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Titel: Kalkulierte Katastrophe. Stuttgart 21 war schon bei Vertragsabschluss ein Milliardengrab
Datum: 14. Mai 2024 um 10:00 Uhr
Rubrik: Stuttgart 21, Verkehrspolitik
Verantwortlich: Redaktion
Richterspruch aus Stuttgart: Die Deutsche Bahn muss die sogenannten Mehrausgaben für S21 „alleine“ tragen, sprich zu Lasten von Steuerzahlern und Fahrgästen. Dasselbe gilt für die Kosten des Rechtsstreits, der sich noch Jahre in die Länge ziehen könnte. Dabei zeichnete sich das Finanzdesaster schon vor 16 Jahren ab und ein Chefplaner warnte: „Wir haben keine Fallschirme dabei.“ Die Macher und Profiteure landeten trotzdem weich, und noch kein Einziger musste sich verantworten. Von Ralf Wurzbacher.
Da freut sich der Steuerzahler! Die Deutsche Bahn (DB) muss die Mehrkosten von Stuttgart 21 (S21) allein schultern. Das entschied am Dienstag der Vorwoche das Stuttgarter Verwaltungsgericht (VG) nach einem jahrelangen Rechtsstreit. Hätte das Urteil Bestand, was längst nicht sicher ist, wären die weiteren Projektpartner – das Land Baden-Württemberg, die Stadt Stuttgart, der Verband Region Stuttgart und der Flughafen Stuttgart – fein raus. Zu blöd: Die Zeche muss am Ende aber doch die Allgemeinheit zahlen. Schließlich gehört die DB dem deutschen Staat, also uns allen. Und weil der Bund das S21-Milliardengrab auf Gedeih und Verderb zum „Erfolg“ führen will, werden die Unsummen letztlich an ihm hängenbleiben, also an uns. Da ärgert sich der Steuerzahler!
Worum ging es vor Gericht? Die Bahn sieht es nicht ein, die mindestens sieben Milliarden Euro, die die Unternehmung mehr verschlingen wird als angeblich ursprünglich geplant, aus eigener Kasse zu begleichen. Der Finanzierungsvertrag aus dem Jahr 2009 bezifferte die Lasten mit 3,1 Milliarden Euro und hielt fest, wie mögliche Mehrausgaben bis zu einem Betrag von 4,5 Milliarden Euro auf die fünf Parteien zu verteilen wären. Für den Fall weiterer Steigerungen wurde keine konkrete Regelung getroffen. Nach diversen Kostenexplosionen rief die DB zuletzt im Dezember die Hausnummer 11,5 Milliarden Euro auf. Zentraler Streitpunkt ist eine im Kontrakt eingebaute sogenannte Sprechklausel, die so viel oder wenig besagt wie: Kommt es noch dicker, muss darüber geredet werden. Daraus leitet die Bahn eine „gemeinsame Finanzierungsverantwortung“ ab. Die Mitbeteiligten stellen sich auf den Standpunkt, man habe sich seinerzeit auf Festbeträge verständigt. Alles, was darüber hinausgeht, müsse die DB als offizielle Bauherrin zuschießen.
Acht Jahre Rechtsstreit …
Die fragliche Klage wurde seit rund einem Jahr verhandelt, war aber bereits 2016 durch den Staatskonzern erhoben worden. Allein in diesen acht Jahren hat sich die Kalkulation von 6,5 Milliarden Euro auf besagte fast zwölf Milliarden Euro aufgebläht. Das hat System bei S21: In puncto Geld läuft alles rasend aus dem Ruder, in Sachen Umsetzung geht nichts voran. Auch der nach etlichen Verschiebungen zuletzt gehandelte Eröffnungstermin – Dezember 2025 – wackelt bedenklich. Gemunkelt wird mittlerweile über einen Start im Jahr 2026, wahrscheinlich wird es noch später. Und mit jeder weiteren Verzögerung wird alles noch teurer, was Banken und Bauindustrielle freut. Ob das alles Zufall ist?
„Nein“, meint der Sprecher beim Bündnis „Bahn für alle“, Carl Waßmuth. „Die jahrelange Unklarheit war beabsichtigt, das hat Befürwortern und Profiteuren geholfen, das zerstörerische Großprojekt so lange weiterzuführen“, sagte er den NachDenkSeiten. „Stadt, Land und die Bundesregierung konnten behaupten, für die Mehrkosten keine Verantwortung zu tragen, dabei hätte jeder der drei auch schon vor dem Urteil aus dem Projekt aussteigen und damit S21 beenden können.“ Jetzt müsse Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) erklären, „warum er mit mindestens sieben Milliarden Euro einen Kapazitätsrückbau betreiben möchte, während überall in Deutschland Projekte zum Ausbau der Schiene auf eine Finanzierungszusage warten“.
