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Titel: „Ich träume von morgen“

Datum: 6. Mai 2024 um 9:09 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Interviews, Israel, Militäreinsätze/Kriege
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Heute veröffentlichen wir ein Interview von Dr. Gabi Weber – selbst familiär mit Palästina verbunden – mit Dr. Helga Baumgarten, emeritierte Professorin für Politikwissenschaft an der palästinensischen Universität Birzeit. Was Sie im Folgenden lesen, ist deshalb zum einen vom eigenen Erleben und zum anderen von tiefen Einblicken in das Leiden der Menschen in diesem Teil der Welt geprägt.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Frau Baumgarten, ursprünglich hatten wir dieses Interview schon vor einigen Monaten, kurz nach dem Beginn der israelischen Militäroffensive gegen den Gazastreifen begonnen. Sie befanden sich zu der Zeit gemeinsam mit Ihrem Mann in Deutschland und konnten aufgrund der prekären politischen Situation nicht zurück nach Ost-Jerusalem reisen. Als Sie dann endlich, nach wochenlanger Verzögerung, in Ihre Wahlheimat Palästina zurückkehren konnten, verstarb Ihr Mann innerhalb weniger Tage – sicher auch an gebrochenem Herzen angesichts der unsäglichen israelischen Eskalation gegen das palästinensische Volk? Wie geht es Ihnen heute in Palästina?

Ich denke, es geht mir wie jedem Menschen hier im Lande, der Tag für Tag das Morden, das man Völkermord nennen muss, in Gaza vor Augen hat, „live“ miterleben muss auf Al Jazeera. Man leidet mit und weiß doch, dass das, was die Menschen in Gaza ertragen müssen, kaum nachfühlbar ist. Ich habe noch Freunde und Kollegen in Gaza. Wir korrespondieren, wann immer es Internet in Gaza gibt, über WhatsApp. Es ist alles unsäglich, das Leid der Menschen, all die Opfer, täglich mehr. Man muss sich nur vorstellen, wie Kinder all das ertragen müssen: Horror, der unerträglich ist.

Für meinen Sohn und mich kommt nun noch der persönliche Verlust dazu. Mein Mann, Mustafa al-Kurd, der Liedermacher war und seit 1967 gegen die Besatzung, gegen die Gewalt und Unterdrückung sang und vor allem in den siebziger Jahren auch mit der Theatergruppe Ballalin sich für die Freiheit seines Volkes einsetzte, litt ganz besonders unter diesem Völkermord in Gaza. Schon Ende Oktober hatte ihn die Verzweiflung gepackt: Massenmorde fast ununterbrochen, brutalste und gnadenlose Zerstörungskampagnen, begeisterte Begleittöne dazu aus der israelischen Gesellschaft und seiner politischen Führung, Schweigen aus dem sich immer so moralisch gebärdenden Norden, von den USA bis Europa, speziell Deutschland, und gleichzeitig ununterbrochene Waffenlieferungen, um der israelischen Armee die Weiterführung des Völkermordes zu ermöglichen.

Er meinte:

„Wer kann in dieser Welt noch leben! Ich will und kann das nicht mehr.“

Was ihn am Leben hielt, trotz Gaza und trotz seiner schweren Krankheit, war die schlichte Tatsache, dass wir in Deutschland festsaßen und nicht in seine Heimat Jerusalem zurück konnten. Er wusste, dass seine Lebenszeit abgelaufen war, er wollte nicht mehr weiterleben, aber sterben wollte und konnte er nur in Jerusalem.

Wir waren kaum angekommen, da kam der unheilbare Lungenkollaps. Die Ärzte kämpften um sein Leben, er aber hatte den Kampf aufgegeben.

Nun darf er im Grab, direkt außerhalb der Mauern seiner geliebten Stadt Jerusalem, ruhen.

Wir dagegen müssen weiterleben und das ertragen, was er nicht mehr ertragen konnte.

