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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Sie haben unser Land in eine Depression gestürzt
Datum: 18. Mai 2006 um 16:43 Uhr
Rubrik: Veröffentlichungen der Herausgeber
Verantwortlich: Albrecht Müller
Einer unserer Nutzer schreibt aus Schweden: „Und das Schönste: hier sind fast alle Menschen fröhlich. Es hat also schon etwas (für die Schweden) für sich, wenn man weiß, dass man nicht gegen alle anderen, sondern mit allen anderen für eine bessere Zukunft arbeiten kann.“
Das ist ein wichtiger Hinweis. Die herrschenden Eliten haben unser Land ja nicht nur ökonomisch an den Rand gebracht. Die sozialen und psychischen Folgen sind vermutlich noch gravierender. Sie haben unser Volk gespalten und entsolidarisiert. Siehe dazu einen einschlägigen Auszug aus „Machtwahn“: Kapitel IV „Die Totengräber und ihre Leichen“ Seiten 136 ff.
Das Ansehen unseres Landes wird systematisch beschädigt.
In den Debatten unserer Eliten spielen die Folgen ihrer Politik und ihrer ideologischen Begleitmusik keine große Rolle. Darauf verliert man nicht sonderlich viele Gedanken. Das gilt im be-sonderen Maß für die Auswirkungen der Reformpolitik auf die Psyche von Menschen, auf den sozialen Zusammenhalt, auf die Familien, auf ihre Gesundheit und ihre Hoffnungen für die Zukunft.
Politik bedenkt ohnehin meist nur harte Fakten. Was bringt es ökonomisch? Was kostet es? Im Falle einer neoliberal geprägten Politik verleitet dieser beschränkte Blickwinkel dazu, manche sehr bedrückenden und belastenden Folgen zu übersehen. Die neoliberale Bewegung hinterlässt Zeitbomben: bei einzelnen Menschen wie für die Gesellschaft als Ganzes, auf nationaler Ebene wie auf internationaler.
Die zu Beginn des Buches zitierte Rede des Bundespräsidenten ist typisch dafür, wie die neoliberalen Reformer mit dem Ansehen unseres Landes umgehen – oder vielmehr wie sie meinen, damit umgehen zu müssen. Denn der missionarische Eifer, mit dem sie ihr Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell durchsetzen wollen, zwingt sie, das bestehende Modell des Zusammenlebens schlechtzureden. Der Bundespräsident will Neuwahlen ermög-lichen, also zeichnet er den Zustand des Landes in den schwärzesten Farben. Wo gibt es denn so etwas, dass das eigene Staatsoberhaupt so schlecht über sein Land redet, wie Horst Köhler dies getan hat? Und nicht nur bei seiner Rede zur Auflösung des Deutschen Bundestags sondern auch bei vielen anderen Anlässen, zum Beispiel bei seiner »Brandrede« vor einem Arbeitgeberforum (siehe S. 252 ff.). Professor Hans-Werner Sinn will, dass die Löhne gedrückt werden, also behauptet er, wir seien auf den Weltmärkten nicht mehr wettbewerbsfähig. Die Versicherungswirtschaft will private Altersvorsorge, also übertreibt sie das demographische Problem und macht die gesetzliche Rente schlecht (siehe S. 294 ff.). Und so weiter.
Wie gezielt die Schwarzmalerei ausfällt und betrieben wird, konnten wir im Umfeld der Neuwahlen des Jahres 2005 studieren. Vor der Neuwahlentscheidung wurde noch alles in schwarzen Farben gemalt, aber schon während der Vorbereitung auf die Wahlen war eine Kampagne zur Feier unseres Landes vorbereitet: »Du bist Deutschland«. Als die ersten Anzeigen und Fernsehspots dieser Kampagne Ende September 2005 erschienen,[26] meinte Peter Zudeick im Deutschlandradio, es sehe ganz danach aus, als ob die Kampagne im Hinblick auf eine erhoffte schwarz-gelbe Regierung geplant worden wäre. Die Initiatoren der »Du bist Deutschland«-Kampagne hätten wohl warten wollen, bis Merkel und Westerwelle am Ruder sind. »Um dann in alle Welt hinauszutrompeten, wie toll das mit Deutschland ist. Wenn man nur will.«[27]
Die Kampagne erschien dann etwas deplaziert, als sie anlief, ohne dass die Verantwortlichen in Berlin wussten, wer nun eigentlich an die Spitze der neuen Regierung gelangen oder welche Koalition zustande kommen würde – und ob sie nun eher sagen sollten, es stehe gut ums Land oder es stehe schlecht ums Land.
(…)
Man konnte sehen und lesen und hören, wie die Wirtschafts-forschungsinstitute und der Sachverständigenrat vor der Wahl und noch kurz danach düstere Prognosen für das Jahr 2006 abgaben. Wenige Wochen später schalteten die Volkswirte um und prognostizierten 1,8 oder 2 Prozent Wirtschaftswachstum. Das ifo-Institut erhöhte von 1,2 auf 1,7 Prozent, und auch der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Professor Bert Rürup, diagnostizierte artig den »Merkel-Aufschwung«. Objektiv betrachtet sind das lächerlich kleine Wachstumsraten, wenn man aus dem tiefen wirtschaftlichen Loch herauskommen will, in dem wir uns befinden. Aber der Vorgang zeigt, wie sogenannte Fachleute die Lage je nach Stimmung und politischer Opportunität unterschiedlich bewerten. Das Glas kann halbvoll und halbleer sein – je nachdem.
Die Medien haben bei der pessimistischen Darstellung unseres Landes eine wichtige Rolle gespielt. Prototypisch dafür ist der Spiegel, dessen einflussreicher Berliner Büroleiter Gabor Steingart ein Buch mit dem Titel Deutschland – Der Abstieg eines Superstars geschrieben und damit in seiner Redaktion den Ton vorgegeben zu haben scheint. Seine streckenweise sehr seltsamen Thesen finden auch in Nachfolgeartikeln und Interviews immer wieder Verwendung.
