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Titel: Mehr als ein Sorgentelefon

Datum: 20. Mai 2024 um 10:00 Uhr
Rubrik: Generationenkonflikt, Innen- und Gesellschaftspolitik, Rezensionen, Wertedebatte
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Elke Schillings Berufung ist das aufrichtige, unermüdliche Engagement für die Generation, deren Mitglieder in unserer Gesellschaft auch mit „die Alten“ oder etwas stilvoller mit „die Senioren“ betitelt werden. Die ehemalige Politikerin (Staatssekretärin in Sachsen-Anhalt) ist Gründerin von „Silbernetz“, einer ehrenamtlichen Organisation, die ein beinah permanent erreichbares Sorgentelefon am Laufen hält und verschiedene Angebote für ältere, oft auch einsame Menschen parat hat. Ein solches Telefon ist wichtig, es gibt viele einsame Mitbürger, stellt Elke Schilling fest. In ihrem Buch „Die meisten wollen einfach nur reden – Strategien gegen Einsamkeit im Alter“ (Westend Verlag, 205 Seiten) berichtet Elke Schilling vom langen, steinigen Weg, ein solches Telefon in Deutschland für unsere Alten und im Grunde für uns alle freizuschalten. Eine Buchbesprechung von Frank Blenz.

Eine wichtige Telefonnummer

Zunächst, die wichtige Telefonnummer zum Buch „Die meisten wollen einfach nur reden – Strategien gegen Einsamkeit im Alter“ lautet: 0800 4 70 80 90.
Der Kontakt via Internet zu Silbernetz heißt: https://silbernetz.org

Kein Kompliment für das politische Deutschland – aber Lob und Umarmung für die, die sich dennoch oder gerade deswegen engagieren

Die Autorin Elke Schilling beschäftigt sich in ihrem Buch „Die meisten wollen einfach nur reden – Strategien gegen Einsamkeit im Alter“ in 17 Kapiteln intensiv mit dem Alleinsein, mit der damit womöglich öfter einhergehenden Einsamkeit, mit gesellschaftlichen Ursachen des gängigen Abschiebens und Vergessens der „Alten“ und den darauffolgenden, teils sogar tragischen Auswirkungen. Ihr Werk ist eine emotionale Betrachtung der Menschen, für die sie einsteht, eine Sammlung von O-Tönen Betroffener, die nahegehen, die fesseln und staunen lassen, und eine Geschichte darüber, wie aufreibend es für sie und ihre Mitstreiter gewesen sein muss, ein Sorgentelefon zu installieren.

Schilling analysiert unsere Gesellschaft, unsere gehetzte, gierige, kalte Welt, in der die alten Menschen nach und nach zurückbleiben, überaus faktenreich auf 205 Seiten, die so dicht beschrieben sind, als hätten eigentlich 500 Seiten voller Input in das Buch passen sollen. Die Autorin weiß über die verschiedenen Lebenslagen der Alten, sie hinterfragt stets sachlich und nimmermüde unsere Gesellschaft der Leistung, des Funktionierens, des Erfolgs, der Ungerechtigkeiten, verschweigt Tabus (wie den Suizid) nicht, kritisiert und unterbreitet zugleich zahlreiche Vorschläge, um die vielen, gar systemisch begründeten Missstände hierzulande zu beseitigen, mindestens aber zu mildern. In manchen ihrer Sätze wird offenbar, wie sich der Staat, unser institutioneller Überbau, schlicht unser materiell und finanziell reiches Deutschland aus der Verantwortung stiehlt, indem Soziales elegant an die Basis des Landes ausgegliedert wird. Aus Pflichtleistungen werden die des politischen Willens, bequemerweise die des profitlosen Engagements. Ein Leichtes ist es dann halt und oft, so von den Podien bei vielen gesellschaftlichen Terminen zu hören, wo Politiker gekonnt loben, wie unersetzlich und wichtig doch das Ehrenamt sei. Derlei Lob kostet ja nix.

