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Titel: Ohne Personal ist jede Kita schlecht!

Datum: 5. Juni 2024 um 10:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Bildungspolitik, Fachkräftemangel, Wertedebatte
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Bis 2030 könnten zwischen 50.000 und 90.000 Erzieherinnen fehlen, meint die Bundesregierung. Wirklich? Schon heute wären 125.000 Stellen vakant, hält der Paritätische Wohlfahrtsverband dagegen. Dabei hätten zwei Bundesgesetze seit 2019 die Lage nicht besser gemacht, sondern weiter verschärft. Aber die Regierung will nachlegen, mit einer „Fachkräftestrategie“, um auch noch jeden Amateur zum Dienst am Kind zu rekrutieren. Von Ralf Wurzbacher.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Franziska Giffey (SPD) wollte nicht nur irgendein Gesetz machen. Es sollte ein gutes sein, nicht nur inhaltlich, sondern eines, das auch gut klingt. Heraus kam das „Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung und in der Kindertagespflege“ (KiQuTG), oder kurz und viel schöner: das „Gute-Kita-Gesetz.“ Von dem Anfang 2019 in Kraft getretenen Regelwerk versprach sich die damalige Bundesfamilienministerin Besserung in allen Bereichen: ein bedarfsgerechtes Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsangebot, einen adäquaten Fachkraft-Kind-Schlüssel, mehr Raum für Kinder, die Stärkung der Kita-Leitungen, die Gewinnung neuen Personals und vieles mehr. Kurzum: Giffey verhieß nichts weniger als einen ganz großen Wurf – voll „gut“ eben.

Fünf Jahre später fällt die Bilanz mehr als schlecht aus. Am Montag veröffentlichte der Paritätische Wohlfahrtsverband seinen „Kita-Bericht 2024“, der laut begleitender Pressemitteilung die „wachsenden Defizite in Kindertageseinrichtungen“ aufzeige. Die auf Basis einer Umfrage unter (diesmal) 1.760 Kitas und in Zusammenarbeit mit der Universität Osnabrück erstellte Studie erscheint im Zweijahresrhythmus. Bei der Auflage von 2022, beruhend auf Daten von 2021, sprach seinerzeit Verbandshauptgeschäftsführer Ulrich Schneider von „erschütternden“ Befunden.

Ampel rechnet Misere klein

Aber schlimmer geht immer oder, wie es Juliane Meinhold, Leiterin der Verbandsabteilung für Soziale Arbeit, vorgestern ausdrückte: „Besonders alarmierend ist, dass sich die Situation in vielen Kindertageseinrichtungen in den vergangenen zwei Jahren deutlich verschlechtert hat.“ Fehlende Fachkräfte wären ein „doppeltes Problem“, merkte Meinhold an. „Personalmangel führt zu zusätzlichen Überstunden und einer zunehmenden Überlastung der vorhandenen Mitarbeiterinnen. Damit drohten weitere Personalausfälle „und die Kinder haben das Nachsehen, weil Aktivitäten und Förderung eingeschränkt werden“.

Giffey hatte mit ihrem Gesetz ohne Frage die wichtigsten Handlungsfelder erkannt und benannt. Aber: Ohne Personal sind die tollsten Zielstellungen nichts wert, weil einfach nicht umsetzbar. Und wer dazu auch noch die Nöte unterschätzt, wird der Probleme erst recht nicht Herr. Vor gerade einmal zwei Wochen hat Giffeys Amtsnachfolgerin Lisa Paus von der Grünen-Partei erklärt, dass in Deutschlands Kitas zwischen 50.000 und 90.000 Fachkräfte fehlen könnten, wohlgemerkt bis 2030.

Das ist eine feste Größe im politischen Betrieb: Man rechnet die Misere klein, um die „Lösung“ einfacher und erschwinglicher zu machen, und die Probleme türmen sich am Ende noch höher. Der Report des Paritätischen hat eine andere Hausnummer parat: Hochgerechnet dürften demnach bereits heute 125.000 Stellen unbesetzt sein, im Mittel 2,6 pro Einrichtung. Ein Fünftel der abgefragten Kitas kann bestehende Betreuungsplätze deshalb gar nicht belegen, im Mittel 14 Stück.

