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Titel: Denkfehler 36: “Der Staat ist zu fett geworden.”
Datum: 25. April 2006 um 14:37 Uhr
Rubrik: Finanzpolitik, Veröffentlichungen der Herausgeber
Verantwortlich: Albrecht Müller
Auszug aus Albrecht Müller, „Die Reformlüge – 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren“.
Variationen zum Thema:
Es ist heute üblich geworden, die außerordentliche Höhe der Staatsquote zu beklagen, also jenen Teil des geschaffenen Volkseinkommens, der vom Staat für seine Zwecke beansprucht wird. Bei uns steigt die Stimmung gegen den Staat. Sie wächst in Kreisen, die man, wie das konservative Bürgertum, früher einmal zu den Stützen des Staates zählte. Viele von ihnen wechseln mit wehenden Fahnen – und manche mit der Staatspension im Rücken – zu den Staatsfeinden über. Im Gepäck haben sie vor allem Denkfehler, Vorurteile und Fehlinformationen. Schon im ersten Satz dieses Kapitels stecken eine Reihe von solchen Irrtümern und Vorurteilen. »Außerordentliche Höhe«? »Für seine Zwecke« beansprucht?
Die Höhe der Staatsquote im internationalen Vergleich
Mit einer Staatsquote von 49,4 Prozent im Jahr 2003 liegt Deutschland trotz der hohen Vereinigungskosten nicht an der Spitze der vergleichbaren Länder, sondern leicht über dem Niveau des Durchschnitts der Europäischen Union mit 48,4 Prozent (siehe Tabelle 28). Weit über der Staatsquote Deutschlands liegen Schweden mit 59,0 Prozent, Dänemark mit 56,6 Prozent, Frankreich mit 54,4 Prozent und Österreich mit 51,6 Prozent.
»Eine Staatsquote über 50 Prozent ist wachstums- und beschäftigungsfeindlich.« Prof. Wolfgang Wiegard, Vorsitzender des Sachverständigenrats
Tabelle 28: Entwicklung der Staatsquote in verschiedenen Ländern (Gesamtausgaben der öffentlichen Körperschaften und der Sozialversicherungen in Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts)
1985 | 1990 | 1995 | 2000 | 2001 | 2002 | 2003 | |
---|---|---|---|---|---|---|---|
Österreich | 54,7 | 53,1 | 57,3 | 52,4 | 51,8 | 51,3 | 51,6 |
Dänemark | 57,3 | 57,0 | 60,3 | 54,7 | 55,3 | 55,5 | 56,6 |
Frankreich | 53,3 | 50,7 | 55,2 | 52,5 | 52,5 | 53,4 | 54,4 |
Deutschland | 46,3 | 44,5 | 49,4 | 45,7 | 48,3 | 48,5 | 49,4 |
Italien | 50,9 | 54,3 | 53,4 | 46,8 | 48,5 | 47,7 | 48,5 |
Niederlande | 57,3 | 54,8 | 51,4 | 45,3 | 46,6 | 47,5 | 48,6 |
Spanien | 43,1 | 43,4 | 45,0 | 39,8 | 39,4 | 39,7 | 39,3 |
Schweden | 63,7 | 59,4 | 67,6 | 57,4 | 57,1 | 58,4 | 59,0 |
Großbritannien | 45,9 | 42,2 | 44,6 | 37,0 | 40,3 | 40,8 | 42,8 |
USA | 36,5 | 36,5 | 36,4 | 33,6 | 34,7 | 35,5 | 35,9 |
EU-15 | 49,6 | 48,3 | 50,9 | 45,9 | 47,3 | 47,5 | 48,4 |
Quelle: OECD (Hrsg.): Economic Outlook 2003, Paris 2003, S. 220. Für die Werte ab 2000: OECD (Hrsg.): Main Economic Indicators, Paris, Mai 2004, Annex Table 26.
Schweden, Dänemark und Österreich sind Länder, von denen bei uns behauptet wird, sie seien mit der Globalisierung und den weltweiten Konjunktureinbrüchen ganz gut und sogar, wie Schweden, vorbildlich fertig geworden. Eine hohe Staatsquote ist dafür offenbar kein Hindernis.
Wer die Höhe der deutschen Staatsquote richtig bewerten will, muss auch hier die Rolle der schwächelnden Konjunktur mit einbeziehen: Wenn die Kapazitäten der Volkswirtschaft nicht ausgelastet sind, das Wachstum stagniert und die Arbeitslosigkeit hoch ist, dann müssen die Zuschüsse des Staates für die sozialen Sicherungssysteme steigen, das heißt, die Staatsquote erhöht sich. Das Jahr 1996 macht dies besonders deutlich. Damals überschritt die Staatsquote erstmals die 50-Prozent-Marke (50,3 Prozent). Die Kapazitätsauslastung war damals besonders niedrig und die Konjunktur schwach.
