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Titel: Andrej Hunko: „Ziel ist die Rekonstruktion einer Politik für die Mehrheit in der Gesellschaft“

Datum: 3. Juni 2024 um 10:00 Uhr
Rubrik: BSW, Friedenspolitik, Interviews, Wettbewerbsfähigkeit
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Der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko gehört zu jenen, die aus der Partei „Die Linke“ ausgetreten sind und gemeinsam mit Sahra Wagenknecht eine neue Partei mit dem Namen „Sahra Wagenknecht – Bündnis für Vernunft und Gerechtigkeit“ (BSW) gegründet haben. Er ist auch Mitglied der Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken (UEL) im Europarat (Parlamentarische Versammlung). Im Interview beantwortet Hunko Fragen über die aktuelle politische Situation in Deutschland, den Bankrott der klassischen Linken und darüber, ob die neue Partei einen Wandel in der deutschen Politik bewirkt hat. Er spricht ebenso über die Ziele der Partei und ihre Haltung zum Krieg in der Ukraine. Das Interview mit Andrej Hunko führte Éva Péli.

Éva Péli: Europa wird im globalen Wettbewerb an den Rand gedrängt und zum Vasallen der Vereinigten Staaten. Seine Wettbewerbsfähigkeit ist dramatisch gesunken, der gesunde Menschenverstand scheint beiseitegeschoben. Deutschland trägt dafür eine große Verantwortung, denn es hat sich von der Lokomotive Europas in „das Sorgenkind Europas“ verwandelt. Seine Wirtschaft befindet sich im Niedergang, und seine Demokratie ist in vielerlei Hinsicht beschädigt. Wie konnte es so weit kommen?

Andrej Hunko: Es war bereits seit mehreren Jahren zu beobachten, dass Europa nicht wirklich zusammenwächst, sondern sich weiter aufspaltet: Während europäische Staaten wie Belarus oder Russland von einer gesamteuropäischen umfangreichen Kooperation immer mehr entkoppelt wurden, begab sich die Europäische Union Schritt für Schritt in die Abhängigkeit der Vereinigten Staaten. Leider hat der Westen das Zeitfenster, das von Anfang der 1990er-Jahre bis in die 2000er existierte, nicht genutzt, um einen gesamteuropäischen Raum unter Einschluss Russlands zu schaffen. Dennoch blieb die Zusammenarbeit auf manchen Gebieten bis vor Kurzem bestehen, etwa im Energiebereich: Russland versorgte die EU mit billigen Rohstoffen. Die günstigen Energieträger aus Russland in Verbindung mit eigenem technologischen Know-how machten Deutschland zu einem attraktiven Industriestandort und damit auch zu Europas Wirtschaftslokomotive. Jetzt ist die frühere Energiesäule aufgrund der außenpolitischen Konfrontation sowie des Krieges in der Ukraine weg, und die Folgen bekommt man in vielen Lebensbereichen immer mehr zu spüren. Zusätzlich waren die zwei Jahre vor dem Einmarsch in die Ukraine durch die Coronapandemie massiv geprägt. Diese Zeit hat viele Missstände offengelegt und eine mehrdimensionale (zum Beispiel soziale, physische, wirtschaftliche) immense Auswirkung auf die Gesellschaften in aller Welt gehabt. In Deutschland haben die beispiellosen Maßnahmen der Bundesregierungen gegen die Pandemie die Bevölkerung stark polarisiert.

Die Kombination aus diesen zwei Faktoren, Pandemiezeit und anschließend der Ukrainekrieg, mit allen ihren Konsequenzen hat Deutschland in einen Krisenmodus versetzt. Durch einen fortgesetzten Wirtschaftskrieg gegen Russland und eine Beteiligung an einem Handelskrieg der USA gegen China droht man sich jetzt völlig ins Aus zu schießen.

In Ungarn wird die Situation in Deutschland mit Interesse beobachtet: Die Bauernproteste, die Streiks, die Proteste gegen Rechts und das Erstarken der AfD, die Probleme mit der Migration. Aber auch die Blindheit und der totale Realitätsverlust der Regierenden werden registriert. Worin sehen Sie die größere Gefahr für die Bevölkerung, im vermeintlichen Rechtsrutsch oder in den Handlungen der Regierung?

Der Rechtsruck wäre für Deutschland eindeutig katastrophal. Die hohen Zustimmungswerte der AfD hängen offensichtlich mit der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Politik der Ampel-Regierung zusammen. Viele Menschen fühlen sich von dieser Bundesregierung nicht mehr vertreten und sind aus Protest bereit, für die AfD abzustimmen. Vor diesem Hintergrund betrachte ich die AfD als Symptom mit einem gefährlichen Potenzial, allerdings nicht als die Ursache des Problems. Die bisherige „wertegeleitete Außenpolitik“ der deutschen Regierung ist mittlerweile in einen sinnlosen Aktionismus verfallen, und ihr an Arroganz grenzender Moralismus stößt immer neue Wähler ab. Wenn man die AfD aber wirklich entkräften will, muss man sie nicht verbieten, sondern auf einem demokratischen Weg durch bessere Argumentation und vor allem konkrete Taten an Vertrauen enttäuschter Bürger gewinnen. Bedauerlicherweise sehe ich bei Rot-Gelb-Grün keinen spürbaren Willen, sich an die eigene Nase zu fassen und die Lebensqualität von Menschen in Deutschland real zu verbessern. Dieser Umstand macht die Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“ umso notwendiger.

