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Titel: Eine Welt-Anschauung: Abchasien, fünf Tage im Mai

Datum: 5. Juni 2024 um 14:34 Uhr
Rubrik: Länderberichte
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Flott rauscht das Großraumtaxi über die glatte Fahrbahn; mit 80 Sachen durch die Stadt ist keine Seltenheit. Anschnallen? Der Fahrer lacht – das würden nur Fremde machen, Einheimische würden für den Gurt eine abgrundtiefe Verachtung hegen.
Trotz des forschen Fahrstils nimmt er – wie alle seine Kollegen – Rücksicht auf Kühe, Schweine und Hunde, die sich an den Fahrbahnen aufhalten oder sie queren. Aber dennoch – ab und an sieht man auch Zeichen des Gedenkens an einen Unfalltoten am Straßenrand. Von Bettina Schmidt[*].

Aufgrund eines früheren Vortrages über dieses uns fremde Stück Erde habe ich im Mai nun das Glück, gemeinsam mit vier Herren mir einen groben Eindruck von diesem Land machen zu können. Da es mein erster Besuch ist, bin ich entsprechend neugierig auf alles.

Abchasien ist ein kleines Land, mit nur wenigen Einwohnern; auf der einen Seite das Schwarze Meer, auf der anderen der Kaukasus. Der östliche Nachbar ist Georgien, von dem sich das abchasische Volk im Krieg 1992/1993 separiert hat. Ein heftiger Krieg mit viel Leid auf beiden Seiten. Prozentual forderte er jedoch auf abchasischer Seite einen deutlich höheren Blutzoll. Es gibt wohl keine einzige Familie, die nicht wenigstens ein Mitglied durch ihn verloren hat.

Ein Krieg mit Vorgeschichte, denn beide Gesellschaften leben sehr unterschiedlich. Nur per Befehl des Georgiers Stalin war die einst eigenständige Sowjetrepublik Abchasien dem Nachbarn Georgien zugeschlagen worden. Aber beide Völker sprechen – um nur ein Beispiel zu nennen – eine komplett andere Sprache; da bringt die zwangsweise Unterordnung an eine andere Lebensweise letztendlich nur Spannungen, dort wie überall auf der Welt. Und so ist es verständlich, dass die Abchasen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Gunst der Stunde nutzten, um wieder eigenständig zu werden.

Die Separation, obwohl im Völkerrecht als Option eingeräumt, wird von Georgien und der EU nicht anerkannt (ganz im Gegensatz zum Kosovo, wo nicht zuletzt die USA höchst eigene geopolitische Interessen verfolgt), von einigen anderen Ländern wird die Republik Abchasien anerkannt, unter denen ist Russland der wichtigste Partner und Sicherheitsgarant. Dass Georgien die Separation Abchasiens nicht goutiert, ist nachvollziehbar. Zum einen bedeutet so etwas immer Machtverlust, zum anderen besitzt Abchasien den weitaus attraktiveren Zugang zum Schwarzen Meer. Dennoch, trotz aller Vorbehalte und politischen Kalküle: Das abchasische Volk lebt und arbeitet nun schon mehr als dreißig Jahre autonom, und da wäre es an der Zeit, das friedliche Nebeneinander zum Nutzen aller zu intensivieren, zumal in Abchasien auch georgisch-abchasische Familien leben.

Als hoffnungsvoller Beginn mag gelten, dass es inzwischen in der Region Gal immerhin einen Grenzübergang zwischen beiden Seiten gibt, sozusagen einen kleinen Grenzverkehr für die umliegenden Regionen. Abchasische Familien sind nämlich häufig sehr groß, und insbesondere die ethnisch gemischten Familien haben Verwandte beidseitig der Grenze. Man erzählte mir, dass Hochzeiten mit rund 1.000 Gästen keine Seltenheit seien. Insgesamt ist es – u.a. durch die vielen Kriege, die die Kaukasus-Region in ihrer Geschichte erlebte – ein multi-ethnisches Land mit Griechen, Armeniern, Juden, Russen, Esten und Deutschen; die vorherrschende Glaubensrichtung ist christlich geprägt, konkret russisch-orthodox. Man legt viel Wert auf die abchasische Tradition, ganz gleich ob bei festlicher Kleidung oder bei der Zubereitung der Speisen.

