anderen Staat in der UNO erlauben würde. Vor dem Internationalen Gerichtshof hat sie die Seite Israels eingenommen, obwohl sie aufgrund ihrer vertraglichen Verpflichtung zur Unterstützung des Gerichtshofes zumindest eine neutrale Position einnehmen müsste. Das „Nie wieder“, in das die Erinnerung an die deutsche Geschichte immer wieder mündet, verbietet die Unterstützung oder auch nur Akzeptanz fremder Verbrechen ebenso wie eigene Verbrechen – eine Selbstverständlichkeit gegenüber jedem anderen Staat, die keine Doppelstandards und somit auch keine Ausnahme für Israel zulässt.
[«*] „N.P. Prof. i.R. für öffentliches Recht an der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte Völkerrecht, Menschenrecht, Krieg und Frieden. Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von International Association of Lawyers against Nuclear Arms (IALANA) und International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW), 2005-2009 Abgeordneter im Deutschen Bundestag für die Partei DIE LINKE, norman-paech.de.
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