Wie hat sich die Gründung der neuen Partei Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) auf das politische Leben in Deutschland ausgewirkt?

Auch wenn wir noch ganz am Anfang stehen, man kann sehen, dass BSW wirkt. Die anderen Parteien sind gezwungen, auf unsere Themen zu reagieren. Politische Forderungen wie Waffenstillstand und ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine können nicht mehr totgeschwiegen werden.

Sie sagten beim ersten Parteitag des BSW, immer mehr Menschen in Deutschland seien „politisch heimatlos“ geworden. Wie zeigt sich das, und wie ist es dazu gekommen?

Die Erfahrung ist, dass eine Politik gegen die Mehrheit der Gesellschaft gemacht wird, sowohl von den Ampel-Parteien wie auch der Union. Viele wissen deshalb nicht mehr, was sie wählen sollen. Der Eindruck verdichtet sich, dass, egal in welchem Politikfeld, eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerung durchgesetzt wird und es am Ende nur um einen schnöden Lobbyismus für Rüstungsschmieden und US-Konzerne geht.

Viele der Mitglieder des BSW sind aus der Partei Die Linke ausgestiegen. Befürchten Sie nicht, dass die BSW damit die Linke in Deutschland als gesellschaftliche Kraft spalten und letztendlich Wasser auf die Mühlen des Mainstreams der politischen Elite gießen wird?

Die Partei Die Linke besitzt kein politisches Monopol für das linke politische Spektrum Deutschlands. Viele Menschen mussten Die Linke verlassen und zum BSW wechseln, weil sie ihren Überzeugungen nach wie vor treu bleiben wollten, als sie vor mehreren Jahren der Linkspartei beigetreten sind. Der programmatische Wandel der Partei entsprach nicht mehr der Gesinnung vieler Mitglieder.

Die aktuellen Umfragen machen zudem deutlich, dass das BSW-Wähler aus allen politischen Spektren ansprechen kann sowie auch viele vorherige Nichtwähler. Insgesamt führt das zu einer Stärkung der gesellschaftlichen Linken, im klassisch-historischen Sinne des Wortes.

Ist das BSW ein Versuch, aus dem Links-Rechts-Schema auszusteigen, das für viele nicht mehr zu passen scheint? Kann das BSW das bundesdeutsche Parteienspektrum und die Politik „grundlegend verändern“? Was sind die konkreten politischen Ziele für die nächsten zwei bis drei Jahre?

Die Begriffe links und rechts sind in den letzten Jahren massiv entwertet worden: Heute gilt es hierzulande als links, den Krieg in der Ukraine ohne Rücksicht auf Verluste zu verlängern, offene Grenzen einzufordern und gleichzeitig die Fluchtursachen zu verschweigen oder nach Belieben sein Geschlecht zu ändern. Mit dem historischen Begriff hat das nichts mehr zu tun.

Ziel ist die Rekonstruktion einer Politik für die Mehrheit in der Gesellschaft. Je stärker das BSW, umso größer der Druck für eine konsequente Friedenspolitik, wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit.

Mitten in der Krise des Kapitalismus versagt auch die klassische Linke, gerade in der Zeit, in der der soziale Ansatz so nötig wäre. Gleichzeitig gibt es verstärkt die Suche nach Alternativen. Erlebt der Marxismus eine Renaissance?

Mit dem Setzen auf Identitätspolitik und der Aufgabe klassischer linker Positionen der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens hat sich die parteipolitische Linke in Europa zunehmend ins Abseits gestellt. Es braucht eine konsequente Erneuerung der Positionen der Vernunft und der Gerechtigkeit. Wenn man sich eben beispielsweise an einem selbstzerstörerischen Wirtschaftskrieg beteiligt, beteiligt man sich an einem Angriff auf die Beschäftigten im eigenen Land. Hier werden dann fatalerweise Positionen der sozialen Gerechtigkeit zugunsten einer Beteiligung am Wirtschaftskrieg geräumt. Viele der Analysewerkzeuge, die Marx geliefert hat, helfen zum heutigen Verständnis.

Wie sehen Sie die Zukunft Europas? Was für eine Rolle spielen dabei die USA und Russland?

Europa verliert durch die zunehmende Klientelisierung an Einfluss und Profil. Es droht, von den USA im Konflikt mit Russland und China regelrecht vor den Bus geworfen zu werden. Was Russland angeht, ist Sicherheit ohne Russland für Europa nicht möglich. Die NATO-Illusion des ruinösen Stellvertreterkrieges ist schnellstmöglich zu begraben.