Achten Sie doch einmal darauf, wie schwer sich die Spiegel-Redaktion damit tut, irgend etwas gut zu finden an den Strukturen unseres Landes und seiner Wirtschaft. Bei Interviews sollten üblicherweise die Interviewten ihre Meinung sagen. In Spiegel-Interviews scheint das anders zu sein. So erschien zum Beispiel im Spiegel vom 19. Dezember 2005 ein Interview mit dem Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser zum Kampf zwischen dem rheinischen und dem amerikanischen Kapitalismusmodell, wie es in den Unterzeilen hieß. Dann folgten Fragen, die auf Miesmacherei unseres Landes, seiner Strukturen und seiner Wirtschaft getrimmt waren:
»Spiegel: Herr Abelshauser, […] Hiesige Unternehmen fühlen sich dem globalen Kapitalmarkt hilflos ausgeliefert. Hat der Shareholder-Kapitalismus amerikanischer Prägung gesiegt?
Abelshauser: Ich glaube nicht. Ihre Schilderung ist zu pessimistisch. Sie entspricht nicht den Fakten.
[…]
Spiegel: Etwas mehr Flexibilität würde auch der deutschen Wirtschaft guttun. Seit Jahrzehnten hängt ihr Wohl und Wehe an denselben Branchen, etwa am Fahrzeugbau, während sich Amerika dem Struktur-wandel sehr viel schneller und dynamischer angepasst hat.
Abelshauser: Das Geld wird zunächst da verdient, wo man besser als andere ist. Man muss sich auf die Methoden und Märkte konzentrieren, die man beherrscht. Erst dann kann man neue Märkte erobern. Die Deutschen sind da durchaus erfolgreich. Wir haben in den vergangenen Jahren auch bei den Patenten für Spitzentechnologie aufgeholt.
Spiegel: Ist es nicht eher so, dass die Basis der deutschen Wirtschaft immer schmaler wird? Im Pharmabereich, wo sie einst führend war, ist sie fast nicht mehr vertreten. Die Banken, die einst die Weltliga anführten, spielen international fast keine Rolle mehr. Auf der anderen Seite ist außer SAP kein großes Unternehmen mehr von Weltrang nachgewachsen.
Abelshauser: Die deutsche Organisation der Wirtschaft ist eben vor allem für Verfahrensinnovationen von Vorteil: also vor allem im Fahrzeugbau, Maschinenbau, in Chemie und Elektrotechnik. In anderen hat sie diese Vorteile nicht. Man kann nicht beides gleichzeitig haben. Die Amerikaner sind dafür in den Bereichen schwächer, in denen wir stark sind.
[…]
Spiegel: Warum ist die Arbeitslosigkeit dann in Deutschland viel höher als in den USA?
[…]
Spiegel: Ist die Arbeit in Deutschland nicht schlicht zu teuer?
[…]
Spiegel: Woran krankt das System noch?
[…]«
Die Fragen sagen alles. Die Antworten, so gut sie sind, scheinen den Spiegel nicht näher zu interessieren.
Wenn die interessierten Kräfte weitere Reformen wollen, schildern sie das Land in düsteren Farben. Denn wer Strukturreformen will, muss das Bestehende schlecht machen. Worüber wurde und wird nicht alles geklagt: über die hohen Lohnkosten, über die angeblich mangelnde Flexibilität, über die Blockade durch den deutschen Föderalismus. Um darüber zu lamentieren, sind deutsche Manager und Politiker sogar bis in die USA gereist. Dabei lässt sich schon am Beispiel Lohnkosten belegen, wie falsch diese Klagen sind.
In den letzten zehn Jahren sind die Reallöhne unter vergleichbaren Ländern nur in Deutschland gesunken (minus 0,9 Prozent), die sogenannten Lohnstückkosten – das sind die Lohnkosten nach Berücksichtigung der Produktivitätsentwicklung – sind in den letzten Jahren eklatant niedriger ausgefallen. Im Vergleich mit den zweiundzwanzig wichtigsten OECD-Industrieländern -haben die deutschen Lohnstückkosten seit 1995 insgesamt um 21,9 Prozent abgenommen.[29]
Auch die Flexibilität ist um vieles höher als behauptet wird, und das nicht nur in den neuen Bundesländern, wo Arbeitnehmer in ihrer Angst vor dem Arbeitsplatzverlust schon lange zum gleichen Lohn länger arbeiten.
Und der Föderalismus? Er ist nach den Erfahrungen mit der Diktatur aus guten politischen Gründen in Deutschland eingeführt worden. Und er hat gerade in der Wirtschaftspolitik wegen der Eigenständigkeit und einer daraus folgenden Eigendynamik der Länder sehr viel Positives bewirkt. Sind wir schlechter gefahren als das zentralisierte Frankreich? Hat uns der Föderalismus daran gehindert, das schwierige Problem der Vereinigung zweier sehr verschiedener Volkswirtschaften zu schultern? Ganz im Gegenteil, die föderale Struktur hat sich in vielen Bereichen positiv ausgewirkt, weil die Länder der alten Bundesrepublik die neuen Bundesländer unterstützt haben. Wer weiß, ob das Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands nicht noch viel schlechter gelungen wäre, wenn es diese dezentrale Struktur nicht gegeben hätte.
Die Dauerklage über die deutsche Misere ist nicht nur falsch, sie ist auch kontraproduktiv. Wer soll in Deutschland investieren, wenn er von deutschen Managern gesagt bekommt, hier sei alles schlecht? Wie will man deutsche Spitzenkräfte im Land halten und ausländische hierher holen, wenn man ihnen erzählt, im Ausland sei alles besser? Wie will man die Konjunktur ankurbeln, wenn man den Menschen andauernd erzählt, wie schlecht die Zukunftsperspektive ist?
