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Titel: „Kriegstüchtig“ – oder: Wie wäre das eigentlich vor 40 Jahren gewesen?

Datum: 9. Mai 2024 um 12:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Aufbau Gegenöffentlichkeit, Aufrüstung, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
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Verteidigungsminister Pistorius’ Direktive, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden, wurde von der betroffenen Bevölkerung mit bemerkenswerter Schicksalsergebenheit hingenommen. Der fällige Aufschrei blieb nicht nur aus, der forsche Minister wurde auch noch prompt zum beliebtesten Politiker gekürt. – Vor 40 Jahren wäre das etwas anders gewesen. Von Leo Ensel mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Nein, natürlich war früher nicht alles besser! Aber stellen wir uns für einen Moment einmal vor, vor vier Jahrzehnten hätte der damalige Verteidigungsminister der alten Bundesrepublik, Manfred Wörner, – ausgerechnet im Herbst 1983 – in einem Fernsehinterview Folgendes postuliert:

Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte. Und das heißt: Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.“

Was wäre anschließend hier losgewesen?

  • Bereits in der nächsten Ausgabe der ZEIT hätte die Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff einen Leitartikel mit der Überschrift „Verteidigung der Entspannungspolitik“ publiziert.
  • Anderthalb Wochen später wäre unter dem Titel „Sagt NEIN!“ in der Samstagsausgabe einer überregionalen Tageszeitung ein Appell prominenter Schriftsteller, Wissenschaftler, Künstler, Journalisten, Theologen, Gewerkschafter, aber auch einiger dissidenter Politiker aus dem Regierungslager, ja sogar von ein oder zwei Generälen a.D. und – besonders mutig – von aktiven Bundeswehrsoldaten der Gruppe „Darmstädter Signal“ veröffentlicht worden. Natürlich, wo sonst?, in der Frankfurter Rundschau! Den Erstunterzeichnern hätten sich kleingedruckt unter dem Text Hunderte Bürger aus der Bevölkerung mit ihrer Unterschrift angeschlossen – und selbstverständlich auf eigene Kosten.
  • Zwei Monate danach wäre in der Taschenbuchreihe „rororo-aktuell“ ein Reader „Kriegstüchtig?“ mit Texten u.a. von Günther Grass, Heinrich Albertz, Horst-Eber­hard Richter, Dorothee Sölle und Erhard Eppler erschienen und gleich auf Platz sieben der Spiegel-Bestsellerliste hochgeschnellt. Allein in den ersten drei Wochen wären 14.000 Exemplare des Bandes verkauft worden.
  • Ungefähr zur gleichen Zeit hätten an einem Samstag im Bonner Hofgarten Hunderttausende Menschen unter dem Motto „Sagt NEIN! – Nie wieder kriegstüchtig!“ demonstriert. Altkanzler Willy Brandt hätte seine Formel „Wir wollen ein Volk guter Nachbarn sein“ beschworen, Heinrich Böll gerufen: „Deutsche und Russen dürfen nie wieder aufeinander schießen!“ und Petra Kelly die Gesellschaft zur „Großen Verweigerung“ aufgefordert. Und für den Fall einer Mobilmachung damit gedroht, „unser Land unregierbar zu machen“. Alice Schwarzer hätte unter großem Applaus den Text „Sag NEIN!“ von Wolfgang Borchert vorgetragen. Und am Straßenrand hätten einige Jugendliche auf der Gitarre die Biermannsche Übersetzung von Boris Vians „Le Déserteur“ geklimpert:

    Sagt NEIN!, wenn sie euch ziehn
    Sagt NEIN! zum Exerzieren
    Sagt NEIN! zum Kriegeführen
    Sagt NEIN!, und geht nicht hin!