Sein Vermächtnis bleibt: der unbeirrte Einsatz für Freiheit von Unterdrückung, für Gerechtigkeit und Gleichheit aller Menschen, für die Verwirklichung seines Traums [1]:

„Ich träume von morgen
Morgen
Vertrauen
Liebe
Frieden
Von morgen träume ich“

Wie traurig! Manchmal fehlen einfach die Worte. Nach so vielen Jahren, in denen uns unsere Liebe zu diesem sehr besonderen Land und seinen Menschen geprägt hat, und in denen die Hoffnung, dass es einfach nicht mehr schlimmer werden kann und endlich bergauf gehen muss, immer doch noch irgendwo vorhanden war, scheint es, dass wir alle, persönlich, privat und auch als kollektive Menschenfamilie, an einem weiteren Tiefpunkt unserer Geschichte angekommen sind. Ich kann und will den Begriff „Zivilisation“ nicht mehr verwenden. Welche Spezies tut all diese Dinge, die wir seit Jahrzehnten verbrechen, dulden, anschauen, stillschweigend akzeptieren und im schlimmsten Fall auch noch applaudieren, rechtfertigen, verharmlosen und entschuldigen?

In einem vor wenigen Tagen veröffentlichten Interview mit Professor Michael Hudson aus den USA spricht dieser davon, dass bereits vor 50 Jahren sowohl seitens des US-Verteidigungsministeriums als auch des israelischen Mossad u.a. „alles, was heute geschieht, schon besprochen“ wurde. Halten Sie dies für möglich? Halten Sie für möglich, dass der heute final stattfindende Völkermord an den Palästinensern eine „ausdrückliche Politik, und das war die Politik der Vorväter, der Gründer Israels“ ist?

Ich würde hier etwas vorsichtiger formulieren. Einmal ist in der Geschichte nur selten etwas endgültig. Zum anderen stütze ich mich, wie inzwischen die Mehrzahl der Kolleginnen und Kollegen, die zu Palästina und Israel arbeiten, auf den Ansatz des Siedler-Kolonialismus. Mit diesem Ansatz ist es möglich, die israelische Politik seit 1948 ebenso wie den Beginn des Zionismus bis heute zu verstehen.

Der Zionismus begann mit Theodor Herzl, basierend auf einer falschen, kolonialistisch begründeten Prämisse: Palästina als Land ohne Volk für ein Volk ohne Land. Da in diesem „Land ohne Volk“ ein Volk, das der Palästinenser, lebte, war die Folgerung von Anfang an klar: Das Land musste frei werden für das Volk ohne Land. Umgesetzt wurde es durch ethnische Säuberung, ein zentraler Aspekt des Siedlerkolonialismus. In der letzten Konsequenz reicht ethnische Säuberung nicht mehr. Die Kolonisierten müssen, wenn sie nicht freiwillig gehen, eliminiert werden, mitsamt ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Lebensgrundlage: Wohnhäuser, Krankenhäuser, Universitäten, Verwaltungsgebäude. Genau das findet derzeit vor den Augen der Welt in Gaza statt.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt des israelischen Siedlerkolonialismus ist die Unterstützung, die er vom kolonialistisch-imperialistischen Norden, vom Westen erhält: historisch zunächst Großbritannien auf der Basis der Balfour-Deklaration und der britischen Politik als Kolonialmacht in Palästina, fälschlicherweise Mandatsmacht genannt, um den kolonialistischen Aspekt zu überdecken.

Seit Anfang der Vierziger Jahre und insbesondere seit dem Juni-Krieg 1967 unterstützt die Weltmacht USA den israelischen Siedlerkolonialismus, uneingeschränkt und nachhaltig, wie wir zuletzt im Krieg gegen Gaza seit dem 7. Oktober 2023 sehen können und wie der von Ihnen zitierte Michael Hudson argumentiert. Deutschlands Regierung und Mainstream-Presse agiert als Anhängsel dieser amerikanischen Politik und unterstützt unter dem Vorwand, man verteidige das Existenzrecht Israels, den vor unseren Augen durchgeführten Völkermord in Gaza inklusive der ethnischen Säuberungs- und Gewaltpolitik in der Westbank und in Ost-Jerusalem – auch wenn man hier und da verbal Kritik übt.

Heute hat sich diese Politik Israels, der israelische Siedlerkolonialismus, im Vergleich zu den Jahren seit 1948, enorm zugespitzt. Eine zentrale Rolle spielen dabei die gewalttätig-rassistischen Siedler in der Westbank, durchweg unterstützt von der Armee, in der sie eine immer stärkere Rolle spielen.[3] Schließlich steht die Regierung Netanyahu, nicht nur die extremistisch-rassistischen Minister Ben Gvir und Smotrich, eben für diese Politik und ihre konsequente Durchsetzung.

Für Netanyahu ist in Israel ‚from the river to the sea’ nur Platz für Juden. Diese Politik hat er seit Jahren konsequent vertreten und inzwischen sieht er die Möglichkeit, sie realiter umzusetzen.