Deutsche Manager, Professoren und Politiker haben im Ausland auch über die Macht der Gewerkschaften, über die Mitbestimmung und das Betriebsverfassungsgesetz geklagt. Darüber hätte man auch anders reden können. Wenn man sich der Fakten erinnert hätte, hätten unsere Abgesandten davon berichten können, wie wenig Streiktage wir im Vergleich zu anderen Ländern haben und wie kooperativ es zwischen Arbeitnehmern und Gewerkschaften auf der einen Seite und den Unternehmern auf der anderen Seite zugeht beziehungsweise zuging – zum Vorteil der Produktivitätsentwicklung unserer Volkswirtschaft. Statt dessen haben die Abgesandten unserer Eliten über Missbräuche der Arbeitnehmerrechte, des Kündigungsschutzes und des sozialen Netzes geklagt. Missbräuche, die es gab und gibt, die aber auch nicht ansatzweise ein korrektes Bild der Verhältnisse in Deutschland zeichnen.
Unsere Meinungsführer hätten davon schwärmen können, dass sich die Gewerkschaften in Deutschland nie, wie in anderen Ländern geschehen, dem technischen Fortschritt entgegengestellt haben, sondern vielmehr dabei behilflich waren, neue Wege zu gehen. Sie hätten davon schwärmen können, wie viele Fehlentscheidungen durch die Mitbestimmung der Arbeitnehmer, der Betriebsräte und der Gewerkschaften verhindert werden konnten.
Ich behaupte nicht, unser System habe keine Schwächen. Die entscheidende Frage ist, ob unser Land im Ausland fair und -gerecht dargestellt worden ist. Anderswo würde man diese Frage viel brutaler stellen. Da würde man fragen: Wie kommt ein Abgesandter unseres Landes dazu, sein eigenes Land im Ausland derartig mieszumachen? So sehen es zum Beispiel die Franzosen. So sehen es nolens volens die Briten, die ihr Modell loben, obwohl die Schattenseiten der Privatisierung auf der britischen Insel für niemanden zu übersehen sind.
(…)
Die Gesellschaft wird gespalten
Wie soll die Gesellschaft aussehen, die wir anstreben? Welcher Stellenwert soll der »Egalité« zukommen, der Vorstellung, alle Menschen seien gleich? Ist die Aufteilung in Oben und Unten, in Reich und Arm ein diskussionswürdiges Problem? Ist es ein erstrebenswertes Ziel, Unterschiede der Chancen oder gar Unterschiede in den Einkommen und Vermögen zu verringern? Welche Zielvorstellungen haben unsere Eliten?
Die konservativen und neoliberalen Meinungsführer haben in den letzten dreißig Jahren ganze Arbeit geleistet. Auch früher gab es erhebliche Unterschiede zwischen Oben und Unten, zwischen Arm und Reich. Aber noch vor zwanzig, dreißig Jahren hätte sich zumindest in einem großen Segment der Nachwuchskräfte selbst ausgegrenzt, wer diese Einteilung gerechtfertigt hätte. Und niemand stand unter Rechtfertigungsdruck, der das Versprechen der französischen Revolution – Egalité – oder auch nur das Versprechen des Grundgesetzes, wir würden ein Sozialstaat sein, wenigstens ein bisschen mehr in die Wirklichkeit herüberholen wollte. Wer damals dafür geworben hätte, die Löhne müssten sinken, wer das Heil unserer Volkswirtschaft gar in der Einrichtung eines Niedriglohnsektors erspäht hätte, der hätte sich selbst vom Platz gestellt.
Wer hingegen heute für soziale Angleichung eintritt, läuft Gefahr, als plumper Gleichmacher abgestempelt zu werden. So haben sich die Zeiten und mit ihnen die Tatsachen geändert. Unsere Gesellschaft unterliegt einer zunehmenden Spaltung. Das zeigt sich insbesondere an folgenden Punkten:
Erstens: Die Einkommensverteilung hat sich zugunsten der oberen Einkommen und zu Lasten der unteren verschoben. Das -zeigen die Statistiken, das zeigen aber auch schon eindeutige Signale wie der rasante Anstieg der Managergehälter auf Werte von 2 und gar 5 Millionen Euro Jahreseinkommen auf der einen Seite und der Abstieg vieler Menschen auf das Niveau des Arbeitslosengelds II. Beziffert man das ALG II für eine »Bedarfsgemeinschaft« auf 10 000 Euro im Jahr, dann steht der Bedarfsgemeinschaft unserer »Spitzenkräfte«, die besonders erfolgreich beim Arbeitsplatzabbau und der Kapitalvernichtung sind, das 200- bis 500fache zur Verfügung. Solche extremen Differenzen zwischen den Einkommen oben und unten zerstören die Moral einer Gesellschaft. Sie lassen sich nur mit außerordentlich überragenden Leistungen rechtfertigen.
Arbeitet der Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, wirklich so viel mehr als sein unterster Mitarbeiter? Schafft er wirklich so viel mehr Werte mit ehrlicher Arbeit? Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen, denken sich die Menschen. Die fatale Folge: Wenn es oben nicht mit rechten Dingen zugeht, warum sollten sich dann alle anderen nach den »überkommenen« moralischen Spielregeln richten?
Es gibt verschiedene Indikatoren für die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung:
Die Reallöhne sind zwischen 1995 und 2004 nicht gestiegen, sondern um 0,9 Prozent gefallen. Zum Vergleich: Schweden plus 25,4 Prozent, EU 15: plus 7,4 Prozent.
Die nominalen Arbeitnehmerentgelte sind von 1995 bis 2005 gerade mal um 13,2 Prozent gestiegen, die Unternehmens- und Vermögenseinkommen um 38,8 Prozent. Die Schere öffnet sich immer weiter.
Die Bruttolohnquote (Anteil des Bruttoeinkommens aus unselbständiger Arbeit einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung am Volkseinkommen/strukturbereinigt) lag 1993 bei 73,2 Prozent, im ersten Halbjahr 2005 bei 67,2 Prozent.
Die Gewinnquote lag 1993 bei 27,1 Prozent, 2005 bei 34,3 Prozent.[39]
Das ist eine deutliche Verschiebung zu Lasten der Arbeitnehmer und zugunsten der Gewinn- und Vermögenseinkommen.
