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Titel: Lebensmittelpreise steigen um 90 Prozent: Proteste gegen die Hungerkrise in Argentinien

Datum: 19. Mai 2024 um 12:00 Uhr
Rubrik: Finanzpolitik, Länderberichte, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Innerhalb von vier Monaten sind die Lebensmittelpreise in Argentinien um 90 Prozent gestiegen, und die Regierung hat keine einzige politische Maßnahme zur Unterstützung landwirtschaftlicher Familienbetriebe getroffen. Der Runde Tisch für Landwirtschaftliche Ernährung Argentiniens (Mesa Agroalimentaria Argentina, MAA) veranstaltete vor dem Kongressgebäude einen „Verdurazo” und forderte Maßnahmen, um die Krise abzufedern. „Wir Organisationen antworten mit dem Kampf auf den Straßen”, bekräftigten sie. Der Präsident hingegen feierte die Unterdrückung im Zentrum von Buenos Aires. Von Mariángeles Guerrero.

Steigende Lebensmittelpreise, Streichung von Geldern für gemeinschaftliche Speiseräume, Entlassung von Arbeitnehmern und Repression. Zu diesem Maßnahmenpaket der argentinischen Regierung gesellte sich im Gartenbausektor von La Plata ein Unwetter mit direkten Auswirkungen auf 7.000 Familien, die Obst und Gemüse für den heimischen Markt produzieren.

Angesichts fehlender staatlicher Unterstützung und einer Krise, die das Leben und die Produktion in den Anbaugebieten erschwert, reagierte der Runde Tisch für Landwirtschaftliche Ernährung Argentiniens mit einer Straßenaktion, einem „Verdurazo”: Solidarisch verteilten sie selbst erzeugte Lebensmittel und forderten politische Strategien, um die Krise zu bewältigen.

Auf dem Platz vor dem für ihr Anliegen zuständigen Nationalkongress erläutert Juan Pablo Acosta von der Gewerkschaft der Landarbeiter und Landarbeiterinnen (Unión de Trabajadores de la Tierra, UTT) die Ziele ihrer Aktion: „Der Verdurazo will Missstände anprangern und gleichzeitig die Forderung nach politischen Maßnahmen für unseren Sektor zum Ausdruck bringen.” Er bekräftigt: „Wir wenden uns gegen die Vorschläge des Individualismus und gegen die Vorstellung, es müsse auf den Köpfen anderer herumgetrampelt werden, um selbst voranzukommen. Wir schlagen stattdessen vor, miteinander zu teilen, den Wert der Solidarität zu erkennen und Gemeinschaft aufzubauen.”

Vier Monate nach dem Amtsantritt von Javier Milei hat sich die Krise in Argentinien zugespitzt: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, die Lebensmittelpreise in den einfachen Wohnvierteln sind seitdem um 90 Prozent gestiegen. Angesichts dieser Umstände planten die Produzenten in den landwirtschaftlichen Familienbetrieben den „Verdurazo” als eine Form der Unterstützung für diejenigen, die vom Anpassungsplan der Regierung direkt betroffen sind und dessen Auswirkungen am eigenen Leib erfahren: die entlassenen Arbeiter, die Rentner und die Nutzer der gemeinschaftlichen Speiseräume. Vor dem Nationalkongress spendeten die Organisationen des MAA 30.000 Essensrationen.

Acosta hofft, dass die Mobilisierung „uns näher zusammenbringt und die Kämpfe weiter verbindet” und argumentiert, dass „sich der Angriff der Regierung gegen alle ärmeren Bevölkerungsgruppen und auch gegen die Mittelschicht richtet.”

