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Titel: Venezuela vor den Wahlen
Datum: 25. Mai 2024 um 12:00 Uhr
Rubrik: Länderberichte, Wahlen
Verantwortlich: Redaktion
Obwohl der wirtschaftliche Aufschwung des Landes weite Teile der Bevölkerung noch nicht erreicht hat, ist die allgemeine Lage weit weniger düster als zwischen 2014 und 2020 – einer Zeit, die gekennzeichnet war durch Mangel an Grundgütern, Hyperinflation, massive Abwanderung und andere negative Auswirkungen der US-geführten Wirtschaftsblockade, die damals ihren Höhepunkt erreicht hatte. Die Lage scheint paradox: Es gibt enorme Defizite im Land, und man ist weit von den vielversprechenden Indikatoren entfernt, die im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts erreicht worden waren. Dennoch scheint Venezuela, nachdem es den Tiefpunkt erreicht hatte, nun einen Moment relativen Wohlstands zu erleben. Von Clodovaldo Hernández.
Maduro, der sich nun im elften Jahr seiner Amtszeit befindet, sollte nach den klassischen Parametern der Managementanalyse eigentlich eine sehr geringe Chance haben, wiedergewählt zu werden. Andere Staatsoberhäupter, die viel kürzer im Amt sind, zeigen auch in stabilen und ruhigen Regierungszeiten starke Verschleißerscheinungen. Maduro, der inmitten einer Reihe heftiger Stürme regiert hat, scheint es jedoch geschafft zu haben, diesen Trend umzukehren. Im Vergleich zu seiner Regierungszeit vor fünf oder sieben Jahren sieht es derzeit gut für ihn aus.
Einigen Analysten zufolge ist es dem Präsidenten gelungen, zumindest bei einem Teil der Wählerschaft Anerkennung zu gewinnen für seine enorme Fähigkeit, den feindlichen Angriffen zu widerstehen, für seine Hartnäckigkeit und Sturheit, obwohl er Ziel von Angriffen war, denen nicht einmal sein Mentor, Comandante Hugo Chávez, ausgesetzt war.
Dies mag wohl für einen Teil der Stimmen der „hardcore”-Chavisten eine Rolle spielen, doch es gibt einen weiteren Faktor, der ein breiteres Spektrum umfasst: Maduro hat es geschafft, die Wirtschaft zu stabilisieren und sie vor einem wahren Abgrund zu retten. Und wenn die Wirtschaft gut funktioniert und die Menschen das Gefühl haben, dass sich die Dinge für sie und ihre Familien verbessern werden, profitieren Regierungen in der Regel davon.
Eine weitere große Stärke Maduros liegt in der politischen Organisation, die ihn unterstützt, die geschlossen geblieben ist und ihn als einzigen Kandidaten nominiert hat, was einen wesentlichen Unterschied zur Opposition darstellt.
Der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) ist es gelungen, eine nationale, regionale und lokale Struktur zu entwickeln, die nur mit der der Acción Democrática (sozialdemokratisch) und der Copei (christdemokratisch) vergleichbar ist – den beiden großen Parteien, die zwischen 1958 und 1998 abwechselnd regierten, bevor Chávez an die Macht kam.
Neben den Basisorganisationen der PSUV verfügt die Regierung auch über ein Netz sozialer Organisationen, die für fundamentale Aufgaben zuständig sind wie die Verteilung von subventionierten Lebensmitteln (Lokale Versorgungs- und Produktionsausschüsse, Clap) oder Technische Gruppen für Wasser und öffentliche Dienstleistungen, Kommunale Räte, Gemeinden, die Kampfeinheiten Bolívar Chávez (UBCH), Missionen und Große Missionen[1]. Dies hat es den Experten der Regierung und der Partei ermöglicht, einen aktuellen und globalen Überblick über ihre Mitglieder zu erhalten.
Es wäre allerdings selbstmörderisch für Maduro, seine Regierung und die PSUV, angesichts einer zersplitterten Opposition in die Falle des Triumphalismus zu tappen, da sie bei ihren Wiederwahlbemühungen mit einer ganzen Reihe von Herausforderungen konfrontiert sind.