Zum »Zwecke des Staates«?
Ist es richtig zu sagen, ein großer Teil des gemeinsam geschaffenen Sozialprodukts werde vom Staat »für seine Zwecke« beansprucht? Das ist ein dicker Irrtum, denke ich. Sind es wirklich Ausgaben zum »Zwecke des Staates«,
Nur wenn der Staat weniger ausgebe, »eröffnen sich neue Aktionsfelder für private Unternehmen«. Rolf Peffekoven, Direktor des Instituts für Finanzwissenschaften der Universität Mainz laut Handelsblatt, 23.7.2002
An diesen Beispielen sieht man, dass die Eingangsformulierung »vom Staat für seine Zwecke« ziemlich unsinnig ist. Die meisten Leistungen, die Bund, Länder, Gemeinden und andere öffentliche Einrichtungen erbringen, brauchen wir genauso wie Brot, Gemüse, Bier, das Auto, Computer oder Kleider. Jedenfalls steckt hinter der Staatsquote kein Klumpen Geld, der irgendwo im Nichts versenkt wird. Genau diese Vorstellung wird aber von vielen genährt, die heute ihre Stimme gegen die Staatsquote erheben.
Es gab einmal vor dreißig bis vierzig Jahren in Frankreich einen Herrn Pierre Poujade und in Dänemark einen Herrn Mogens Glistrup. Beide polemisierten in demagogischer und populistischer Weise gegen Staat, Bürokratie und öffentliche Leistungen, beide waren die Begründer beziehungsweise Wegbereiter rechtsextremer Parteien. Die Texte von Arnulf Baring und Oswald Metzger, von Hans-Olaf Henkel, Meinhard Miegel und vielen anderen erinnern an die Äußerungen dieser beiden. Damals hat die demokratische Welt diese Demagogen gemieden. Heute werden ihre Nachahmer hofiert.
Die Veränderung des Zeitgeists – korrekter müsste ich sagen: die mit Propaganda gesteuerte Veränderung des Zeitgeists – zeigt sich symbolhaft in der Veränderung bei der SPD. Sie hat früher einmal Flugblätter verteilt, auf denen zu lesen stand: »Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten.« Und sie hat ihre Programmatik und praktische Politik einigermaßen an dieser Erkenntnis orientiert. Aber das ist lange her. Heute, wie etwa im Wahlkampf 2002, wird der gleiche Slogan zwar noch benutzt, aber die praktische Politik, beispielsweise in Form der Agenda 2010, ist meilenweit davon entfernt.
Teurer schlanker Staat
Welch hohen Grad an Demagogie die Kampagne für den »schlanken« Staat und gegen den »fetten« Staat enthält, wird klar, wenn man sich Leistungen anschaut, die sowohl staatlich als auch privat bereitgestellt werden können:
Bei einer Staatsquote von knapp 50 Prozent beansprucht der Staat rund 20 Prozentpunkte für Staatsverbrauch und öffentliche Investitionen. 30 Prozentpunkte sind nur durchlaufende Posten – das kann sich jede/r am Beispiel Kindergeld gut klarmachen. Das wird ja nicht vom Staat »verspeist«. Er nimmt die dafür nötigen Steuern ein und zahlt den Betrag an die Familien mit Kindern aus. Statistisch wird er dabei »fetter« – um in der Sprache der modernen deutschen Poujadisten zu bleiben.
Die Fixierung auf die Staatsquote hat mit einer rationalen Debatte und auch mit einer rationalen Entscheidungsfindung zu Fragen unserer gesellschaftlichen und staatlichen Organisation wenig zu tun.
Die Entwicklung der Staatsquote im Zeitablauf
Wenn man verstehen will und verstanden hat, aus welchen Gründen die Staatsquote steigt oder sinkt (siehe Abbildung 15),80 kann man auch sachlicher mit dem Gesamtbild der Entwicklung umgehen. Dann vermag man auch die Polemik besser einzuordnen, an die wir uns in den letzten Jahren beim Umgang mit staatlicher Tätigkeit haben gewöhnen müssen.
Von neoliberaler Seite wird zu gerne gegen den Anstieg des Staatsanteils polemisiert. Schauen wir uns die Zahlen an:
Abbildung 15: Staatsquote in Deutschland (Ausgaben des Staates in Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts)
Quelle: Statistisches Bundesamt
Fazit: Die Entwicklung der Staatsquote belegt die unseriöse Arbeitsweise jener, die so auffallend massiv gegen Staat und öffentliche Leistungen mobil machen.
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