Zweitens: Die Arbeitnehmer sind bei den Auseinandersetzungen um die Löhne und damit um die Einkommensverteilung in diesem Land hoffnungslos ins Hintertreffen geraten. Sie haben in der Regel keine Alternative – von wenigen Berufsgruppen und Regionen abgesehen sind sie den Pressionen der Arbeitgeberseite ausgeliefert. Drohungen mit Verlagerung und betriebsbedingter Kündigung haben sie kaum etwas entgegenzusetzen.
Dieses Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt ist das eigent-liche Problem, aus dem eine Reihe von Belastungen für die -Mehrheit der Menschen resultiert: Sie verdienen weniger als -früher. Ihre Rechte im Betrieb sind weitgehend entwertet. Auch fest -vereinbarte Rechte werden von Arbeitgeberseite zur Dis-position gestellt. Wer am kürzeren Hebel sitzt, kann sich gegen diese Rechtsverletzung nicht ausreichend und mit Erfolg wehren.
Unternehmen, die im wesentlichen für den Binnenmarkt tätig sind, befinden sich allerdings häufig in einer ähnlichen Lage wie die Arbeitnehmer.
Drittens: Immer mehr Arbeitnehmer müssen mit prekären, also befristeten und unsicheren Arbeitsverhältnissen leben. Wir be-obachten eine Tendenz hin zur Wiederbelebung von tagelöh-nerähnlichen Verhältnissen. Die Spaltung unserer Gesellschaft in Menschen mit einer gesicherten Berufsperspektive und einen größer werdenden Teil von Menschen, die einer Situation vollkommener beruflicher Unsicherheit ausgesetzt sind, ist offenkundig. Diese Spaltung wird eigenartigerweise von konservativen Kreisen betrieben, die gleichzeitig den Schutz der Familie propagieren. Sie schwärmen von der Dienstleistungsgesellschaft, von Niedriglohnsektor und Minijobs. Der »Familiensender« ZDF strahlte am 31.Januar 2006 eine Lobeshymne auf diese Jobs aus. In der Sendung mit dem Titel »Feierabend abgeschafft – Von Multijobbern und Megapendlern« wurde ein Trend zur Zweitbeschäftigung diagnostiziert und hoch gelobt.
Ist diese Seite der amerikanischen Welt wirklich erstrebenswert? Familien leiden sehr darunter, wenn von einzelnen Fami-lienmitgliedern völlige Mobilität und Flexibilität verlangt wird. Familie im gewünschten Sinn kann sich nur noch der leisten, der über die finanziellen Mittel verfügt, um die Familie überallhin mitnehmen zu können.
Viertens: Die Spaltung zeigt sich zunehmend deutlicher auch beim Unterschied der Chancen von Kindern aus begüterten Familien und solchen aus ärmeren Familien. Die Forscher der Pisa-Studie haben diesen Vorgang beschrieben. Die Chancen für Kinder aus Arbeitnehmerfamilien haben sich gegenüber denen von Kindern aus bessergestellten Kreisen in den letzten Jahren eher verschlechtert als angeglichen. Ihre Chancen, über das Bildungssystem gesellschaftlich aufzusteigen, sind gesunken. »Das deutsche Bildungssystem kann soziale Unterschiede nicht auffangen. Wer aus gehobener sozialer Schicht kommt, hat deutlich bessere Bildungschancen. Dieser Zusammenhang ist in Deutschland statistisch besonders markant.« Das zeigt die am 3. November 2005 veröffentlichte Studie Pisa E.
Diese Spaltung kommt nicht von ungefähr. Sie ist Teil und Ergebnis der herrschenden Philosophie. Wer den Glauben vertritt, jeder sei seines Glückes Schmied, der akzeptiert auch, dass die Gesellschaft sich aufspaltet, und dass Solidarität, solidarisches Denken und Handeln als unzeitgemäß abgetan werden. Die neoliberalen Ideologen haben Solidarität als Wert zum Gespött gemacht, und sie haben damit zugleich bei den Schwächeren den Glauben an eine solidarische Gesellschaft zerstört.
Von Louis Brandeis, Richter am Obersten Gerichtshof der USA zur Roosevelt-Zeit, gibt es eine bemerkenswerte Äußerung, die vor den Folgen solcher Entwicklungen warnt: »Die Regierung ist der mächtige allgegenwärtige Lehrer. Ob im Guten oder im Schlechten: Sie formt das gesamte Volk durch ihr Beispiel. Kriminalität steckt an. Wenn die Regierung Gesetze bricht, dann provoziert sie Geringschätzung der Gesetze. Sie fordert jeden Bürger heraus, sich die Gesetze nach eigenem Bedarf zurechtzubiegen. Sie fordert zur Gesetzlosigkeit auf.«
Fünftens: Je weniger Solidarität zählt und je mehr sich der Staat als Garant der solidarischen Gesellschaft zurückzieht, um so einseitiger werden Menschen und Gruppen von Ereignissen, Katastrophen und anderen Gefahren bedroht. Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten – das ist kein linksradikales Schlagwort, sondern schlichte Realität. Da der Staat sich, angetrieben von den neoliberalen Geistern, überall zurückzieht, wächst die Kluft zwischen Reich und Arm. Sichtbar war das nicht nur auf den Dächern von New Orleans, als der Hurrikan Katharina kam.
Die Spaltung der Gesellschaft wäre nicht so weit gediehen und wäre auch nicht so leise vollzogen worden, wenn nicht ein beträchtlicher Teil derer, die man als geistige Elite bezeichnen könnte, sich auf die Seite der finanziell Erfolgreichen geschlagen hätte. Dass sich Intellektuelle für den neoliberalen Glauben einspannen lassen, ist ja eher verwunderlich, aber es ist tatsächlich so. Die intellektuelle Elite hat sich zu einem merkbaren Teil auf die Seite der Mächtigen geschlagen. Das ist bitter für die Schwächeren. Denn wenn nicht zumindest ein Teil der geistigen Eliten sich für die Schwächeren einsetzt, statt das Sein ihr Bewusstsein bestimmen zu lassen, wird eine Gesellschaft kalt.