Dringende Angelegenheiten: Gesundheitswesen
Eine dieser aktuellen Herausforderungen ist die öffentliche Gesundheitsversorgung. Die Bevölkerung verlangt von den Behörden, dass sie die verwickelten Probleme, die die Krankenhäuser zu wahren Alpträumen für Patienten und ihre Familien machen, energisch angehen.
Besonders dramatisch sind diese Probleme bei Operationen und komplexen Behandlungen. Die Patienten und ihre Angehörigen sind gezwungen, für eine Reihe von Voruntersuchungen selbst aufzukommen, die in privaten Einrichtungen zu hohen Kosten durchgeführt werden müssen.
Sie werden auch bei diversem Versorgungsmaterial zur Kasse gebeten, das nur zu Preisen des „freien Marktes” erworben werden kann. All dies untergräbt die proklamierte Unentgeltlichkeit der staatlichen Gesundheitsdienste völlig.
Wenn diese heikle und weit verbreitete Problematik zumindest ansatzweise angegangen würde, wäre dies nicht nur konform mit unseren verfassungsrechtlichen Vorgaben, sondern darüber hinaus ein echter und konkreter Anreiz für die Menschen aus den prekärsten Sektoren, das Vertrauen in das sozialistische Gesundheitsmodell zurückzugewinnen.
Es ist offensichtlich, dass die Verschlechterung im Gesundheitswesen unter anderem eine Folge der Wirtschaftsblockade und der einseitigen Zwangsmaßnahmen ist. Nur die größten Hardliner unter den Oppositionellen würden dies leugnen. Aber auch die Korruption, die in den Krankenhäusern nach wie vor fest verankert ist, spielt eine wesentliche Rolle bei der Verschärfung des Problems, denn dadurch werden den Patienten die vom Staat unter großen Opfern bereitgestellten Materialien, Vorräte und Medikamente vorenthalten.
Diese Güter werden von korrupten Personen gestohlen und auf dem Schwarzmarkt weiterverkauft, was für menschenfeindliche, ausbeuterische Mafias kennzeichnend ist, die von Schmerzen und Krankheiten anderer profitieren.
Löhne und Einkommen
Ein weiteres Thema, das einen breiten Teil der Anhänger der bolivarischen Regierung beschäftigt, sind die Gehälter, Renten und Pensionspläne. Am stärksten betroffen sind die Sektoren, in denen der Staat der Arbeitgeber ist, wie beispielsweise das Bildungs-, Gesundheits- und Sicherheitswesen.
Regierungssprecher haben Argumente für die Fortsetzung der Politik vorgebracht, den Mindestlohn nicht zu erhöhen und stattdessen Bonuszahlungen zu gewähren. Die positiven Ergebnisse bei der Bekämpfung der Hyperinflation, die das ganze Land verwüstet hat, scheinen diese Haltung zu stützen. Tatsache ist jedoch, dass ein ziemlich großer Teil der Bevölkerung über ein Einkommen verfügt, das unter dem Preis des Grundwarenkorbs liegt.
Was kann eine Regierung, die sich um die Wiederwahl bemüht, gegen solch ein strukturelles Problem unternehmen? Eine Kursänderung scheint schwierig. Aber die Regierung sollte sich bewusst sein, dass die betroffenen Sektoren gefundenes Fressen für Wahlversprechungen ihrer Gegner sein könnten. Eine leere Brieftasche ist ein Stimmenkiller, in Venezuela und überall sonst.
Das Problem der Stromversorgung
Das Problem der Stromausfälle (vor allem der ungeplanten) – und ihrer Variante, der Leistungsschwankung und des abrupten Abfalls des Stromflusses – ist auf der Liste der Herausforderungen für die Wiederwahl von Präsident Nicolás Maduro ganz oben aufgetaucht.
Einige Analysten der Opposition vergleichen diese Ausfälle genüsslich mit den langen Warteschlangen, die zwischen 2013 und 2015 durch Verknappung und „bachaqueo” (spekulativer Weiterverkauf knapper Güter) entstanden waren und sich damals entscheidend für den Sieg der Opposition bei den Parlamentswahlen auswirkten.
Unabhängig davon, ob es sich bei diesen Einschätzungen nur um Wunschdenken der Kommentatoren handelt, ist klar, dass die Mängel bei der Stromversorgung bei den Wählern durchaus zu größter Verärgerung und Trotzreaktionen führen könnten.