Lebensweise, Sprache, Kultur und Geschichte bilden den Kern der Identität eines Volkes. Das weiß man in Abchasien (nicht zuletzt durch die jahrzehntelange Überfremdung) sehr wohl. Übrigens ganz im Gegensatz zu Deutschland, wo die Zuwanderung und ethnische Durchmischung einhergeht mit vorsätzlich erzeugten Verlusten in der eigenen Sprache und Kultur. (Ich denke da an die zunehmend unnötigen Anglizismen oder an die Übermacht amerikanischer Kultur- und Sportereignisse in unserer medialen Öffentlichkeit. Selbst die typisch deutsche Sendereihe „Bares für Rares“ trägt inzwischen den „Kuckuck“ von Warner Bross.) Aber das nur nebenbei. Beim abchasischen Fernsehprogramm (zwei Sender) gibt es ab und an mal einen russischen Film, aber der kulturelle Fremdeinfluss scheint mir vor Ort deutlich geringer zu sein als bei meinen Staatsmedien daheim. Mein Eindruck mag aber auch darin begründet liegen, dass russisches Fernsehen dort als Normalität ebenfalls geschaut wird. Erste Amtssprache ist Abchasisch, eine hochkomplexe Sprache. Daneben wird traditionell Russisch als gängige Kommunikation gebraucht und anerkannt. Zahlungsmittel ist (seit langem) der Rubel.

Die Hauptstadt Sukhum (dt.: Suchum) liegt direkt am Schwarzen Meer und ist eine sehr lebendige und teilweise mit schicken Neubauten gespickte mittelgroße Stadt. Aber wie überall im Land sieht man gleichfalls noch kriegszerstörte Häuser. Vielfach hatten die Georgier auch Verkehrsknotenpunkte bombardiert, wodurch man immer wieder auf zerstörte Bahnhöfe stößt, bis heute gibt es kein Eisenbahn-Netz. Alles im Land wird mit Bussen, LKWs und PKWs erledigt.

Suchum ist eine Touristenhochburg mit gepflegter Promenade am Wasser, zahlreichen Restaurants und Cafés. Es begegnen Einem modisch angezogene und überaus freundliche Menschen. Beispielsweise stehe ich eines Abends vor dem abchasischen Theater, will aber in eine Vorstellung, die augenscheinlich in einem anderen, dem russischen Theater stattfindet. Als ich einen Herrn danach frage, bietet er mir sofort an, mich zu jenem anderen Haus zu bringen. Übrigens: Ein großartiger Theaterabend; gegeben wurde „Sophinchen“ des abchasischen Schriftstellers Fasil Iskander.

Stalins Datsche

Am Tag der Befreiung vom Faschismus trifft es sich gut, dass unsere kleine Reisegruppe eine der „Datschen“ von Stalin (und Nachfolger) besucht. Eigentlich hätte man dafür einen kleinen Obolus als Eintritt zahlen müssen, aber die freundliche „Herrscherin über die Eintrittskarten“ meint, dass wir als Deutsche heute gerne die Datsche kostenfrei uns anschauen dürfen. Und das war überhaupt nicht ironisch gemeint. Nachmittags halte ich mich auf der Suchumer Promenade auf, um zu sehen, wie man dort den Feiertag begeht. Am Ehrendenkmal liegen Blumen und Kränze, es gibt auch eine russische Gulaschkanone, die aber nachmittags schon wieder abgebaut wird. Nur ausnahmsweise ist mal jemand in Uniform zu sehen, alles wirkt überaus zivil und sehr entspannt.

Auf einer Bühne gibt es ein Estraden-Programm, das im abchasischen Fernsehen ausgestrahlt wird. Inhaltlich nehmen die Akteure immer wieder auf den 2. Weltkrieg, aber auch auf den Krieg 1992/1993 Bezug. Jung und Alt schauen sich das Spektakel an, viele haben auf dem Rasen Platz genommen. Nirgendwo gibt es ein „Betreten verboten“-Schild. Vielfach werden Spielmöglichkeiten für Kinder angeboten (keine Hüpfburgen!). Es ist ein schöner Tag, sogar das Wetter spielt mit. Niemand benimmt sich auffällig oder ist gar betrunken.