Die intellektuelle Elite schlägt sich auf die Seite der Mächtigen
Einige Beispiele illustrieren, wie sich die intellektuelle Elite in den ideologischen Kampf der Mächtigen einspannen lässt – ein erstaunlicher Schwenk:
Günter Grass, Uwe Wesel, Jürgen Flimm haben Schröders Agendakurs unterstützt und Hartz IV als einen Beitrag zur Stärkung des Standorts Deutschland verteidigt. Sie und andere haben reihenweise die Vorurteile der Neo-liberalen übernommen, Konjunkturprogramme brächten es nicht mehr. Sie realisieren nicht, dass alles, was Arbeitnehmern und Arbeitslosen ein bisschen hilft, davon abhängt, dass sie wieder Alternativen bei der Wahl ihres Arbeitsplatzes haben. Alterna-tiven werden sie aber nur bekommen, wenn die Konjunktur anzieht und unsere Volkswirtschaft wächst.
Günter Grass wie Erhard Eppler haben in den letzten Jahren das Vorurteil gepflegt, die Politik sei machtlos gegenüber der Ökonomie – so lautet zum Beispiel die Hauptbotschaft eines Beitrags von Günter Grass in der Zeit.40 Wenn das zuträfe, wäre die Lage für die Schwächeren in unserer Gesellschaft wirklich trostlos. Es ist aber falsch. Der Freiheitsgrad der Politik ist sehr viel größer, als die ehedem linken Intellektuellen glauben. Wer behauptet, die Politik hätte zum Beispiel keinen Freiheitsgrad, mehr Beschäftigung zu schaffen, muss erklären, wieso das in Schweden oder in Österreich oder in Dänemark möglich ist, bei uns jedoch nicht. Solche Behauptungen lenken Wasser auf die Mühlen jener, die strukturelle Reformen oder noch niedrigere Löhne verlangen.
In den Reihen der sozialwissenschaftlich geschulten Intellektuellen in Deutschland, vornehmlich bei Soziologen und Politologen, gibt es eine starke Gruppe, die geprägt ist von der Vorstellung, es gebe immer weniger Arbeit, die Rationalisierung führe im Extremfall dazu, dass die Arbeit ausgeht. Bei manchen kommt verstärkend hinzu, dass sie Wachstum ökologisch für problematisch halten, was durchaus richtig ist, wenn das Falsche wächst. Bei anderen kommt hinzu, dass sie den Kapitalismus ohnehin scheitern sehen, weil der Bedarf an Gütern gesättigt sei. Hier mischt sich also vieles, und durchaus Gutwilliges. Im Kern ist das Ergebnis aber wiederum lähmend. Wer glaubt, dass die Arbeit langsam ausgeht, wird nicht gerade dafür plädieren, die Binnennachfrage anzukurbeln. Auch diese Gruppe, so nah sie der Arbeitnehmerschaft auch stehen mag, hat sich als Bündnispartner in der wichtigen Frage der Beschäftigungspolitik selbst lahmgelegt.
Reihenweise haben auch eher linksliberale Intellektuelle die Kampagne gegen die Gewerkschaften mitgemacht. Sie wurde im November 2002 vom Spiegel in einer Titelgeschichte besonders angeheizt, in der zu lesen war, wir lebten in einem Gewerkschaftsstaat. Das ist zwar eine groteske Verirrung, aber diese Botschaft schlug sich in zahlreichen nachfolgenden Essays auch von bis dahin eher fortschrittlichen und liberalen Intellektuellen nieder.
Die Folgen hoher und langer Arbeitslosigkeit werden unterschätzt
In den Debatten der meinungsführenden Gruppen und Personen kommen die Folgen ihrer Wirtschaftspolitik, der andauernden »Modernisierung« und damit der Veränderung unserer Gesellschaft kaum vor. Weder die politisch Verantwortlichen noch die Publizistik noch die Wissenschaft verschwenden sonderlich viele Gedanken daran.
Die meinungsführenden Eliten nehmen nicht ausreichend wahr, dass es Folgen politischer Entscheidungen gibt, die sich nicht in Mark und Pfennig, in Euro und Cent beziffern lassen. Sie begreifen nicht, dass auch psychische Folgen reale Folgen sind. Sie begreifen nicht einmal, dass Mord und Totschlag reale Folgen sind.
Die Folgen der neoliberalen Reformen sind jetzt schon gravierender, als unsere Meinungsführer und Entscheider meinen. Sie treiben eine Entwicklung voran, deren Ende sie nicht sehen und unter deren Folgen auch viele von ihnen leiden werden.
In der öffentlichen Debatte und bei politischen Entscheidungen wird die Arbeitslosigkeit fast nur nach den vorliegenden Ziffern gewichtet und vor allem danach, was diese Arbeitslosen die Bundesagentur für Arbeit und den Fiskus kosten. Das ist ein ausgesprochen enger Blickwinkel. Die Tatsache, dass bei uns zu Jahresanfang 2006 wieder über 5 Millionen Erwerbstätige arbeitslos gemeldet waren und, die Dunkelziffer eingerechnet, rund 7 Millionen als arbeitslos gelten müssen, sagt viel, aber nicht andeutungsweise das, was an seelischem und familiärem Leid und an volkswirtschaftlichen Schäden hinter diesen Ziffern steckt.
Über 12 Prozent Arbeitslosigkeit – das sind Millionen von Menschen. Es geht um zerstörte Lebensentwürfe. Es geht um Schwierigkeiten mit der Gesundheit. Es geht auch um soziale Deklassierung und den Verlust von Nachbarschaft und Heimat; um die Zerstörung des kleinen Glücks vieler Menschen und vieler Familien; um Menschen, die sich als Versager empfinden, obwohl sie persönlich ihr Elend gar nicht zu verantworten haben. Arbeitslosigkeit, das bedeutet außerdem verschenkte volkswirtschaftliche Potentiale sowie verpasste Ausbildungs- und Weiterbildungschancen, denn wer nicht arbeitet, der kann sich in der Regel nicht so weiterbilden, wie es heute in vielen Jobs gang und gäbe und auch nötig ist.