Seitens der Regierung wird uns versichert, dass die derzeitige Stromkrise das Werk von Saboteuren ist, von oppositionellen Elementen, die innerhalb des staatlichen Unternehmens Corpoelec operieren. Experten sind jedoch der Meinung, dass die schwere Dürre, die den gesamten Kontinent heimsucht, und die seit fast 20 Jahren ausbleibenden Investitionen in den Stromsektor ebenfalls einen erheblichen Einfluss haben.
Das Polizei- und Justizsystem
Ein dritter Punkt, der viel Unzufriedenheit hervorruft, ist das schlechte Funktionieren von Polizei und Justiz. Venezuela hat nach 25 Jahren Revolution immer noch ein marodes, klassendominiertes und sogar rassistisches Justizsystem.
Die Bürger haben oft mehr Angst vor Polizisten, Soldaten, Staatsanwälten oder Richtern als vor gewöhnlichen Kriminellen, was auf ein Netz von Mafias zurückzuführen ist, die sowohl ein lukratives Geschäft betreiben als auch persönliche Rachegelüste befriedigen. Natürlich wird dieses Problem nicht vor Juli gelöst werden, aber eine Geste des politischen Willens in diese Richtung wäre zumindest eine Ermutigung für die Parteimitglieder und Anhänger von Präsident Maduro.
Landbesitz
Bei dem Versuch, den aktuellen Stand der Wählerstimmen für die Chavisten zu beurteilen, weist jeder Sektor seine spezifischen Schwierigkeiten auf. Und auf dem Land gibt es ernsthafte Anzeichen dafür, dass sich der Kampf zwischen landlosen Campesinos (offensichtlich ein revolutionärer Sektor) und alten oder neuen Landbesitzern (natürlich rechts) verschärft hat.
Eine der großen Errungenschaften der ersten Jahre der Revolution scheint rasch zu schwinden. Viele Grundstücke, die an organisierte Bauerngruppen vergeben worden waren, sind an ihre früheren Besitzer zurückgefallen oder an Dritte, die von politischen und militärischen Kräften gestützt werden.
Es wird schon gar nicht mehr so getan „als ob”. Prominente Aktivisten, die versuchen, sich diesen Manövern zu widersetzen, werden ganz offen unterdrückt, vor Gericht gestellt oder eingeschüchtert. Im Namen der angeblichen Produktivität der Agrarindustrie wird eine „revolutionäre Bourgeoisie” geschützt, die sich große Landflächen aneignen will.
Anti-Korruptionskampagne
Ein fünftes aktuelles Thema hat diesen Monat für große Aufregung gesorgt. Die Operation mit dem Namen „Caiga quien caiga” („Wer stürzen muss, stürzt”)[2] sorgte im März 2023 für Aufsehen, als die Anti-Korruptionspolizei hochrangige Beamte aus dem Öl- und Kryptowährungssektor festnahm. Die allgemeine Erwartung, dass dies der Beginn eines großen Kreuzzuges gegen die Korruption sein würde, hatte sich zerschlagen, da keine Klarheit darüber herrschte, ob der Kopf der aufgeflogenen Truppe, Ölminister Tareck El Aissami, verhaftet worden war oder nicht; er verschwand einfach von der öffentlichen Bildfläche.
Am 9. April wurde seine Verhaftung und Anklage wegen mehrerer schwerer Straftaten, darunter Hochverrat, bekannt gegeben. El Aissami, der in seiner Laufbahn als Präsident des gigantischen Staatsunternehmens Petróleos de Venezuela (PDVSA), Finanzminister, Innen- und Justizminister und Gouverneur des zentralen Bundesstaates Aragua tätig war, wurde der Öffentlichkeit in Häftlingsuniform, mit Handschellen gefesselt, abgemagert und gealtert vorgeführt.
Ganz pragmatische Leute sagen, dass in dieser Angelegenheit viele Stimmen auf dem Spiel stehen. Wenn der Staat seine Aufgabe erfüllt und demonstriert, dass alle, die gestürzt werden sollten, auch wirklich stürzen werden, wird er im Rennen um die Wiederwahl viele Punkte sammeln. Regierungschefs und Sprecher haben allerdings versichert, dass die Verhaftung „ohne politisches Kalkül” erfolgt sei.
Übersetzung: Elinor Winter, Amerika21
Titelbild: Shutterstock / Humberto Matheus
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