Womit Israel nicht rechnet und nie gerechnet hat, ist die palästinensische Reaktion: Wir bleiben, wir weigern uns zu gehen. Das war die Politik der palästinensischen Nationalbewegung, Sumud, beharrlicher Widerstand. Heute dominiert eher, vor allem in der Westbank mit Ost-Jerusalem und in Israel in den palästinensischen Gebieten, die Politik von Baqa, wir bleiben, wie sie der Historiker Adel Manna in seinem letzten Buch konzeptualisiert hat. In Gaza finden wir heute sowohl bewaffneten Widerstand als auch Sumud und Baqa.

Was dabei oft vergessen wird – nicht zuletzt von der palästinensischen Sulta, der Regierung in Ramallah ohne jegliche Macht und Souveränität, die lediglich Zuarbeiter für die israelischen Geheimdienste ist und in Deutschland „Selbstverwaltungsbehörde“ genannt wird – ist die historische Tatsache, dass Fatah und dann weitere PLO-Organisationen seit 1965 bewaffneten Widerstand gegen den israelischen Siedlerkolonialismus leisten. All ihre Angebote an Israel, vor allem immer wieder durch Yasir Arafat vorgelegt, eine friedliche Lösung zu finden, wurden seitens aller israelischer Regierungen arrogant-verächtlich vom Tisch gefegt. Übrigens auch Lösungsvorschläge seitens der Hamas, zuletzt unter dem inzwischen verteufelten Yahya Sinwar: Er hat ebenfalls vergleichbare Angebote an Israel gemacht!

Die Hamas – welche Rolle spielt sie in diesem aktuell stattfindenden Völkermord an den Palästinensern? Ist sie „Mittel zum Zweck“?

Zweifellos ist die Hamas, nicht erst seit dem 7. Oktober übrigens, ein absolut rotes Tuch für die israelische Regierung, für jede israelische Regierung seit dem Dezember 1987, als die Hamas zu Beginn der ersten Intifada gegründet wurde. Die Hamas [5] war es, die ihren bewaffneten Widerstand nach den ersten Jahren des gewaltlosen Widerstandes der ersten Intifada ausschließlich gegen die israelische Armee ausübte. Als Reaktion verbannte die damalige israelische Regierung über 200 Hamas-Führer und Mitglieder ins Niemandsland im Süd-Libanon. Was sie damit erreichte, waren erste Kontakte und dann enge Zusammenarbeit zwischen der Hizbullah im Libanon und der Hamas.

Nach dem Beginn des Osloer Prozesses, präzise nach dem Attentat eines Siedlers im Haram al-Ibrahimi, der Ibrahims-Moschee in Hebron, nahm die Hamas ihre verhängnisvollen Selbstmordattentate auf: in der Westbank, in Jerusalem und vor allem auch in Israel. Viele der Opfer waren dabei israelische Zivilisten. Die Hamas hatte zwar nach dem Attentat im Haram al-Ibrahimi, als ein bewaffneter Siedler fast 30 betende Palästinenser in der Moschee erschossen hatte, Israel aufgefordert, einen Deal einzugehen: Israel attackiert keine palästinensischen Zivilisten und im Gegenzug attackiert die Hamas keine israelischen Zivilisten. Israel reagierte mit Verachtung und ein furchtbarer circulus vitiosus der Gewalt begann. Diese erste Welle der Selbstmordattentate endete 1997, nachdem der Hamas-Gründer Scheich Ahmed Yassin aus der Haft entlassen wurde.

In der zweiten Intifada, nach mehreren Hundert Toten auf Seiten der Palästinenser, nahm die Hamas eine zweite Attentatswelle auf: von 2001 bis Mitte 2003. Danach wählte sie den Schritt in die Politik und nahm zuerst an Lokalwahlen, danach an Parlamentswahlen teil.

Der 7. Oktober 2023 spielt für Israel eine geradezu historische Rolle, bildet eine bis dato ungeahnte Katastrophe: Eine Widerstandsorganisation wie die Hamas durchbricht und überrennt die hermetische Abriegelung des Gazastreifens, alle Armeestützpunkte rund um den Gazastreifen inklusive des Grenzübergangs Erez: eine nur kafkaesk zu nennende „Grenz“-Station in ihrer menschenverachtenden Behandlung einreisender oder ausreisender Palästinenser. Und sie kann bei relativ geringer Gegenwehr durch Sicherheitskräfte in den einzelnen Ortschaften, vor allem Kibbuzim, diese besetzen, zahllose Zivilisten töten (derzeit ist die Rede von knapp 800 zivilen Opfern, zusätzlich zu etwa 350 getöteten Soldaten) und etwa 250 Soldaten und Zivilisten als Geiseln in den Gazastreifen entführen.