Besonders dramatisch ist die Situation unter gesamtgesellschaftlichen und ökonomischen Aspekten für die 600.000 Arbeitslosen unter fünfundzwanzig Jahren und hier wieder insbesondere für jene, die noch nie eine Chance hatten, zu arbeiten. Was das bedeutet, wissen wir aus unserer eigenen Lebenserfahrung mit Jugendlichen. Wenn sie keine Chance haben, arbeiten zu lernen, sich an Vorgaben und eine gewisse Disziplin zu halten, dann ist vieles für das ganze Leben gestört oder sogar zerstört.
Die langfristigen Folgen hoher und langer Arbeitslosigkeit sind gravierend. Deswegen ist nicht zu verstehen, dass sie kein Thema in der öffentlichen Auseinandersetzung sind. Ich begreife nicht, wie man in der Pose des Realisten locker darüber meditieren kann, eine beträchtliche Sockelarbeitslosigkeit sei heute selbstverständlich und müsse hingenommen werden.41 Beispielsweise geht die Europäische Kommission in ihrem Economic–Paper Nr.235 davon aus, dass Deutschland auch 2050 noch eine Arbeitslosenquote von 7 Prozent aufweist.
Andere sinnieren darüber, die Zukunft der Gesellschaft werde sich wohl so gestalten, dass ein großes Segment unserer Gesellschaft dauerhaft ohne Arbeit bleiben wird, während der Rest mit hoher Produktivität für das nötige Volkseinkommen sorgt. Eine erstrebenswerte Konstellation ist das nicht und schon gar keine verantwortungsbewusste Politik. Die Politik muss sich bemühen, Arbeit für alle zu schaffen. Das Ziel Vollbeschäftigung aufzugeben ist nicht nur verantwortungslos, es widerspricht auch den Vorgaben des Wachstums- und Stabilitätsgesetzes, das nach wie vor gültig ist. Wo sich Regierungsvertreter vom Ziel der Vollbeschäftigung verabschieden, brechen sie ihren Amtseid.
Angst als gesellschaftliches Steuerungsinstrument
Im August 2005 erschien im britischen Wirtschaftsmagazin The Economist eine Titelgeschichte zur wirtschaftlichen Lage in Deutschland. Das war, für viele überraschend, eine sehr positive Darstellung der Standortbedingungen unseres Landes. Die da-malige rot-grüne Bundesregierung zitierte diesen Artikel ausführlich und immer wieder in der Wahlkampagne 2005. Im On-linedienst der Bundesregierung hieß es am 18. August 2005: »Deutsche Arbeitnehmer und Gewerkschaften hätten in den vergangenen Jahren ein hohes Maß an Flexibilität bewiesen. Deutschlands Konzerne seien erfolgreich restrukturiert worden und hätten ihre Kosten gesenkt, lobt der Economist.«
Und weiter: »Das britische Wirtschaftsmagazin The Economist ist überzeugt, dass Deutschlands Wirtschaft die Talsohle durchschritten hat und inzwischen wettbewerbsfähiger ist als etwa Frankreich, Italien oder sogar Großbritannien. Auch dank der Reformpolitik der Bundesregierung. Deutschland stehe vor einem starken Comeback, heißt es in der neuesten Ausgabe der renommierten Zeitschrift.«
Einer der Gründe, der die britischen Beobachter zu ihrer po-sitiven Einschätzung brachte, war Hartz IV, denn dieses Gesetz habe »bewirkt, dass viele Beschäftigte die Folgen eines Arbeitsplatzverlustes stärker fürchten. Dies hat die Position der Firmen bei neuen Lohnverhandlungen gestärkt und die Macht der Gewerkschaften geschwächt.«
Der Economist hat recht: die hohe Zahl der Arbeitslosen, kombiniert mit der Drohung, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit auf das Niveau der Sozialhilfe abzugleiten, hat dazu geführt, dass quasi eine ganze Generation von arbeitenden Menschen ihrer -Sicherheit beraubt worden ist, im Falle eines Arbeitsplatzver-lustes nicht gleich deklassiert zu werden.
Diese Beobachtung der Briten wird auch durch Erhebungen in Deutschland bestätigt. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger weist in seinem Minderheitsvotum zum Gutachten des Sachverstän-digenrats vom November 2005 darauf hin, dass der Ersatz der Arbeitslosenhilfe durch das Arbeitslosengeld II »zu einer erheb-lichen Verminderung der kollektiven Absicherung eines Arbeitnehmers im Fall der Arbeitslosigkeit geführt und die Angst vor Arbeitslosigkeit überproportional erhöht« hat.
Abbildung 12: Arbeitslosenzahl und Anteil der Befragten, die »große Angst« vor Arbeitslosigkeit haben
Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.): Jahresgutachten 2005/2006, Wiesbaden 2005, S. 224
Abbildung 12 zeigt deutlich, wie eng die Angst vor Arbeitslosigkeit mit der Entwicklung der Arbeitslosigkeit selbst zusammenhängt: Als zwischen 1997 und 2000 unsere Volkswirtschaft ein bisschen über dem Durchschnitt der vorherigen Jahre wuchs und die Arbeitslosigkeit leicht zurückging, sank prompt der Anteil jener, die Angst hatten; als dann danach die Arbeitslosigkeit wieder stieg, wuchs die Angst vor Arbeitslosigkeit überproportional.
Reformmaßnahmen wie die Entwertung der Arbeitslosenver-sicherung durch Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und Reformankündigungen wie jene, den Kündigungsschutz weiter lockern zu wollen, schüren diese Angst noch zusätzlich – eine durchaus berechtigte Angst: Heide Pfarr, Wissenschaftliche Direktorin in der Hans-Böckler-Stiftung, erklärte zu der Absicht der großen Koalition, den Kündigungsschutz weiter zu lockern: »Wir haben angesichts der Zahlen über die Dauer von Anstellungen ausgerechnet, dass 48 Prozent aller Entlassungen von der Neuregelung aktuell betroffen wären. Rund 30 Prozent aller Beschäftigten werden nie mehr in den Genuss des Kündigungsschutzes kommen. Sie werden immer in sozialer Unsicherheit leben.«[42]
Eine ähnliche Wirkung wie die Lockerung des Kündigungsschutzes haben der Abbau der unbefristeten und gesicherten -Arbeitsverhältnisse und der Ausbau von Minijobs und anderer sogenannter prekärer Arbeitsverhältnisse: Sie verbreiten Unsicherheit und Angst.