An einem Beispiel – die Leistungserbringung in der häuslichen Pflege – zeigt Schilling schonungslos auf, wie im professionellen Dienstleistungsbereich seitens der Verantwortlichen Mittel für Betroffene geschickt zurückgehalten werden: Bei den Pflegekassen läge viel Geld für ambulante Pflege bereit, das nicht abgerufen würde. Eigentlich – doch wird das geradezu verschleiert. Und bei ebenso vorkommenden Ablehnungen von Leistungen und Einstufungen (Teil des Verschleierns) geschieht dies durch eine seltsame, routinemäßige Mauertaktik. So schreibt sie:

Oft genug wird Menschen, die Unterstützung brauchen, weil ihre Lebensqualität […] eingeschränkt ist, ein mühsamer und langwieriger Widerspruchsvorgang aufgenötigt. Absicht?

Elke Schilling streitet, sie unterstützt und sie kämpft trotzdem, auch wenn sie die etablierte Politik nicht ausdrücklich, nicht nachhaltig genug hinter sich weiß. Sie kämpft nicht allein, verfügt Elke Schilling mit ihrem „Silbernetz“ im wahrsten Wortsinn über ein Netz mit doppeltem Boden und kann auf die große, ehrliche Kraft der Menschen bauen, die sich geduldig und hingebungsvoll für das wichtige Projekt und vor allem für die Adressaten, die alten Menschen, einsetzen, denen sie zuhören, denen sie sich zuwenden, ihnen helfen, einfach mal da sind. Zu zweit ist man weniger allein – und das sogar ehrenamtlich, Ironie aus. Die herzensgute Frau und ihre Mitstreiter wecken wärmende Hoffnung in der Kälte des Pragmatismus. Schilling ruft argumentreich zu mehr Zusammenarbeit, Gemeinsamkeit, Solidarität und Zuwendung quer durch die Gesellschaft auf. Das täte uns allen gut.

Ein Projekt aus Großbritannien nach Deutschland mitgebracht: Silbernetz

Der Leser erfährt von ihren Begegnungen in Großbritannien – dort, wo ebenso viele Alte einsam sind und Hilfe brauchen. Auf der Insel vor Europa gab und gibt es ein Sorgentelefon. Dieses Projekt schnappt sich Elke Schilling und nimmt es mit in die Heimat. Nach langen – für Deutschland irgendwie typisch langen – 42 Monaten ist das Telefon endlich freigeschaltet.

Dieses wundervolle Kommunikationsmittel für Nöte von Menschen ist das finale Ergebnis eines unnötigerweise unbequemen Weges, der mit einem einschneidenden Erlebnis, das Elke Schilling tief traf, begann: der einsame Tod eines Nachbarn, der nie Besuch hatte, wie sie beobachtete. Ihre Hilfe hatte er stets abgelehnt, erzählt sie. Als der Handzettel eines Pizzadienstes wochenlang am Türknauf seiner Wohnungstür hing, alarmierte sie schließlich den Vermieter …

Schon während ihrer ehrenamtlichen Arbeit als Seniorenvertreterin hatte sie sich oft gefragt: Wie verhindern wir einsames Sterben und tragen dazu bei, dass einsame oder isoliert lebende Senioren über neue Kontakte zurück ins Leben finden? Wie verhindern wir, dass Menschen unsichtbar werden?

„Ich bin einsam“

„Ich bin einsam“ – den traurigen Gedanken haben bestimmt schon viele Menschen gehabt, die das Alleinsein nicht als Gewinn sehen. Ernüchtert, desillusioniert, traurig gestehen sie sich es im Zustand von Hilflosigkeit ein und sagen den kleinen Satz vielleicht auch voller Wut formuliert.

Die Stunden des Tages wollen einfach nicht verrinnen, das Starren an die Decke gehört zum Alltagsritual, der Blick aus dem Fenster auch, immer und immer wieder den Flur entlanglaufen, in Bewegung bleiben, wenigstens. Bald ist wieder ein Tag „‘rum“, geschafft. Nach einem womöglich ausgefüllten, frohen, ereignisreichen Leben trifft einen dann diese plötzliche Ruhe, der stille Ruhestand, das ersehnte Rentendasein erweist sich wie ein Schlag, statt dass es einen freut.