Warum ist aus diesem Konflikt um die Ukraine ein Krieg geworden? Was sind die Ursachen dafür? Sahra Wagenknecht hat auf dem ersten BSW-Parteitag gesagt, dass der Westen den Krieg hätte verhindern können. Wie wäre das möglich gewesen? Und wie könnte der Krieg über Verhandlungen beendet werden?

Die USA und die NATO tragen eindeutig eine Mitschuld an diesen Krieg, auch wenn der Einmarsch in die Ukraine zu verurteilen ist. Im Glauben, auf Russland keine Rücksicht nehmen zu müssen, hat man die NATO-Osterweiterung rücksichtslos vorangetrieben. Versprechen wurden gebrochen. Die Umsetzung des Minsker Abkommens gebrochen. Das Prinzip, das die USA für sich geltend machen, an ihrer Grenze keine gegnerischen Militärpaktstrukturen zu dulden, muss man eben auch Russland zubilligen. Das ist der Schlüssel zur Lösung des Konflikts.

Führende Politiker fordern, dass Deutschland „kriegstüchtig“ wird. Wagenknecht hat gemeinsam mit anderen mit dem „Manifest für Frieden“ zu einer neuen Friedensbewegung aufgerufen. Wie sehen Sie die Chancen dafür?

In der Gesellschaft sehen die Mehrheiten ja ganz anders aus als im Bundestag. Eine Mehrheit ist im Gegensatz zur Bundesregierung für diplomatische Lösungen und ein Ende der Lieferung von immer mehr und immer schwereren Waffen an die Ukraine sowie auch an Israel. Hier muss der gesellschaftliche Druck weiter erhöht werden.

Das BSW-Programm fordert die Rückkehr zu Importen von Öl und Gas aus Russland. Das würde bedeuten: Zurück zur Vernunft. Ihre Partei trägt im Namen den Zusatz „Vernunft und Gerechtigkeit“. Halten Sie es noch für möglich, dass die Schäden, und hier denke ich vor allem an ideelle Schäden, die Russland von Deutschland erleidet, noch reparabel sind?

Ja, die kostengünstigeren Energielieferungen per Pipeline aus Russland könnten sofort wieder aufgenommen werden, trotz der Terroranschläge auf Nord Stream 1 und 2. Der selbstzerstörerische Wirtschaftskrieg muss sofort beendet werden. Es kann nicht sein, dass man sich im vermeintlichen Glauben, Russland ruinieren zu können, dermaßen deindustrialisiert und die Rote Laterne beim Wirtschaftswachstum einheimst.

Was würde ein möglicher Sieg Russlands in der Ukraine bedeuten? Was würde das für den Westen, für Europa und für Deutschland bedeuten?

Es bedarf eines sofortigen bedingungslosen Waffenstillstands, um das Töten in der Ukraine zu beenden. Es war ein großer Fehler der USA und Großbritanniens, die Istanbuler Verhandlungen hintertrieben zu haben. In diesem Krieg gibt es keine Sieger, nur Verlierer. Hätte man in Istanbul den Krieg eingefroren, könnten noch Hunderttausende Ukrainer leben. Der Westen hat die Verantwortung, jetzt auf Verhandlungen zu drängen. Wer meint, einen Siegfrieden gegen eine Atommacht erringen zu können, ist nicht ganz richtig im Kopf.

In einem Interview mit der Zeitschrift Zeitgeschehen im Fokus sprechen Sie über die massive Einschränkung des Diskursraums. Neulich wurde der Palästina-Kongress kurz nach dem Beginn durch die Polizei aufgelöst. In Brüssel wurde am 16. April der Konservative Kongress ebenfalls von der Polizei aufgelöst. Das sind nur zwei Beispiele von vielen. Wie beurteilen Sie das? Wie gefährlich schätzen Sie die Situation ein?

Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sagen laut Umfragen, sie trauen sich nicht mehr, offen ihre Meinung zu äußern. Das ist für eine Demokratie alarmierend. Für das BSW ist die Wiederherstellung einer offenen Diskurskultur, die Ablehnung der unsäglichen Cancel-Culture, einer der vier Gründungspunkte.

Beim Palästinakongress wurde dem ehemaligen Finanzminister Griechenlands und dem Rektor der Uni Glasgow die Einreise verweigert, ein unglaublicher Vorgang. Ich bin froh, dass dieses Vorgehen mittlerweile gerichtlich als rechtswidrig eingestuft worden ist.

Statt Meinungsfreiheit und sozialer Gerechtigkeit geht es sonst immer mehr nur um Kontrolle, Zwang und am Ende Verarmung. Dieser Tendenz muss entschlossen entgegengetreten werden. Wer meint, mit autokratischen Mitteln unangenehme Meinungen unterdrücken zu müssen, erweist der Demokratie in Europa einen Bärendienst.

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Titelbild: Jan Kühn


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