Die israelische Strategie der Abschreckung aller potentieller Feinde war in sich zusammengebrochen, erwies sich geradezu als ein Papiertiger. Der Mythos der israelischen Unbesiegbarkeit war innerhalb von Stunden in sich zusammengebrochen und als solcher entlarvt.

Der israelischen Regierung und der Armee ging es deshalb ab dem 7. Oktober zunächst primär um die Wiederherstellung der „Abschreckung“.

Die Frage ist nun, ob die historisch fast einmalig zu nennende Zerstörungskampagne der Armee, die Massenmorde, der Völkermord, die Kampagne zur Aushungerung der Menschen in Gaza – nicht nur Genozid, auch Politizid, Domizid, „culturicide“ etc. – noch unter dem Oberbegriff „Wiederherstellung der Abschreckung“ zu fassen ist, oder ob es hier um etwas ganz anderes geht.

Es ist eher plausibel zu argumentieren, dass die israelische Regierung und die israelische Armee, mit praktisch uneingeschränkter Unterstützung durch die israelische Gesellschaft, hier ein zentrales Ziel des Siedlerkolonialismus umsetzt: die Eliminierung der Kolonisierten durch Zerstörung ihrer Lebensgrundlage, durch Ermordung und mit dem Ziel der vollständigen ethnischen Säuberung des Gazastreifens [6].

Die Hamas also als Mittel zum Zweck? Nein, ich argumentiere eher, dass der 7. Oktober siedlerkolonialistische Phantasien freisetzte, die in eine reale und hemmungslos-brutal-barbarische Zerstörungskampagne transformiert wurden. In Gaza ist diese siedlerkolonialistische Kampagne inzwischen absolut hemmungslos. Die Menschen in Gaza sind für Armee, Politik und israelische Gesellschaft keine Menschen mehr. Wir sehen hier eine Dehumanisierung der Palästinenser, die ungeahnte, ja apokalyptische Ausmaße angenommen hat.

In der Westbank und in Ost-Jerusalem beginnt übrigens ein vergleichbarer Prozess.

Könnten Sie uns bitte über die aktuelle Lage sowohl im Gaza-Streifen als auch in Ost-Jerusalem und der West-Bank informieren?

Die aktuelle Lage ändert sich ständig. Was ich heute z.B. an Zahlen und Fakten angebe, kann morgen schon überholt sein. Also konzentriere ich mich auf klare Linien, die seit Monaten erkennbar sind, und versuche, Momentaufnahmen zu geben.

Gaza:
In Gaza setzt die israelische Armee ihre tödlich-zerstörerischen Angriffe fort, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Inzwischen sind es über 34.000 Opfer [7], mehr als die Hälfte Frauen und Kinder. Täglich kommen an die 100 neue Opfer dazu, inzwischen fast nur noch Frauen und Kinder. Sie werden einfach zu Tode bombardiert, in den Häusern, in denen sie leben oder in die sie sich geflüchtet haben.

Die schlimmsten Entwicklungen der vergangenen Tage sind die Entdeckung von Massengräbern in den zerstörten Krankenhäusern Nasser, in Khan Younis und Shifa, das bis zu seiner Zerstörung das größte und am besten ausgestattete Krankenhaus im gesamten Gazastreifen war, direkt in der Stadt Gaza gelegen.

Im Umfeld des Nasser-Krankenhaus wurden inzwischen über 300 Leichen ausgegraben. Rund um das völlig zerstörte Shifa-Krankenhaus bis dato etwa 30 Leichen. Verwandte der Vermissten versuchen, die ausgescharrten Leichen zu identifizieren: Die Bilder auf Al-Jazeera gleichen Horrorszenen: Leichenteile und vor Grauen heulende Angehörige.

Volker Türk, UN-Hochkommissar für Menschenrechte (United Nations High Commissioner for Human Rights), äußerte sich am Dienstag, den 23. April 2024, „entsetzt“ über die Zerstörung der oben genannten Krankenhäuser, über die Entdeckung von Massengräbern dort sowie die fortgesetzten „Tötungen“, besser Morde, an Frauen und Kindern.