Bei den Episoden von Elke Schilling denke ich an eine Nachbarin, die viele Jahre zeitig aufgestanden und zur Arbeit gegangen ist. Gebraucht, stolz, immer mit einem Lächeln, wenn wir uns grüßten. Sie wirkte so, wie es gern von Politikern gesagt wird: diese hart arbeitende Bevölkerung. Die alte Dame sorgte viele Jahre für die Sauberkeit in einer Firma, sie war anerkannt und beliebt. Dann kam der Tag des Rentenbeginns, ihr Abschied, Blumen, Wünsche der Kollegen, fast eine Familie waren sie. Daheim angekommen, klappte die Tür zu, ihre Wohnung war mit einem Mal viel leiser als zuvor. Sie berichtete mir, dass sie jetzt viel, viel Zeit habe und schon mal ihre ganzen Schränke, Kommoden, die Küche, den Keller aufgeräumt und „ausgemistet“ habe. Nebenbei: Ihre Wohnung und ihr Keller hätten das gar nicht gebraucht, so akkurat sind die.

Strategien

Was tun? Autorin Elke Schilling zeigt aufrüttelnd, was vielleicht gegen das Alleinsein hilft und was für ein gesundes Altern machbar und wichtig ist. Für den Leser bietet es Anregung, ein Anstupsen, sich offensiv Gedanken zu machen. Beispiele? Wir alle sollten anders über das Altwerden denken, die Sichtweise (von wegen altes Eisen) ändern, vielseitige Gemeinschaften fördern, die Fähigkeiten älterer Menschen bewusst und gezielt fördern und nutzen, altersgerechte Gesundheitsversorgung und würdevolle Langzeitpflege installieren – und zwar aus vollem Herzen und nicht nach angeblicher Kassenlage und/oder Renditeaussicht.

Schilling sagt, dass es längst an der Zeit sei, dass Deutschland auf allen Gebieten dafür Sorge trägt, Lebensqualität zu den Lebensjahren hinzuzufügen und allen Menschen die Chance zu geben, ein sinnvolles Leben zu führen, das unabhängig von ihrem Lebensalter (und von der Geldbörse – siehe Altersarmut) ist. Am Stichwort Bürgerbeteiligung macht Schilling fest, wie zum Beispiel in Kommunen Senioren mitwirken (können) und das auch ausdrücklich dürfen sollen. „Lassen Sie sich nicht unter der Rubrik „Altersstarrsinn“ in die Nische jagen, Sie haben ein Recht auf Hartnäckigkeit.“

Ein weiterer Satz, der zu möglichen Strategien der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (im sozialen, kulturellen, sportlichen Bereich usw.) passt, darf nicht fehlen: „Eine der vielen Möglichkeiten, sich selbst zu helfen, ist, anderen zu helfen.“

Mir fällt beim Lesen dann selbst ein: Was tun?

Die Familie stärken, das alltägliche Tempo herausnehmen – bei allen Teilnehmern, eine Umkehr des Pflegewahns, Kostensenkungen für Senioren innerhalb eines freien, öffentlichen, gesellschaftlichen Lebens. Was auch zu ändern sei, da pflichte ich Schilling bei, ist, die latente Rücksichtslosigkeit gegenüber den Menschen zurückzufahren, die eingestehen, dass sie die Ellenbogen in unserer Ellenbogengesellschaft nicht ausfahren können. Wenn sie es gestehen, kann das passieren (ein Zitat im Buch):

„Ich werde nie wieder erzählen, wie einsam ich bin. Danach sind entfernte Kontakte, Nachbarn vorwurfsvoll auf mich zugekommen und haben mir erklärt, dass ich sie ja nur hätte ansprechen müssen. Kurz, ich wäre ja selbst schuld an meiner Einsamkeit …“

Einsamkeitsphasen und andere folgenreiche Seltsamkeiten

Ja, es gibt nicht nur die Einsamkeit der Alten (siehe „Einsamkeitsphasen“ in den Generationen). Einsamkeit ist Teil einer schleichenden Verwahrlosung unserer Gesellschaft, geprägt von Geringschätzung, die auf Wertschätzung folgt, die es nur dann gibt, so lang man funktioniert und Ergebnisse liefert.