Der Runde Tisch für Landwirtschaftliche Ernährung wurde 2021 gegründet und besteht aus der Gewerkschaft der Landarbeiter und Landarbeiterinnen (Unión de Trabajadores y Trabajadoras de la Tierra, UTT), der Nationalen Kleinbäuerlichen Indigenen Bewegung – Wir sind das Land (Movimiento Nacional Campesino Indígena – Somos Tierra, MNCI-ST), dem Verbund der Föderativen Kooperativen (der Federación de Cooperativas Federadas, Fecofe), dem Verbund der Kernorganisationen der Familienlandwirschaft (Federación de Organizaciones Nucleadas de la Agricultura Familiar, Fonaf) und Förderativen Stützpunkten (Bases Federadas).

In den Organisationen haben sich bäuerliche Familien, Produktionsgruppen und Genossenschaften zusammengeschlossen, die insgesamt 65 Prozent der auf dem Binnenmarkt konsumierten Lebensmittel herstellen, darunter Obst, Gemüse, Fleisch und weiterverarbeitete Produkte. Darüber hinaus setzen sie sich für fairen Handel, Ernährungssouveränität und Agrarökologie ein.

Das Essen wird immer teurer

Einer Untersuchung des Forschungsinstituts für Sozialökonomie, Politik und Zivilgesellschaft (Instituto de Investigación Social Económica, Política y Ciudadana, Isepci) zufolge ist der Lebensmittelpreis zwischen November 2023 und März 2024 in den Wohn- und Arbeitsvierteln des Ballungsraums Buenos Aires um 89,6 Prozent gestiegen. „Eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei kleinen Kindern brauchte im November vergangenen Jahres (dem Monat vor der Amtsübernahme durch Milei und Wirtschaftsminister Caputo) 183.000 Pesos, um Grundnahrungsmittel zu kaufen. Im März diesen Jahres benötigte sie 347.000 Pesos für die gleiche Menge an Lebensmittel. Das sind 89,68 Prozent mehr als vor dieser Regierung”, präzisiert der Bericht.

Die Ergebnisse wurden durch eine Erhebung der Preise von 57 Produkten des Grundnahrungsmittelkorbs (Canasta Básica de Alimentos, CBA) in lokalen Geschäften aus Stadtteilen in 20 Bezirken des Ballungsgebiets Buenos Aires ermittelt. Allein im März sind die Preise für Obst und Gemüse um 12,66 Prozent, für Vorratsartikel um 14,7 Prozent und für Fleisch um 6,31 Prozent gestiegen. Seitdem die aktuelle Regierung im Amt ist, stiegen die Preise für Obst und Gemüse um 90,35 Prozent, für Vorratsartikel um 101 Prozent und für Fleisch um 72,23 Prozent.

Auf die anhaltende Inflation, die den Zugang zum Grundrecht auf Nahrung erschwert, reagiert die Regierung mit mehr Gewalt. Während der Straßenaktion „Verdurazo” gingen die Stadtpolizei von Buenos Aires (unter dem Befehl von Jorge Macri) und die Bundespolizei erneut gegen einen Protest sozialer Organisationen vor, bei dem es um die Forderung nach Ernährungssicherheit ging. Auf dem digitalen Netzwerk X feierte Präsident Milei die Szenen der Gewalt, die sich auf der Avenida 9 de Julio abspielten.

Vor diesem Hintergrund fasst Acosta zusammen: „Ist die Ernährung schon seit Langem ein zentrales Problem, so wird es heute mit dieser Regierung noch deutlicher. Die Ungleichheit und die Probleme beim Zugang zu Nahrungsmitteln für mehr als die Hälfte der Bevölkerung nehmen noch weiter zu.”

Als vermeintliche Lösung schlägt die Regierung Lebensmittelimporte vor. Acosta hat Zweifel: „Mit jedem Lebensmittel, das wir importieren, importieren wir auch Arbeit aus anderen Ländern. Das ist eine komplette Wettbewerbsverzerrung, die vom eigenen Staat vorangetrieben wird.”