  • Die taz hätte Borcherts Text am selben Tag in einer Sonderausgabe auf die Titelseite gehievt und als Service für die Demonstranten nicht nur die einzelnen Routen für den Sternmarsch durch die Bonner Innenstadt abgebildet, sondern auch noch ein Demo-Gadget in Gestalt eines Doppelblattes mit der Losung „SAGT NEIN!“ in fetten Großbuchstaben mitgeliefert.
  • In der Folgezeit hätten viele Universitäten interdisziplinäre Ringvorlesungen wie „Von der schleichenden zur offenen Militarisierung der Gesellschaft“ über die Aufrüstung in der Armee und in den Köpfen angeboten.
  • An zahllosen Autohecks hätte sich nun neben dem Aufkleber „Atomkraft? – Nein danke“ auch noch ein anderer mit einem verknoteten Panzerrohr und dem Slogan „Sagt NEIN!“ befunden.
  • Der Spiegel hätte eine dreiteilige Serie „Die (un)heimlichen Profiteure“ über die atemberaubende Performance der Aktienkurse der deutschen Rüstungsindustrie und deren clandestine Verbündete in Politik und Medien veröffentlicht.
  • Die Bundestagsfraktion der GRÜNEN hätte während der Sitzung über die Genehmigung eines milliardenschweren Sondervermögens für die Bundeswehr geschlossen T-Shirts mit der Aufschrift „Sagt NEIN!“ getragen, dieser Aufforderung gemäß abgestimmt und dabei ein Transparent „Kriegstüchtig? – Nie wieder!“ entrollt.
  • Berufsgruppen hätten Initiativen wie „Juristen, Lehrer, Psychologen, Journalisten etc. – und, ja auch: Soldaten – für den Frieden“ gegründet und die Öffentlichkeit aus ihrer jeweiligen Perspektive informiert.
  • In manchen Arztpraxen hätte ein Plakat mit dem Foto eines strahlenkranken Hiroshimakinds über dem Satz „Wir werden euch nicht helfen können! – Ärzte gegen den Atomkrieg“ gehangen.
  • Der Limburger Bischof Franz Kamphaus hätte im sonntäglichen Hochamt gepredigt: „Der Gott, an den wir glauben, ist kein Kriegsgott, kein Gott einer bestimmten Armee, kein Gott nur einer Nation. Er ist der Gott und Vater aller Menschen in Ost und West, in Süd und Nord, in Russland, in Deutschland und in Amerika. Wir alle sind seine Geschöpfe. Niemand soll sich daher auf Gott berufen, wenn er zum Krieg rüstet.“ (Und sich dafür prompt einen schweren Rüffel aus Rom und von einigen NATO-treuen Amtsbrüdern eingefangen.)
  • Unsichtbare Sprayer hätten auf Bauzäunen und Häuserwänden folgenden Spruch herbeigezaubert: „Oldenburg (wahlweise: Bielefeld, Aschaffenburg, Castrop-Rauxel oder Goslar …) ist eine schöne Stadt. Das war Hiroshima auch!“
  • An Schultafeln hätte plötzlich immer wieder der Satz „Sagt NEIN!“ – manchmal auch einfach nur „NEIN!“ – gestanden. 17-Jährige mit „Sagt NEIN!“-Stickern wären, vor allem in Bayern, zum Direktor zitiert und mit Schulverweis bedroht worden. (Die eine oder andere Vertrauenslehrerin hätte sich öffentlich mit den aufsässigen Schülern solidarisiert, die GEW wiederum Solidarität mit den aufsässigen Lehrerinnen signalisiert.)
  • In den Altbaufenstern der Wohngemeinschaften in Bremen, Hamburg, Hannover und Westberlin hätte die Losung „Entrüstet Euch!“ geprangt.
  • Das Politmagazin „Monitor“ hätte in einem „Der Ernstfall – Operationsplan Deutschland“ genannten fiktiven Szenario den Alltag einer kriegstüchtigen Bundesrepublik bis hin zur geheimen Weisung „Panikpersonen – sofort eliminieren!“ akribisch durchexerziert.
  • Militante Kriegsgegner hätten Farbbeutel gegen die Wände und Eingangstüren der Kreiswehrersatzämter geschleudert, linksautonome Gruppen wie „Krieg dem Krieg!“ gar zu „MaNÖver-Störaktionen“ aufgerufen.
  • Die feministische Zeitschrift Emma hätte eine Serie über pazifistische Frauen von Bertha von Suttner, Margarete Selenka, Lida G. Heymann, Gertrud Baer bis zu Joan Baez publiziert.
  • An alten Weltkriegsbunkern und den Eingangsschleusen zu unterirdischen – angeblich atomwaffensicheren – Katastrophenkrankenhäusern hätte plötzlich der Satz „Die Überlebenden werden die Toten beneiden“ gestanden.
  • Öffentliche Rekrutenvereidigungen wären durch schrille Trillerpfeifkonzerte massiv gestört und behindert worden.
  • Grauhaarige Senioren hätten sich mit Plakaten wie „Kriegsgeneration gegen Kriegstüchtigkeit!“ oder „Omas für den Frieden“ vor die Kasernentore gesetzt und Militärtransporte blockiert. (Und wären später dafür wegen „Nötigung“ zu zig Tagessätzen amtsgerichtlich verurteilt worden.)
  • Udo Lindenberg schließlich hätte vor der Mauer am Brandenburger Tor ein Benefizkonzert „Wozu sind Kriege da?“ unter anderem für die aufsässigen Alten gegeben.

Ja, so wäre das gewesen.

Vor vierzig Jahren!

PS:

Ist es eigentlich ein Zufall, dass trotz weltweiter Rekordrüstungsausgaben von fast 2,4 Billionen Dollar 2023 das Wort „Rüstungswahnsinn“ längst so ausgestorben ist wie zu paläontologischen Vorzeiten die Dinosaurier?

Titelbild: 21.11.1983: Abgeordnete der Fraktion Die Grünen halten aus Protest gegen den Nato-Doppelbeschluss während der Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl (rechts) Großfotos von Hiroshima-Opfern hoch.


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