Leistungsgesellschaft

Ja, die Alten, unsere (!) Alten, sie haben diese Gesellschaft aufgebaut, mit allem Drum und Dran. Die feste Hierarchie, der verankerte und geradezu einbetonierte Leistungsgedanke drücken auf unser Wohlbefinden. Die Konsequenzen der Kehrseite des Traums von Wachstum und Wohlstand und Karriere treffen kalt, wenn sie eintreten. Wer was leistet, der ist im Boot – wer das nicht mehr packt, ist draußen. Schilling sagt es nüchtern: Jung ist gut, alt ist schlecht. Es sei aber auch erwähnt: Die jetzigen älteren bis alten Generationen haben (und das meiner Beobachtung nach) nicht genug getan, eine in sich befriedete, rücksichtsvollere Gesellschaft aufzubauen. Sie schufen fleißig und selbstbewusst die feste Leistung-Macht-Eigentum-Pyramide, das Oben und Unten, Reich und Arm, Sieger und Verlierer. Doch dann? Wer alt ist und auch noch allein, rutscht im Ranking dieser Logiken nach unten, Erbauer werden zu Verlierern …

Silbernetz unterstützen!

Zum Buch von Elke Schilling lohnt es sich, die Internetseite von Silbernetz anzuklicken. Dort heißt es:

„Die Anrufe auf unserer Hotline mehren sich, ebenso wie die Zahl unserer engagierten Ehrenamtlichen. Wir werden mehr gebraucht denn je und sind stolz darauf, ein so wirkungsvolles Angebot bereitstellen zu können.“

Und weil eine solche Institution – das Sorgentelefon – eben aus dem Katalog staatlicher Pflichtleistungen ausgelagert ist, sind die Silbernetz-Leute auf andere Formen von Unterstützung angewiesen. Sie schreiben:

Doch dieser Erfolg bringt auch gestiegene Kosten mit sich, die durch unsere aktuellen Spenden nicht mehr gedeckt werden können. Jetzt sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen, um weiterhin bestehen zu können. Gemeinsam für ältere Menschen in Not. Jede Spende zählt!

Informationen darüber, warum das Silbertelefon gebraucht wird und Spenden wichtig sind

Ihrem Silbertelefon haben die Betreiber ein schönes Motto gegeben: „Einfach mal reden bei Bedarf“. Interessenten, Betroffene, Mitmenschen ab 60 Jahren können unter der Rufnummer 0800 4 70 80 90 anrufen, die Silbernetz-Leute haben ein offenes Ohr. Wann? Täglich von 8 bis 22 Uhr. Warum? Um anzurufen, braucht es keine Krise und kein Problem – der Wunsch zu reden genügt. Angst? Das Gespräch ist anonym, vertraulich und kostenfrei. Die Mitwirkenden? Die Silbernetz-Leute am Silbertelefon hören zu, sie nehmen Anteil, sie ermutigen und können erste Informationen geben.

Das Buch sollte Pflichtlektüre und Ermutigung sein

Einsamkeit, allein sein, hinterblieben. Viele alte Menschen sind allein. Elke Schilling packt das an:

„Es geht vielmehr darum, ein gesellschaftliches Problem mit schwerwiegenden sozialen, gesundheitlichen und auch wirtschaftlichen Folgen zu beleuchten und zu hinterfragen.“

Die Autorin Elke Schilling findet, dass nur, wenn wir über unsere Gesellschaft und ihren Zustand, auch die Situation der alten Menschen reden, Ursachen sichtbar gemacht werden und Lösungsansätze und Lösungen zu finden sind. Also: Reden wir miteinander. Lassen wir uns nicht allein.


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