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Titel: Mit importierten Fachkräften lässt sich der Pflegenotstand nicht beseitigen

Datum: 3. Juni 2024 um 12:51 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Audio-Podcast, Fachkräftemangel, Gesundheitspolitik
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Wie nun bekannt wurde, hat Brasilien das erst vor wenigen Monaten mit großem Tamtam mit Deutschland geschlossene Fachkräfte-Abwerbungsabkommen einseitig gekündigt. Das ist nur allzu verständlich, haben Abkommen wie dieses doch klar neokoloniale Züge. Deutschlands Politik steht mit ihrer Strategie, den Fachkräftemangel in wichtigen Sektoren durch importiertes Personal zu lindern, einmal mehr vor einem Scherbenhaufen. Dabei gäbe es durchaus Lösungen. Würde nur jede dritte Pflegekraft, die zurzeit in Teilzeit beschäftigt ist, in Vollzeit wechseln, wäre der Fachkräftemangel in der Pflege erst einmal beseitigt. Doch dafür müsste man zunächst die Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessern – im teilprivatisierten, gewinnorientierten Gesundheitssystem ist das offenbar eine Herkulesaufgabe. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Um den Pflegenotstand zu beseitigen, legt die deutsche Politik seit einigen Jahren ihre ganze Hoffnung auf Länder wie Mexiko, die Philippinen oder Brasilien. Dort gibt es in der Tat zahlreiche ordentlich ausgebildete Pflegekräfte, die im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen relativ schlecht bezahlt sind und mit passender Fort- und Weiterbildung zumindest theoretisch in deutschen Krankenhäusern anfangen könnten. Auch wenn mit dem Begriff „Fachkräftemangel“ hierzulande oft Schindluder getrieben wird, so gibt es in der Pflege tatsächlich einen sehr massiven Mangel an Fachkräften. Auf 100 freie Stellen kommen zurzeit nur 33 arbeitslose Pflegefachkräfte.

Dass die Arbeitgeber diese Lücken mit Fachkräften aus dem Ausland schließen wollen, ist nicht neu. Über private Vermittler werden schon seit rund zwanzig Jahren auch systematisch Pflegekräfte aus dem Nicht-EU-Ausland rekrutiert. Seit einigen Jahren versucht die Bundesregierung dies zusätzlich über bilaterale Abkommen mit den Regierungen der Herkunftsländer zu forcieren. 2019 machte ein unter Jens Spahn eingefädeltes Abkommen mit Mexiko den Anfang. Es folgten Abkommen mit Bosnien, Brasilien, Indien, Indonesien, den Philippinen, Jordanien, Serbien und Tunesien. Diese Abkommen sind jedoch aus mehreren Gründen hochproblematisch.

Fangen wir mit den Bewerbern selbst an. Hier werden oft falsche Erwartungen geweckt. Die Bewerber haben in ihren Herkunftsländern meist studiert und sind als examinierte Fachkräfte zu Hause hochqualifizierte Arbeitskräfte, die entsprechend ihrer Qualifikation anspruchsvolle Tätigkeiten ausüben. In Deutschland sind ihre Abschlüsse in der Regel jedoch nicht anerkannt. Sie müssen sich daher in Anpassungsqualifizierungen fort- und weiterbilden und erst einmal ein Anerkennungsverfahren durchlaufen. Anstatt als examinierte Fachkraft zu arbeiten, werden sie daher häufig zunächst als weitaus schlechter bezahlte Pflegeassistenten eingesetzt. Wer zu Hause noch das EKG überwachte und Zugänge legte, darf dann in deutschen Krankenhäusern schwergewichtige Patienten wenden, das Essen bringen und Patienten waschen.

Hinzu kommt, dass die allermeisten Bewerber erst einmal die Sprache lernen müssen und oft gibt es auch kulturelle Anpassungsprobleme. Viele Fachkräfte entdecken zudem erst in Deutschland, dass die Arbeitsbedingungen hierzulande alles andere als rosig sind und die auf dem Papier besseren Verdienstmöglichkeiten von den hohen Lebenshaltungskosten häufig aufgefressen werden. Es macht sich Frust breit, die Abbrecher- und Wechselquote ist hoch und am Ende zieht es viele Pfleger wieder in ihre alte Heimat zurück oder sie versuchen ihr Glück in einem europäischen Land, in dem das Gesundheitssystem noch nicht ganz so prekär wie in Deutschland ist.