Darüber hinaus wurde mit der Auflösung des Nationalen Instituts für familiäre, kleinbäuerliche und indigene Landwirtschaft (Instituto Nacional de Agricultura Familiar, Campesina e Indígena, Inafci) die Entlassung derjenigen angekündigt, die Erzeugerfamilien im ganzen Land begleiten. „Anstatt das Institut zu schließen, hätte man es stärken müssen. Es ist die einzige staatliche Einrichtung und Maßnahme, die für den Sektor der argentinischen Kleinerzeuger und Kleinerzeugerinnen gedacht war”, sagt Acosta. Er fügt hinzu, dass die Schließung direkte Auswirkungen auf die Ernährungssouveränität und die Arbeit der Kleinerzeuger habe. Für ihn beweist diese Entscheidung, dass „die Landwirtschaft unter dem Aspekt von Exporten und Deviseneinnahmen betrachtet wird und kein Interesse daran besteht, dass die Bevölkerung Argentiniens genug auf dem Tisch hat.”

Zulma Molloja, Sprecherin der UTT, betont: „Nach den starken Unwettern Ende 2023 und März 2024, die alles zerstört haben, wurden die dollarisierten Werkstoffe unbezahlbar, und zusammen mit den Zöllen, der Öffnung für Lebensmittelimporte und der Geldabwertung ist es für uns sehr schwierig geworden, weiterhin zu produzieren. Die Zerschlagung von Schlüsselbereichen der familienbetriebenen Landwirtschaft wie Inafci zeigt uns, dass sich die Situation nur noch weiter verschlimmern wird.”

Die Landarbeit wird immer schwieriger

Im Dezember hatte ein Unwetter die landwirtschaftlichen Familienbetriebe aus dem Gartenbausektor von La Plata schwer getroffen, die Anbaugebiete überflutet und Ernteverluste verursacht. Zulma Molloja bezeichnet die Lage als „traurig und erbärmlich”, da sie bislang keinerlei Hilfen erhalten hätten, um die Situation abzumildern. Sie fügt hinzu, dass der Staat nach wie vor Schulden bei der Organisation UTT habe, weil die Lebensmittelpakete, die an die vorherige Verwaltung geliefert wurden, noch nicht bezahlt seien.

Obwohl sie ihre Produkte in Pesos abrechnen, sind die von den Familienbetrieben verwendeten Werkstoffe dollarisiert. Auch für diese Verbrauchsgüter sind die Preise in der letzten Zeit drastisch gestiegen. Molloja zählt auf, dass Nylon früher zwischen 30.000 und 60.000 Pesos kostete und heutzutage für 400.000 Pesos verkauft wird; der Preis für einen Sack Saatgut, der früher für 3.000 Pesos erworben werden konnte, ist mittlerweile auf 60.000 Pesos gestiegen. Auch die Betriebskosten haben sich erhöht: Die Pacht für das Land ist von 18.000 Pesos auf 120.000 Pesos, die Stromkosten sind von 60.000 auf 200.000 Pesos pro Monat gestiegen.

Acosta betont, dass auch der Dollar an Kaufkraft verloren habe, was sich auf die Einkäufe von Verbrauchsmitteln auswirke, deren Preise dollarisiert seien. „Nachdem du deine Produkte verkauft hast, kannst du die Werkstoffbestände nicht wieder auffüllen, um mit der nächsten Saison zu beginnen.” Diese Situation gefährdet die Produktionsstätten.

Vor diesem Hintergrund beginnen bäuerliche Familien, die Landwirtschaft aufzugeben und sich anderen Tätigkeiten zu widmen, zum Beispiel dem Bauwesen oder der Näherei. Molloja weist darauf hin, dass die Abwanderung in den letzten Monaten zugenommen habe. „Viele haben keine Kraft mehr und sich dazu entschieden, die Felder zu verlassen, weil sie die Pacht nicht mehr bezahlen konnten. Wenn du nicht zahlst, schickt der Besitzer dich fort. Dir bleibt keine andere Wahl, als in ein Gebiet abzuwandern, in dem es keine Straßen, Schulen oder Gesundheitszentren gibt. Viele von uns haben Kredite zum dreifachen Zinssatz aufgenommen, um die Pacht bezahlen zu können”, berichtet sie. Sie bedauert, dass die Forderung nach Zugang zu Land für diejenigen, die es landwirtschaftlich nutzen, noch immer nicht erfüllt werden.