Der Economist findet es gut, wenn die Menschen Angst vor Arbeitslosigkeit haben, und die Bundesregierung ist auch noch stolz darauf. Wie tief sind die Eliten bei uns und bei unseren europäischen Partnern gesunken, dass sie die Zunahme von Angst für etwas Positives halten? Man muss nicht einmal Ethik und Moral bemühen, man muss gar kein besonders human denkendes Wesen sein, man muss nur rechnen können, um das Lob für eine Politik, die Angst verstärkt, absurd und ignorant zu finden.
Es ist ignorant, weil diese Beobachter und Kommentatoren nicht einmal den Versuch machen, zu begreifen, welche Folgen das Anwachsen der Angst hat: Die Menschen werden seelisch und körperlich krank. Darunter leiden sie selbst und ihre Fami-lien, sie fallen aus, sie machen Fehler in der Produktion, sie erleiden Unfälle. Glaubt man wirklich, das sei produktiv?
Angst ist kein Faktor der Produktivität, es sei denn, man kapriziert sich auf das kleine Segment derer, die die heutigen Sozialleistungen und die Arbeitnehmerrechte missbrauchen. Bei ihnen könnte man sagen, die Angst vor Arbeitsplatzverlust führe zu korrekterer und weniger missbräuchlicher Nutzung ihrer Rechte. Das ist aber auch alles. Ansonsten gilt, was jeder von sich selber kennt: Wenn wir Sorgen haben, dann schlafen wir schlecht, dann kriegen wir den Kopf nicht frei, dann nerven wir die Leute in unserer Umgebung.
Man braucht also nur den gesunden Menschenverstand zu -bemühen, um zu verstehen, welcher Wahnsinn hinter dem -Konzept steckt, die Standortbedingungen einer Volkswirtschaft durch Vermehrung der Angst zu verbessern. Aber dieser Wahnsinn hat Methode. So ist das Konzept der neoliberalen Ideologie angelegt. In den Betrieben kommt es zu einer weiteren Folge von Angst: Mobbing. Wer Angst hat, ist schnell Opfer von Mobbing. Wer Angst hat, ist aber auch häufig Täter. Hakeleien, Intrigen und Anmotzerei hat es in allen Belegschaften von der industriellen Großanlage bis zum Fünfmannbetrieb schon immer gegeben. »Mit Kollegen ist es wie mit Verwandten: man kann sie sich nicht aussuchen, aber man muss mit ihnen leben«, heißt eine Lebensweisheit aller abhängig Beschäftigten.
Doch für immer mehr Beschäftigte wird dieses Zusammenleben mit den Kollegen zur Zerreißprobe. Seit den neunziger Jahren rückt das Phänomen des Mobbing immer mehr in den Blick der Öffentlichkeit. Mobbing unterscheidet sich von herkömmlichen Unverträglichkeiten dadurch, dass ein Kollege so lange und so systematisch gepeinigt, diffamiert, schikaniert oder von wichtigen Informationen abgedrängt wird, bis er entnervt kündigt oder ernsthaft erkrankt und vorzeitig erwerbsunfähig wird.
Die Folgen des Mobbing in Zahlen: Zwei Drittel der Gemobbten zeigen ernste Verstörungen wie Demotivierung, Misstrauen, Angst, Nervosität, Verunsicherung. 50 Prozent haben Denkblockaden, Konzentrationsstörungen, Angstzustände, Selbstvertrauensverlust, vollziehen die innere Kündigung. 43,3 Prozent werden krank, 22,5 Prozent kündigen selber, 14,8 Prozent werden gekündigt. 11,4 Prozent werden arbeitslos.
Ein Drittel aller Gemobbten wird langfristig krank, 18,6 Prozent müssen zur Kur, und jeder Sechste begibt sich in stationäre Behandlung. Ein Drittel aller Mobbingopfer nimmt psychotherapeutische Hilfe in Anspruch.[43]
Der Industrie- und Arbeitssoziologe Klaus Dörre spricht von der Rückkehr der sozialen Unsicherheit: In die reichen Nationen kehre sie in Form von Zeit- und Leiharbeit, befristeter Beschäftigung, Mini- oder Gelegenheitsjobs zurück.44 Die Entwicklung zu solchen prekären Arbeitsverhältnissen ist in Deutschland weit fortgeschritten. Das klingt nach Fortschritt und Zwangsläufigkeit. Dem ist nicht so. Dörre weist mit Recht darauf hin, dass diese Entwicklung nicht vom Himmel gefallen ist, sondern das Ergebnis der Arbeitsmarktpolitik ist. Mit anderen Worten: das Ergebnis gerade auch der Wirtschaftspolitik und der dahinter-steckenden Ideologie.