… und kein Ende in Sicht
Die VG-Richter hatten zu bewerten, ob sich für die Beklagten aus den Verträgen eine Verpflichtung zur Kostenbeteiligung ergibt. Die von mehreren DB-Gesellschaften vorgebrachten Klagen seien teils unzulässig und teils zulässig, aber unbegründet, befand der Vorsitzende Richter Wolfgang Kern. „Aus dem Sinn und Zweck der Sprechklausel bzw. des Finanzierungsvertrages ergibt sich keine Verpflichtung der Beklagten zu einer weiteren finanziellen Beteiligung“, heißt in der Urteilsbegründung. Allerdings sehe der Vertrag „an anderer Stelle ausdrücklich Verhandlungen (und nicht nur die Aufnahme von Gesprächen)“ vor. Das mutet wie Wortklauberei an. Über eine Kostenübernahme zu „sprechen“ oder darüber zu „verhandeln“, läuft schlussendlich auf das Gleiche hinaus.
Vielleicht wird genau das die Bahn bestärken, die nächsthöhere Instanz anzurufen. Die Klägerinnen können innerhalb eines Monats einen Antrag auf Zulassung der Berufung zum Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg stellen. Die DB werde die schriftlichen Urteilsgründe „sorgfältig prüfen und danach entscheiden, ob sie gegen das erstinstanzliche Urteil Rechtsmittel einlegt“, teilte das Unternehmen mit. Man sei „weiterhin der Auffassung, dass sich die Projektpartner an der Finanzierung der Mehrkosten im Vorhaben Stuttgart 21 beteiligen müssen“. Das erscheint gar nicht mal blauäugig, denn schon der Volksmund weiß: Mitgefangen, mitgehangen!
Kostenexplosionen vorgetäuscht
Das gilt im Speziellen für Mitwisser. Wie die NachDenkSeiten im Beitrag „1000 und ein Tunnel“ vor fünf Monaten berichteten, war den Verantwortlichen mindestens seit 2013 bewusst, welche finanziellen Dimensionen S21 annehmen wird. Entsprechende Hochrechnungen bewegten sich schon damals „zwischen 10,7 und 11,3 Milliarden Euro“, wie die Stuttgarter Zeitung vor elf Jahren schrieb und in einem jüngeren Beitrag (hinter Bezahlschranke) bestätigte. Doch die brisanten Dokumente „blieben unter Verschluss (…), und der Staatskonzern sowie die damalige Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) verhinderten den Abbruch des damals schon völlig aus dem Ruder gelaufenen Tunnelprojekts am Neckar“.
Daraus folgt: Die Kostenschübe, die das Projekt seither hinlegte, waren bloß vorgetäuscht und das vorläufige Maximum schon vor über einem Jahrzehnt eingepreist. Man kann sogar noch weiter zurückgehen. Bereits im November 2008 prognostizierte der Bundesrechnungshof (noch vor Unterzeichnung des Finanzierungsvertrags) einen über die definierte Sollbruchstelle von 4,5 Milliarden Euro hinausgehenden Aufwuchs um zwei Milliarden Euro. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangten zwei Jahre später das Bundesumweltamt und ein von der Grünen-Partei beauftragtes Ingenieurbüro. Wer heute so tut, als wäre die Katastrophe nicht absehbar gewesen, macht sich der vorsätzlichen Volksverdummung schuldig. Das betrifft alle Beteiligten, nicht minder die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg, die die verfolgte Unschuld mimen, aber zu jeder Gelegenheit auf den Weiterbau gedrängt haben.
Grün macht’s möglich
Deshalb müssten auch alle, die „wissentlich und willentlich“ mitgewirkt hätten, „gemeinsam für den entstandenen finanziellen Schaden einstehen“, meint Dieter Reicherter, Sprecher beim „Aktionsbündnis gegen S21“. Gemeinsame Verantwortung bestehe obendrein „für den kompletten Kontrollverlust über das Projekt“. Statt eines krisenfesten Konfliktlösungsmechanismus habe man mittels einer „diffusen Sprechklausel“ ein „jahrelanges Schwarze-Peter-Spiel eröffnet, derweil man ungeniert weiterbauen konnte“. Zusammen habe man zudem einen S21-Lenkungskreis etabliert, der allerdings „nichts lenkt, sondern offensichtlich lediglich ein Abnickgremium darstellt“, so Reicherter. Selbst VG-Richter Kern habe festgestellt, dass das Gremium „leichtfertig ohne nähere Prüfung einfach die Mittel und damit den Weiterbau freigegeben hatte“.
