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Titel: Analog First! Und immer schön mitdenken

Datum: 27. Mai 2024 um 10:30 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Aufbau Gegenöffentlichkeit, Überwachung, Innen- und Gesellschaftspolitik
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Der Verein Digitalcourage fordert ein „Recht auf analoges Leben“ im Grundgesetz und startet eine Petition gegen Digitalzwang. Das verdient volle Unterstützung, meint Ralf Wurzbacher.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wo gerade so viel vom Grundgesetz die Rede ist. Von wegen 75 Jahre alt und immer noch „in guter Verfassung“. Von wegen! Schon einmal darüber nachgedacht, liebe Volksvertreter, ein „Recht auf analoges Leben“ in Selbiges zu schreiben? Das wäre wirklich auf der Höhe der Zeit, weil nicht so abgrundtief doof und trendy wie „Digital First“ und „Bedenken“ zuallerletzt. Freiheit, lieber Christian Lindner, bedeutet vor allem die Freiheit, zwischen Alternativen wählen zu können. Aber Google, Amazon und Co. lassen uns kaum noch eine Wahl. Und ranzige Kanzleraktentaschen auf TikTok machen die Wahl auch nicht unbedingt leichter.

Bloß eine spinnerte Idee? Nein, bitterer Ernst und hoffentlich nicht nur gut gemeint. Die Datenschützer von Digitalcourage haben dazu am Donnerstag eine Petition gestartet. Wortlaut: „Wir fordern den deutschen Bundestag auf, das Recht auf ein Leben ohne Digitalzwang ins Grundgesetz aufzunehmen.“ Der Verein hat Erfahrung auf dem Gebiet und ein Kämpferherz. Zum Beispiel hat er eine Klage gegen die Deutsche Bahn am Laufen, wegen deren „Schnüffelnavigator-App“. Das Ding ist voll mit Trackern, die den Nutzer permanent überwachen. 2023 verlieh die Initiative der Deutschen Post den jährlich vergebenen BigBrotherAward. Immer mehr Packstationen des gelben Riesen sind nur noch per Smartphone zu öffnen.

Ohne App der Depp

„Ohne Smartphone keine Speisekarte, ohne E-Mail keine Fahrkarte, ohne App kein Paket, ohne Account keinen Arzttermin – dieser Trend zum Digitalzwang nimmt gerade an Tempo auf“, warnte am Mittwoch die Gründerin von Digitalcourage, Rena Tangens, per Medienmitteilung. „An immer mehr Stellen werden wir genötigt, uns einzuloggen, online zu registrieren oder eine App herunterzuladen – und dabei immer mehr persönliche Daten preiszugeben.“ Man befürworte „grundsätzlich eine durchdachte, datenschutzfreundliche Digitalisierung, wenn analoge Zugänge bestehen“ blieben. Heute dagegen werde vielfach so verfahren: „Wir machen jetzt eine App und bieten alle unsere Dienste nur noch darüber an.“

Vor zehn Monaten titelte Sachsens Freie Presse: „Ohne App bist du der Depp“. Volltreffer, und der Schreiber dieser Zeilen kann ein Lied davon singen. Als einer der letzten Mohikaner mit schnödem Offline-Handy fühlt er sich in immer mehr Lebenslagen wie weg vom Fenster. Während sich alle Drumherum digital nackig machen, sitzt er zugeknöpft im Bus, mit einem Papierfetzen in der Hand und gutem Gewissen zwar, aber eben doch irgendwie ausgeschlossen, abgehängt. Und der Fahrer rollt mit den Augen, wenn er das Rückgeld zurechtfummelt – für den „Zukunftssaboteur“. Dabei gehört die „alte Schule“ mit Stolz und Inbrunst verteidigt, nicht nur gegen, sondern für die Milliarden an Digitalmarionetten, die sich keinen Kopf machen, wer alles ihren Kopf durchwühlt – vorneweg Bill Gates, Jeff Bezos oder Elon Musk.

Servicewüste

Penetrant übergriffig sind aber nicht nur die ganzen Silicon-Valley-Fuzzies. Nicht besser ist dieser Doctolib, noch so ein Datenkrake mit BigBrotherAward, ohne den man beim Kinderarzt (fast) keinen Fuß mehr in die Tür bekommt. Ja, man kann auch eine halbe Stunde in der Warteschlange schmoren, bis die Sprechstundenhilfe genervt den Hörer abnimmt, während sie gerade die Stellenanzeigen auf der Jagd nach Fachkräften studiert. Oder beantragen Sie heutzutage einen Reisepass bei der Stadtverwaltung. Anruf zwecklos, ab dafür zum Online-Formular, Danke für Ihre Offenheit und dann drei Monate Däumchendrehen. Kurzum: Digitalisierung ist ein anderes Wort für Servicewüste, mit schönen Verheißungen verpackt und wer nicht mitmacht, verkackt.

Davon gibt es immer noch allerhand. Kein Handy besaß im Vorjahr jeder zehnte Einwohner in Deutschland. Bei den über 65-Jährigen waren mehr als die Hälfte, von den über 80-Jährigen zwei Drittel analog unterwegs und damit wohl nicht selten aufgeschmissen. Gerade an die für Senioren so (lebens-)wichtigen öffentlichen Dienstleistungen gelangt man heute nur noch mit größten Schwierigkeiten – oder gar nicht mehr, weil Doctolib bei Fällen von Herzrasen kein offenes Ohr hat.

Wider die Technodiktatur

Von der Bahn ganz zu schweigen. Die schafft kurzerhand die Bahncard als Plastikkarte ab. Wer die DB-App nicht nutzt oder über kein Online-Kundenkonto verfügt, bekommt keine Vergünstigung mehr und muss bitteschön den vollen Fahrpreis berappen. Kontoinhaber ohne Smartphone sollen sich zumindest ein papierenes Ersatzdokument ausdrucken dürfen, als Brandmal für die im Gutenberg-Zeitalter Hängengebliebenen. Da macht Bahnfahren gleich noch viel weniger Freude. Herzlichen Dank! Immerhin muss der Staatskonzern für seinen Kurs ordentlich Prügel durch Verbraucherschützer, Verkehrsclubs und Fahrgastverbände einstecken und vielleicht sorgt das ja noch für ein Einlenken. Das wäre aber nur ein schöner Ausrutscher eines technikversessenen Zeitgeistes, der die digitale Zwangsjacke immer enger um Körper und Geist schnürt.

Digitalcourage will „das Übel jetzt bei der Wurzel packen“, mit einem eigenen Grundgesetzartikel – bevor es zu spät ist. „Die Zeit drängt, denn immer mehr analoge Dienste, die uns bisher zur Verfügung standen, werden abgeschafft“, so Tangens. „Diese Infrastruktur später wieder aufzubauen, wird schwierig, wenn sie erst einmal verschwunden ist.“ Es gebe Leute, die behaupteten, das Problem werde „irgendwann ‚wegsterben‘“, bemerkte sie. „Das ist nicht nur zynisch, sondern schlicht falsch.“ Wie wahr: Informationelle Selbstbestimmung ist keine Marotte von Gestrigen, die morgen unter der Erde verrotten. Sie ist vielleicht das, was die Erde morgen vor Schlimmerem bewahrt – einer allmächtigen Technodiktatur.

Ach übrigens: Die Petition lässt sich auch „offline auf Papier“ unterzeichnen. Wäre aber auch zu blöd gewesen.

Titelbild: Oksana Kuzmina / Shutterstock


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