Nahuel Levaggi, nationaler Koordinator der UTT, sagt:

„Wir sind verzweifelt zu beobachten, dass so viele Familien ihre Felder verlassen. Gleichzeitig wissen wir, dass wir nicht auf der Tagesordnung der Regierung oder der vorherrschenden Leitmedien stehen. Daher haben wir uns entschieden, einen solidarischen Verdurazo zu veranstalten, um unsere Probleme sichtbar zu machen, öffentliche politische Maßnahmen für unseren Sektor zu fordern und die geschuldete Bezahlung für die Lebensmittelpakete zu verlangen.”

Im Gespräch mit Radio República prognostiziert er:

„Es gibt bäuerliche Familien, die gerade auf der Suche nach anderen Arbeitsmöglichkeiten sind, und das bedeutet weniger Hektar für die Nahrungsmittelproduktion. Die ganze Situation rund um die Entlassungen und den Anpassungsplan der Regierung erzeugt eine Abwärtsspirale, die den Binnenmarkt schrumpfen lässt und in einem Zustand wie im Jahr 2001 enden wird.”

Mit Organisierung und Solidarität gegen den Anpassungsplan

Mais, Mangold, Spinat, Koriander, Basilikum, Tomaten: alles zum Greifen nah auf dem Platz vor dem Kongress. Die Ortswahl für den „Verdurazo” war kein Zufall: „Es ist ein Notstandsdekret (Decreto de Necesidad y Urgencia, DNU) in Arbeit, das der Regierung die Werkzeuge an die Hand gibt, um die Anpassungsmaßnahmen noch weiter zu intensivieren. Der Kongress ist somit der Ort, an dem derzeit die politische Agenda durchgesetzt wird, und wir wollen, dass unsere Position gehört wird und Widerhall findet”, betont Acosta. Er fügt hinzu:

„Wir Organisationen antworten mit dem Kampf auf den Straßen, mit verstärkter Organisierung. Der Verdurazo ist ein weiterer Ausdruck dieses Kampfes, er stellt das Essen in den Mittelpunkt und ist eine Aktion in Solidarität mit anderen.”

Diejenigen, die ohne offizielle Unterstützung und unter prekären Lebensbedingungen Landwirtschaft betreiben, zögern vor dem Hintergrund zunehmender Armut nicht, Lebensmittel zu verteilen. „Da kann diese ‚Jeder nur für sich allein’-Regierung mal sehen. Wir haben gerade erst eine Überschwemmung überstanden, und das Wenige, das wir retten konnten, reicht uns zum Essen. Aber dieser Rentner, diese Familie oder diese Kinder kommen nicht über die Runden. Auch wenn wir selbst eine harte Zeit durchstehen, sind wir es gewohnt, Essen miteinander zu teilen”, sagt Molloja.

Einer der denkwürdigsten Momente der Regierung von Mauricio Macri war die Repression gegen den von der UTT organisierten „Verdurazo” im Februar 2019. Damals wie heute wurde entschieden, selbst produzierte Lebensmittel zu verschenken. „Die Bevölkerung organisiert sich mit Solidarität gegen den Hunger. So beginnen wir, den Weg für öffentliche politische Maßnahmen und Vorschläge wiederherzustellen. So setzen wir die Notwendigkeit auf die politische Agenda, den heimischen Markt zu stärken, wobei die kleinen und mittleren Produzenten eine führende Rolle spielen”, so Acosta abschließend.

Übersetzung: Miou Sascha Hilgenböcker, Amerika21

Titelbild: Foto: Rodrigo Ruiz / Revista Cítrica


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