Kurz, die allgemeine Lage in Gaza ist nach wie vor einfach nur katastrophal, egal welchen Aspekt man betont. Die medizinische Versorgung gleicht einem Anlaufen gegen den Mangel an allem, was in einem Krankenhaus zur Versorgung von unzähligen und immer neuen Verletzten und Schwerverletzten fehlt. Der norwegische Arzt Mads Gilbert, der über längere Perioden in den Krankenhäusern in Gaza gearbeitet hat, weist in immer neuen Videos und Interviews, vor allem auf Al-Jazeera (arabisch) aber auch auf Democracy Now, eben darauf hin.

Hunger und Mangelernährung, vor allem bei Kindern, Kleinkindern und Neugeborenen, sind unter der permanenten israelischen Bombardierung und Beschießung vom Meer und vom Land aus nicht mehr zu stoppen. Im Norden Gazas sind 30 Prozent der Kinder unter 2 Jahren unterernährt, 70 Prozent der Gesamt-Bevölkerung im Norden leiden unter akutem Hunger.

Dazu kommt das nur menschenverachtend zu nennende Vorgehen Israels gegen die UNRWA. Nur die UNRWA, da sind sich alle Spezialisten einig, könnte die nach Gaza gelieferten Nahrungsmittel und Medikamente in immer noch nicht annähernd im dringend notwendigen Umfang (!) professionell verteilen, weil UNRWA sowohl die nötige Infrastruktur als auch die geschulten Mitarbeiter hat.

Israel versucht seit Oktober 2023, die UNRWA auszuschalten, zunächst mit der Beschuldigung, dass UNRWA-Angestellte beim Angriff der Hamas am 7. Oktober dabei waren. Inzwischen berichtet die UNRWA, dass Israel dafür bis dato keinerlei Beweise vorgelegt habe. UNRWA berichtet, dass verhaftete Angestellte von UNRWA gefoltert wurden mit dem Ziel, dass sie zugeben, am 7. Oktober mit der Hamas gekämpft zu haben bzw. Mitglieder von Hamas seien.

Dies bestätigt auch ein neuer Bericht einer unabhängigen Kommission unter einer ehemaligen französischen Außenministerin, der am 22. April in der UN vorgelegt wurde.

Israel versucht schon seit Jahren, die UNRWA zu zerstören. Die israelische Regierung geht wohl davon aus, dass ohne die UNRWA das palästinensische Flüchtlingsproblem sich in Luft auflösen bzw. es danach schlicht keine palästinensischen Flüchtlinge mehr geben würde.

Dazu gibt es ein langes Interview mit Philippe Lazzarini. Ich habe das live of Al-Jazeera Arabisch gehört.

Alternativ vielleicht besser: UN-Briefing vom 30. April 2024: High Commissioner der UNRWA.

Die Menschen in Gaza sind heute nur noch traumatisiert.

Wer 2006 geboren ist, kennt nur Krieg, Tod, unsägliche Bombardierungen.

Ein guter Kollege aus Gaza sagte mir nach dem Krieg 2014, er könne das alles nicht mehr ertragen.

Wie sollen Kinder damit umgehen?

Westbank:
Die Gewalt, mit der die israelische Armee, zusammen mit extremistischen Siedlern, die Westbank überzieht, nimmt täglich zu. Inzwischen geht die Armee in Flüchtlingslagern ähnlich vor wie im Gazastreifen: Lager werden total zerstört, Menschen, die dort leben, rücksichtslos erschossen.

Höhepunkt bis heute ist die Totalzerstörung im Nur Shams, Flüchtlingslager bei Tulkarem, im Nordwesten der Westbank: An einem Tag wurden 14 Bewohner, in der Mehrzahl Zivilisten, getötet – Gaza ist in der Westbank angekommen!

Ähnliche Bilder kennen wir schon seit Wochen und Monaten aus dem Flüchtlingslager Jenin oder in Nablus, sowohl aus der Altstadt als auch aus dem Flüchtlingslager Balata.

Der Widerstand gegen die Besatzung wird nicht nur im Nur-Shams-Flüchtlingslager in Tulkarem inzwischen durch Gruppen geleistet, in denen alle politischen Organisationen der Westbank vertreten sind: Islamischer Jihad, Hamas, PFLP bis hin zur Fatah.

Die Gewalt der Armee geht derweil ohne Unterbrechung weiter. Komplimentiert wird sie durch die systematische Gewalt der Siedler, üblicherweise mit voller Unterstützung oder zumindest Rückendeckung der Armee.