Wer getreten wird, tritt nach unten weiter
Schon zum vierten Mal hat das Institut für interdisziplinäre -Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld »Deutsche Zustände« untersucht und beschrieben.45 Konkret geht es dabei um die Frage, wie sich Desintegrationsprobleme auswirken. Der Leiter des Projekts, Professor Wilhelm Heitmeyer, hat in der Zeit vom 15. Dezember 2005 von den Ergebnissen be-richtet und dabei mehrere der zuvor berichteten Tendenzen zur Spaltung unserer Gesellschaft und zum Anstieg der Angst be-stätigt. Die Trends hätten sich zwischen 2002 und 2005 verschärft:
»Signifikant zugenommen haben die Desintegrations-gefahren, die sich in Angst vor Arbeitslosigkeit, Befürchtungen eines niedrigen Lebensstandards und negativen Zukunftserwartungen ausdrücken. Dies gilt ebenso für die Frage, ob man nach eigener Wahrnehmung an Orientierung und politischem Einfluss verliert. Danach scheint eine sicherheitsverbürgende Ordnung verloren, so dass man nicht mehr weiß, wo man selber eigentlich steht (64 Prozent). Man weiß nicht mehr, was los ist (66 Prozent). Und: dass man – so das Gefühl – früher wusste, was man zu tun hatte (63 Prozent). Selbst wenn dies als problematische Nostalgie erscheint, bezeugen diese subjektiven Gefühle die Realität der Menschen.«
Diese Entwicklung betrifft nicht nur die Ränder der Gesellschaft, berichtet Heitmeyer:
»Und was wird aus der gesellschaftlichen Mitte? Mit materiellen Zugewinnen ›oben‹ und Verlusten ›unten‹ geraten die mittleren Lagen ins Rutschen. Angst vor so-zialem Abstieg verspüren heute etwa die Hälfte von allen Befragten, also nicht nur Befragte in den unteren, sondern auch in mittleren und gehobenen Soziallagen, mithin jene, die viel zu verlieren haben – forciert durch ›Hartz IV‹ als Ausdruck sozialer Abstiegsgefahr.«
Seit 2002 nehme die Anerkennung sowohl im Beruf als auch im Alltag, die für die Integrationsqualität einer Gesellschaft zentral ist, signifikant ab. Das deute auf zunehmende Konkurrenz und Gleichgültigkeit gegenüber anderen hin. Heitmeyer beschreibt die Folgen:
»Die Menschen geraten offensichtlich verstärkt unter Druck, was ihre Wahrnehmung des Zustandes dieser Gesellschaft verändert. Im Jahr 2005 vertraten fast 87 Prozent der Befragten die Auffassung, dass die Gesellschaft immer mehr auseinanderfällt. Zwischen 2002 und 2005 ist der Zweifel an der Solidarität mit Hilfsbedürftigen spürbar auf fast 39 Prozent gewachsen.«
Auch die Zweifel an der Behauptung, dass Menschen bei uns fair miteinander umgehen, seien bemerkenswert auf über 70 Prozent angestiegen. Und dass der Wohlstand gerecht verteilt sei, bezweifeln 2005 – ebenfalls ansteigend seit 2002 – 87 Prozent. »Grundprinzipien einer integrationsfähigen Gesellschaft wie Solidarität, Fairness und Gerechtigkeit scheinen zur Disposition zu stehen.«
Dieser Befund ist fast so etwas wie die Zusammenfassung der in den vorigen Kapiteln dieses Buches beschriebenen Folgen der herrschenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Philosophie. Das Bielefelder Institut für Konflikt- und Gewaltforschung hat darüber hinaus noch eine Reihe weiterer gesellschaftlicher Veränderungen festgestellt.
So steigt die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland im Beobachtungszeitraum seit 2002 an. 61 Prozent stimmen der Aussage, es lebten zu viele Ausländer in Deutschland, ganz oder eher zu. 2002 waren es 55 Prozent. Wilhelm Heitmeyer spricht von »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«: Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamophobie, Abwertung von Obdachlosen und Homosexuellen. Der Forderung der NPD: »Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in Deutschland lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken«, stimmen heute immerhin über 36 Prozent zu, vor vier Jahren waren es noch 28 Prozent.
Taube Eliten
Unsere Eliten begreifen scheinbar ganz einfache Zusammenhänge nicht – etwa den Zusammenhang zwischen Angst, wirtschaftlichen Sorgen, mangelnder Zukunftsperspektive und dem Umgang der davon Betroffenen mit den Nächstschwächeren. Dass, wer von oben getreten wird, den Druck nach unten weitergibt, ist eine so banale Erfahrung, dass es wundern muss, wie wenig sie in politische Überlegungen und Entscheidungen Eingang findet. Die gesamte Operation Hartz IV wie auch die Absicht der Regierung Merkel, mit einer Lockerung des Kündigungsschutzes und einer saftigen Mehrwertsteuererhöhung wirtschaftliche Probleme zu lösen, sind ohne Rücksicht auf diese sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse beschlossen worden.
»Wer irgendwo neu ist, sollte sich erst mal mit weniger zufriedengeben« – diese Aussage wird von 70 Prozent und damit von 9 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum für richtig befunden.
»Die Neigung, schwache Gruppen abzuwerten, ist bei Personen stärker ausgeprägt, die hohe Orientierungsunsicherheiten aufweisen«, schlussfolgert Heitmeyer. Und: »Die Mitte ist in vielerlei Hinsicht ähnlich feindselig geworden wie Personen, die ihre Position rechts verordnen.«
Überraschend sind alle diese Befunde nicht. Es ist eine Alltagserfahrung, dass Menschen, die von oben malträtiert werden, nach unten treten, wenn sie keine Chance haben, nach oben zurückzuschlagen.
Heitmeyer verwendet einen Begriff, der mir passend erscheint zur Beschreibung der psychischen Lage, in der sich große Teile der Bevölkerung befinden: Er spricht von gefährlichen »Verstörungen« und mahnt an, die Politik möge mit überzeugenden -Visionen gegenhalten, »die der gesellschaftlichen Entwicklung eine Richtung geben«. Gleichzeitig stellt er fest, dass man das auch in der großen Koalition offenbar nicht begriffen hat. An-gela Merkels Leitspruch »Mehr Freiheit wagen« entspricht nicht dem Bedürfnis nach Orientierung und Integration. Heitmeyer -zufolge verkehrt sich die Botschaft dieses Leitspruchs ins Nega-tive: »Aber die aktuellen Verhältnisse, auf die dieser Leitspruch gemünzt ist, sind angstbesetzt. Davon wird auch die Freiheit infiziert: Sie wird vielfach verstanden als Freiheit von verantwortungsbewussten ökonomischen und sozialen Logiken, die lange als Maßstab galten, immer häufiger sogar als Freiheit zu sozialen Abwertungen und Ausgrenzungen.«
Diese Beobachtungen lassen es dringend geraten erscheinen, dass die politisch Verantwortlichen positiv mit den Werten umgehen, an denen sich die Mehrheit der Menschen bisher orientiert hat: Solidarität, Sozialstaatlichkeit, Vertrauen auf die staatliche Rahmensetzung. Gerade wenn es den Menschen schlecht geht, wenn sie arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind und keine berufliche Perspektive haben, brauchen sie eine Orientierung, die ihnen Hoffnung gibt.
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