Apropos Trinken: In Abchasien wurde vor rund 14 oder 15 Jahren eine Brauerei zusammen mit Deutschen errichtet. Technik, Hopfen, Rezeptur samt Reinheitsgebot aus Deutschland. Alles lief bestens, bis die anti-russischen Sanktionen einfach auch über Abchasien verhängt wurden. Dadurch wird natürlich alles noch viel schwerer. Um auf das Bier zurückzukommen: EU-Deutschland hat sogar den Hopfen sanktioniert! Kurzzeitig ist das ein Problem. Aber dann änderte man leicht die Rezeptur und bekommt den Hopfen nun eben aus Russland. So geht das.

Trotz dieser Handlungsweisen der EU ist man mir nirgends unfreundlich begegnet, was ja eigentlich verwunderlich ist. Irgendwie haftet dem Westen immer noch etwas Gutes und Erstrebenswertes an, nicht zuletzt aufgrund des höheren Lebensstandards. Diese grundsätzliche Freundlichkeit uns gegenüber verwundert umso mehr, da viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens unter den Sanktionen und unter der Nichtanerkennung leiden. Leiter von herausragenden Suchumer Vokalensembles und vom dortigen Kammerorchester erzählen übereinstimmend, dass die früher häufigen Einladungen ins westliche Europa inzwischen alle weggefallen und Konzertreisen heutzutage unmöglich geworden sind. Niemand will es sich mit Georgien verderben, also lädt man die Abchasen gar nicht erst ein. Und spricht jemand bei irgendeinem Anlass von Abchasien als eigenständiger Republik, dann wird der- oder diejenige von georgischer Seite geächtet.

Was mir aber noch mehr Sorgen macht, ist die gesellschaftliche Entwicklung in Georgien selbst. Wenn der Wertewesten und die USA dort ebenfalls eine Pro-EU- und Pro-NATO-Entwicklung durchsetzen, dann sehe ich schwarz für Abchasien. Mehr noch, durch die Nicht-Anerkennung wie andererseits durch den russischen Schutz könnte genau dort die Zündschnur für eine direkte Konfrontation zwischen NATO und Russland gelegt werden. Ich hoffe inständig für dieses schöne und freundliche Land, dass das nicht eintritt, wie ich auch für Georgien hoffe, dass es dem derzeitigen westlichen Druck widerstehen möge. In Abchasien hat das unbedingte Streben nach Eigenständigkeit und Freiheit das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen sehr geprägt; vielleicht kann Georgien diesen Impetus für sich aufgreifen?

Mein Eindruck von Abchasien: Das ist ein Land, das kennenzulernen sich unbedingt lohnt. Es kann mit großer Geschichte, aufgeschlossenen Menschen, gutem Essen, hervorragendem Wein (umfangreicher Weinanbau) und wundervoller Natur (Palmen, aber dennoch ausgedehnte Mischwälder) aufwarten, hat bemerkenswert herausragende Plätze und Bauten, verfügt über ein hohes kulturelles Potential. Ich fühlte mich willkommen geheißen in diesem Land am Schwarzen Meer, und sicher werde ich es erneut besuchen. Übrigens: Am kommenden 7. Juli feiert die Hauptstadt ihren 2508. Geburtstag! Dagegen sind doch fast alle deutschen Städte geradezu noch ‚Rotznasen‘…

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel enthält Formulierungen, die auf den NachDenkSeiten üblicherweise nicht genutzt werden.


[«*] Angabe zur Autorin: Bettina Schmidt, Musikwissenschaftlerin, von 1985 bis Ende 2022 als Redakteurin für Ernste Musik beim ÖRR tätig, zuerst bei Stimme der DDR, dann bei Nachfolge-Sendern, ab 1994 bei DLF Kultur. Frühpensionierung auf eigenen Wunsch aufgrund der Entwicklungen im ÖRR und der „Zeitenwende“; gehört zu den Erstunterzeichnern des „Manifestes für einen neuen ÖRR“.


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