Der Journalist und Buchautor Arno Luik lässt insbesondere an den Grünen kein gutes Haar. So seien kurz nach der Regierungsübernahme durch Winfried Kretschmann und der S21-Volksabstimmung im Ländle plötzlich Kosten von über sechs Milliarden Euro aufgerufen worden, bemerkte er gegenüber den NachDenkSeiten. „Nach den Vorgaben des Plebiszits hätte er das Projekt damit umgehend stoppen müssen, dies tat er aber nicht“, und weiter: „Ohne die Grünen an der Macht in Stuttgart gäbe es kein S21. Sie sind mitverantwortlich für den Schlamassel und das finanzielle Desaster.“ Luik verwies auf eine interne „Risikoanalyse“, die ihm im Frühjahr 2011 zugespielt wurde. „Das war ein Dokument des Scheiterns, ein Aufschrei, ein Hilferuf des Chefplaners von S21 Hany Azar. Tenor: Leute, wir haben das Ding nicht im Griff! Uns laufen die Kosten davon! Wir schaffen das nicht!“ Rückblickend sagt Luik: „Alle in Berlin und Stuttgart wussten, was sie anrichten – nicht wenige schon vor der sogenannten Volksabstimmung.“
Unsummen für weniger Leistung
Luik ist einer der profiliertesten Kritiker der Deutschen Bahn und der bahnpolitisch Verantwortlichen und stand mit seinem Buch „Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der Deutschen Bahn“ wochenlang auf den Bestsellerlisten. Darin hatte er einen DB-Topplaner zitiert, der schon im Jahr 2010 tiefschwarz sah: „Wir bauen einen riesigen Verkehrsknoten, der nicht funktionieren wird. Wir sind wie Fallschirmspringer bei diesem Projekt. Aber wir haben keine Fallschirme dabei. Wir wissen das. Wir stürzen uns in die Tiefe, und irgendwann werden wir aufschlagen und zerschellen.“ 14 Jahre später sei genau das die „Lage bei S21, der Aufschlag, das Zerschellen“. Was das alles noch fataler mache: „Die unkontrollierbaren Kosten gefährden die Existenz der mit 35 Milliarden Euro verschuldeten Bahn. Sie ist faktisch pleite. S21, wenn es nicht gestoppt wird, ist ihr Sargnagel.“
Die beschworene Mobilitätswende rückt mit dem Urteil, so es am Ende Bestand hat, in noch weitere Ferne. Immerhin spekulierte die Bahn darauf, sich vor Gericht um Lasten im Umfang von mehreren Milliarden Euro zu erleichtern. Stattdessen gehen jetzt viele Millionen Euro zur Deckung dieser und möglicher weiterer Verfahrenskosten drauf. Damit bliebe am Ende noch weniger Geld für die Instandsetzung der in Jahrzehnten verschlissenen Schieneninfrastruktur. Der Sanierungsstau wird auf mindestens 90 Milliarden Euro geschätzt, während die Ampelregierung in diesem Jahr lediglich 17 Milliarden Euro in die Ertüchtigung der Bahn stecken will. Dabei könnte allein S21 mitsamt sogenannter Ergänzungsprojekte am Ende mit bis zu 20 Milliarden Euro zu Buche schlagen. Und dies, obwohl das Ganze laut Kritikern auf einen Kapazitätsabbau hinausläuft für Riesensummen, die für die dringend nötige strukturelle Runderneuerung fehlen.
Der Bürger ist der Dumme
Es müsse jetzt zu einer außergerichtlichen Einigung über eine Kostenverteilung nach dem Verschuldensprinzip kommen, findet Reicherter vom Aktionsbündnis. Solange es keine Verständigung darüber gebe, dürften keine weiteren Mehrkosten durch Weiterbauen produziert werden. Auch deshalb sei die Gelegenheit günstig, „die Tabuisierung der Diskussion über Alternativen aufzugeben“. Naheliegend wäre auch, dass die Bahn von sich aus einen Baustopp verhängt, um Kürzungen beim Ausbau des bundesweiten Schienennetzes zu vermeiden. In keinem Fall dürfe es einen monströsen Rechtsstreit geben, „der über alle Instanzen und viele Jahre fortgesetzt wird und in dem hoch bezahlte Juristen Millionenkosten bei allen Beteiligten verursachen“.
Ein großer Teil der Mehrkosten „könnte auch heute noch vermieden werden“, gab Waßmuth von „Bahn für alle“ zu bedenken. „Der Kopfbahnhof oben ist noch nicht völlig zerstört. Baut man diese wertvolle Infrastruktur sinnvoll aus, wird der Bahnverkehr im Süden viel leistungsfähiger und Stuttgart bekommt die Chance, doch an den Deutschlandtakt angeschlossen zu werden.“ Und noch etwas stellte der Aktivist klar: „Nicht die DB bezahlt die Mehrkosten, sondern wir Steuerzahlende und Bahnkunden. Die Manager, die das verursacht haben, bekommen Millionen an Boni, sie zahlen keinen Cent. Auch die Immobilienspekulanten, die dort nur wegen des gigantisch teuren Tiefbahnhofs an Grundstücke gekommen sind, werden nicht an den Mehrkosten beteiligt.“ Man hätte es ahnen können. Die Macher wussten es sogar – schon lange.
Titelbild: Markus Mainka/shutterstock.com
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