Kürzungsdiktate rächen sich

Weitere Resultate der Studie: In 72 Prozent der Fälle gehören Überstunden zum Alltag, bei der Erhebung von vor zwei Jahren waren es noch 56 Prozent. 68 Prozent der Teilnehmer gaben an, schon mit dem tatsächlichen Personalschlüssel den Bedürfnissen der Kinder nicht genügen zu können. Nur noch 57 Prozent der Einrichtungen nehmen die Kooperation mit Fachschulen im Rahmen der Ausbildung als gut wahr, davor waren es noch 65 Prozent. Auf jede zweite öffentlich ausgeschriebene Stelle für pädagogische Fachkräfte lag 2023 maximal eine Bewerbung vor. 2021 war dies „nur“ bei einem Drittel der Fälle so. 65 Prozent der Kitas würden gerne mehr praxisintegrierte Auszubildende beschäftigen, aber wie, wenn einfach viel zu wenig Nachwuchs nachrückt.

Wie in anderen Bereichen, wo vornehmlich der Staat in der Verantwortung steht – Schulen, öffentliche Verwaltung, öffentlicher Personenverkehr, Gesundheitswesen –, ist auch der Personalnotstand der Kitas in erster Linie politisch verschuldet. Kürzungsdiktate, schlechte Bezahlung, widrige Arbeitsbedingungen haben den Beruf nachhaltig entwertet. Dazu wurden Erzieherinnen (und Erziehern) immer mehr Aufgaben aufgebürdet – Bildungspläne, Inklusion, Integration von Flüchtlingskindern –, während ihre Klientel angesichts sozialer Verwahrlosung, mangelnder Sprachkenntnisse und verbreiteter digitaler Verpeilung immer schwieriger und herausfordernder wurde.

Flucht aus dem Beruf

Die wenigsten Beschäftigten halten unter diesen Bedingungen bis zum regulären Renteneintritt durch, viele scheiden krankheitsbedingt aus oder retten sich in Teilzeit. Eine aktuelle Erhebung der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, wohin die Reise geht. 45 Prozent der Befragten wünschen sich demnach eine Reduzierung der Arbeitszeit, nur sieben Prozent eine Aufstockung. Als die stärksten Belastungsfaktoren nannten die Teilnehmer Personalengpässe, steigende Betreuungsumfänge und Bedarfslagen von Kindern. Wer von ihnen wollte jungen Menschen noch empfehlen, Erzieherin zu werden?

Den Fokus legt der Report auf die Umsetzung der Inklusion, also die Betreuungssituation von geistig und körperlich beeinträchtigten Kindern. Auch auf diesem Feld sollte Giffeys Gesetz neue Maßstäbe setzen. Von wegen: In 61 Prozent der befragten Kitas fehlt pädagogisches Personal mit entsprechenden spezifischen Qualifikationen, 2021 war die Lage noch leicht besser. In 56 Prozent der Fälle sind die erforderlichen räumlichen Voraussetzungen nicht zufriedenstellend. Dazu sind 74 Prozent der Eltern mit der Beantragung von Mitteln für Teilhabeleistungen überfordert. Ein Drittel der Einrichtungen wartet regelmäßig sechs bis zwölf Monate auf eine Bewilligung, neun Prozent sogar ein Jahr und mehr.

Keine ausgewogene Ernährung

Dass der Bund mit Bundesgesetzen in die Bildungszuständigkeit der Länder eingreift, ist an sich ein Fortschritt. Allerdings geschieht das immer erst dann, wenn das Kind längst in den Brunnen gefallen ist. Ein paar Milliarden Euro extra können den in Jahrzehnten erlittenen Substanzverlust nicht im Ansatz beheben. Was heute alles in Kitas, Schulen und Hochschulen fehlt, ist mittels Umverteilung in die Taschen von Privilegierten und Begüterten gewandert, die ihre Sprösslinge in privaten Kindergärten und Schulen behüten lassen. Dabei ist der proklamierte Kita-Ausbau ja selbst als ein großes Geschenk an die deutsche Wirtschaft gedacht, um auch Müttern und nicht wie früher nur Vätern zugunsten von Erwerbsarbeit die häusliche Erziehungsarbeit abzunehmen und damit den Druck auf die Löhne zu erhöhen. So betrachtet erfüllt die Politik ihren Auftrag suboptimal – ähnlich mau wie in Sachen Ganztagsschulen –, was deshalb auch regelmäßig Unternehmerverbände oder die neoliberale Bertelsmann Stiftung bekritteln. Die Idee, dafür Konzerne und Reiche höher zu besteuern, kommt ihnen allerdings nie.