Derartige Abkommen haben jedoch auch und vor allem volkswirtschaftliche Nachteile für die Herkunftsländer. Ein Land wie Brasilien investiert hohe Summen in die Ausbildung dieser Fachkräfte – angefangen beim Schulsystem, über die berufliche Ausbildung bis zur Fachaus- und -weiterbildung auf höheren Pflegeschulen und Universitäten. Diese Arbeitskräfte dann einfach abzuwerben, ist im höchsten Maße ungerecht. Dies entspricht einer neokolonialen Attitüde, stellt eine Ausbeutung anderer Länder dar und schädigt die Volkswirtschaften der Herkunftsländer massiv. Das Fachwort dafür ist „Brain Drain“ und interessanterweise ist dies auch in Deutschland durchaus dann ein politisches Thema, wenn es um die Abwanderung in Deutschland ausgebildeter Fachkräfte in andere Länder geht. So wird die Abwanderung von deutschen Ärzten in die Schweiz, nach Österreich oder in die USA seitens der deutschen Politik gerne kritisiert. Diese Kritik ist ja auch verständlich und schlüssig. Wer jedoch die Abwerbung eigener Fachkräfte verurteilt und selbst aktiv in anderen Ländern Fachkräfte abwirbt, argumentiert unredlich.

Unehrlich ist es, den Import ausländischer Pflegekräfte als Lösung für den Pflegenotstand zu verkaufen. Deutschland ist nämlich allen Abkommen zum Trotz bei Pflegefachkräften aus Nicht-EU-Ländern keinesfalls so attraktiv, wie unsere Politik es gerne hätte. Die nackten Zahlen sind verheerend. Eine Anfrage der Unionsfraktion ergab, dass im Jahr 2022 gerade einmal 656 Pflegekräfte aus dem Nicht-EU-Ausland durch die Bundesagentur für Arbeit über derartige Programme nach Deutschland vermittelt wurden. Davon kamen 255 aus den Philippinen, 182 aus Mexiko, 98 aus Bosnien-Herzegowina, 84 aus Tunesien, zwei aus Indien und eine aus Serbien. Aus Indonesien und Jordanien kam trotz der Programme keine einzige Pflegefachkraft. Aus Brasilien, das nun das Abkommen einseitig aufgekündigt hat, kamen nur 34. Bei laut Deutschem Pflegerat 115.000 fehlenden Vollzeitkräften in der Pflege ist das nicht mal ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die Idee, man könne den Pflegenotstand auf diese Art und Weise auch nur lindern, ist eine Illusion.

Was könnte die Politik denn sonst tun? Die Antwort auf diese Frage ist gar nicht mal so schwer. In den letzten zwanzig Jahren hat sich Zahl des Personals in der stationären und ambulanten Pflege nach Angaben des Statistischen Bundesamtes nahezu verdoppelt. Dabei ist die Zahl der in Vollzeit tätigen Mitarbeiter jedoch lediglich um 30 Prozent gestiegen, während sich die Zahl der in Teilzeit tätigen Mitarbeiter fast verdreifacht hat. Stand 2021 arbeiteten 684.502 Pflegefachkräfte in Teilzeit – fast doppelt so viel wie die 361.531 Pflegefachkräfte, die in Vollzeit arbeiten. Die 115.000 fehlenden Vollzeitkräfte wären also rein rechnerisch sehr leicht aus dem jetzigen Pool der Fachkräfte zu rekrutieren. Man müsste „nur“ die Teilzeitkräfte dazu animieren, länger oder sogar in Vollzeit zu arbeiten.


Quelle: IAQ

Doch das wollen die allerwenigsten Pflegekräfte. Eine Studie des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe ergab, dass nur jede achte befragte Teilzeitarbeitskraft in der Pflege unter den jetzigen Bedingungen überhaupt bereit wäre, die Arbeitszeit aufzustocken. Gefragt nach den Voraussetzungen, sich vielleicht dennoch für Aufstockung bereitzuerklären, antworteten die Befragten sehr eindeutig – als häufigste Voraussetzungen wurden dabei eine bessere Personalausstattung, ein höherer Stundenlohn und verlässlichere Dienstpläne und deren Einhaltung genannt. Das sind allesamt keine Wünsche, die generell unerfüllbar sind. In einem Gesundheitssystem, das auf Profit und Gewinnmaximierung gepolt wurde, besteht hier jedoch ein Zielkonflikt.

Wer den Pflegenotstand lösen will, muss also wohl oder übel diesen Zielkonflikt auflösen. Bessere Arbeitsbedingungen, bessere Bezahlung – dann würden die vorhandenen Fachkräfte auch ihre Stunden aufstocken und womöglich nicht mehr in Scharen früher in Rente gehen. Wäre der Job als solcher dann attraktiver, würde es auch wieder mehr Nachwuchs in die Pflegeberufe ziehen. Eigentlich ist die Lösung doch offensichtlich. Dass die Politik sie nicht sieht, ist wohl eher ein ideologisches Problem. Will man am profitorientierten Gesundheitssystem festhalten, bei dem Arbeitskräfte vor allem als Kosten gesehen werden, wird sich am Pflegenotstand auch nichts ändern; auch dann nicht, wenn man ferne Länder ihres Humankapitals beraubt.

Titelbild: Supamotion/shutterstock.com


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