Immerhin 5,5 Milliarden Euro soll das „Gute-Kita-Gesetz“ den Kitas beschert haben, und weitere vier Milliarden Euro bringt die Anschlussvereinbarung auf die Waage, das von Paus initiierte „Kita-Qualitätsgesetz“. Wo ist das Geld geblieben beziehungsweise wo geht es hin, wenn jetzt der „Kita-Bericht 2024“ konstatiert, dass vielerorts die Mittel nicht ausreichten, „um die Kinder mit einer ausgewogenen Ernährung zu versorgen“? 2021 galt das für ein Drittel der Einrichtungen, im Vorjahr für fast die Hälfte. Man sollte dies die Ländervertreter fragen. Konkrete Zielvorgaben hatte sich Giffey bei der Gesetzgebung nämlich verkniffen. Stattdessen räumte sie ihren Länderkollegen wie ein Gemischtwarenladen maximale Freiheit bei der Wahl der „Qualitätsentwicklungsmaßnahmen“ in der frühkindlichen Erziehung ein.

Maximale Beliebigkeit

Die Fördermittel konnten zum Beispiel der Senkung oder Abschaffung von Kitagebühren zugutekommen, für bedarfsgerechte Öffnungszeiten, Weiterbildungsangebote oder eben die Gewinnung von Fachkräften eingesetzt werden. Weil die aber nicht vom Himmel fallen, fiel der mit Abstand wichtigste Punkt augenscheinlich unter den Tisch. Dabei hatten schon im Gesetzgebungsprozess Kritiker vor „Dyssynergien“ gewarnt, etwa, dass verlängerte Öffnungszeiten zu schlechteren Personalschlüsseln und größeren Gruppen führen könnten.

Die Befürchtungen haben sich bewahrheitet. So hätten tatsächlich viele Länder einen großen Teil der Gelder in die Senkung oder Befreiung von Kita-Gebühren gesteckt, bilanzierte der Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK). Kostenfreie Bildung für alle Altersstufen sei zwar „grundsätzlich zu begrüßen“, jedoch sei dies „eine familienpolitische Maßnahme, die selbst nichts an der Qualität in den Kitas ändern wird“.

Zugespitzt: Für mehr Eltern mag ein Kindergartenplatz inzwischen billiger oder unentgeltlich zu haben sein. Nur hat die Kita um die Ecke leider keine Erzieherinnen, die sich um das Töchterchen kümmern können, oder kein Mittagessen oder keine Krabbelgruppe. Pech gehabt!

Mehr Fachferne wagen

Aber die Politik ruht sich auf dem „Erreichten“ nicht aus. Mit besagtem „Kita-Qualitätsgesetz“ will die Ampelregierung mit Wirkung ab 1. Januar 2023 Schritte in Richtung bundeseinheitlicher Standards gehen, etwa was den Fachkraft-Kind-Schlüssel angeht. Entsprechend gibt es strikte Vorgaben bei den Personalschlüsseln und Strafen bei Nichtbeachtung – mit dem Ergebnis: Um Sanktionen zu entgehen, machen viele Einrichtungen einfach früher dicht. Deshalb müssten Eltern mittlerweile sogar den Wohnort wechseln, um eine Ganztagsbetreuung für ihren Nachwuchs zu erhalten, berichtete zu Jahresanfang der Norddeutsche Rundfunk (NDR). „Es ist sehr schwer, bei dem Fachkräftemangel den Stellenschlüssel zu halten“, äußerte sich eine Kitaleiterin aus dem Holsteinischen Norderstedt.

Der Titel des NDR-Beitrags lautete: „Das neue Kita-Qualitätsgesetz: ein Fiasko?“ Das Fragezeichen hätte der Redakteur sich sparen können, so wie sich Ministerin Paus den Anspruch an Qualität sparen will. Die jüngst von ihr präsentierte „Gesamtstrategie Fachkräfte in Kitas und Ganztag“ erinnert stark an das Unterfangen der Kultusminister im Schulbereich, dem grassierenden Pädagogenmangel mit noch mehr Abstrichen bei der Professionalität beizukommen.

Paus’ Marschroute lautet sodann, Potenziale „zusätzlicher“, „fachnaher“ und „nicht fachnaher Gruppen“ zu mobilisieren. Soll heißen: Amateure angetreten, Kinderbetreuung kann doch jeder. Billig ist das Ganze obendrein, zumal in Zeiten der Kriegsertüchtigung, und Kanonenfutter mit Grips braucht es auch nicht. So wird am Ende doch noch alles „gut“. Danke, Franziska!

Titelbild: M-Production/shutterstock.com


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