Ost-Jerusalem:
In Ost-Jerusalem schließlich bedroht die israelische Regierung die palästinensischen Bewohner mit massiven Landenteignungen rund um die Altstadt. Menschen werden aus ihren Häusern vertrieben, wie gerade wieder im Stadtteil Scheich Jarrah, wo drei Großfamilien ihre Häuser an extremistische Siedler abtreten sollen. Die israelischen Siedlungen rund um Jerusalem werden massiv expandiert und neue Siedlungen sollen gebaut werden.

Die regelrechten Angriffe der religiösen jüdischen Extremisten auf die Al-Aqsa-Moschee nehmen täglich zu, vor allem während der Pessach-Tage. Am vergangenen Sonntag sollen über 1.000 jüdische Israelis, alle Extremisten, auf dem Tempelberg Haram al-Sharif gewesen sein; immer versuchen sie dabei zu beten, was nach israelischen Bestimmungen nicht erlaubt ist. Am Abend des Pessach Seder, also am Montag, 22. April, versuchten ganze Gruppen von Extremisten, Ziegen als Opfertiere auf den Haram zu bringen. Sie wurden von der Polizei gestoppt. Ziel der Extremisten ist es, auf dem Haram besonders gezüchtete rote Kühe zu opfern und damit die Zerstörung der Moscheen und den Wiederaufbau des jüdischen Tempels in die Wege zu leiten. Nur noch der reine Wahnsinn!

Die Besatzung seit 1967, vor allem aber die Niederschlagung der ersten Intifada 1987, haben zweifellos dazu geführt, dass die palästinensische Gesellschaft regelrecht am Boden zerstört ist. Sie ist deshalb nicht mehr zum Massenwiderstand wie 1987/88 in der Lage. Heute wird Widerstand deshalb meist nur noch individuell oder durch kleine Gruppen, oft bewaffnet, geübt. Viel Widerstand, auch Massenwiderstand, gibt es jedoch lokal, überall dort, wo es direkte Konfrontationen mit gewalttätigen Siedlern gibt.

Aber gleichzeitig, und durchaus im Widerspruch zum eben Beschriebenen, ist die Entschlossenheit zum Bleiben, auch die schlimmste Unterdrückung, den schlimmsten Siedlerkolonialismus durchzustehen, weit verbreitet. Die Menschen sind sich einig: Wir bleiben.

Auswanderungen gibt es vor allem in Kreisen der Bourgeoisie.

Entpolitisierung, nicht zuletzt bei Jugendlichen und vor allem auch in Jerusalem, ist ebenso zu beobachten wie verzweifelte, individuelle Widerstands-Aktionen gegen Armee und Siedler.

Alles wird also täglich schlimmer mit der Unterjochung der Palästinenser, ja ihrer Dehumanisierung durch die israelische Regierung, durch die Armee und durch die große Mehrheit der Gesellschaft.

Auf der Seite Israels begegnet man den Palästinensern nur mit Gewalt, Gewalt und nochmal Gewalt. Rationalität im Umgang mit der Realität vor Ort, Realismus sind kaum mehr zu finden. Bereitschaft zum Frieden mit den Palästinensern sucht man vergebens.

Michel Sabah, der ehemalige katholische Kardinal Jerusalems, hat das schon 2014 klar formuliert, wie in meinem Buch [6] „Kein Frieden für Palästina“ auf Seite 184 zitiert:

„Sie haben hochentwickelte Waffen, um zu töten. Aber sie haben keine Bereitschaft, Frieden zu schließen. Dazu bringen sie keinen Mut auf.“

Nur einzelne Stimmen finden sich – fast ausschließlich auf den Seiten der Zeitung Haaretz: die Journalisten Amira Hass, Gideon Levy und B. Michael, Adam Keller von Gush Shalom sowie die letzten Aktivisten von Matzpen, die noch am Leben sind, wie z.B. Moshe Machover – die Israel daran erinnern und hart kritisieren, dass es mit der Besatzung und ohne Freiheit der Palästinenser auch keine Freiheit für Juden in Israel geben kann.

Ihr verstorbener Ehemann hat von morgen geträumt. Wovon träumen Sie, Frau Baumgarten?

Von morgen träume ich auch in dem Sinne, in dem Mustafa von morgen geträumt hat:

Morgen: Vertrauen, Liebe, Frieden.

Vor allem aber hoffe ich gerade heute, dass die Menschen in Gaza bald wieder träumen dürfen.

Die Hölle, in die sie von Israel hineingebombt wurden – noch täglich tiefer hineingebombt werden! – macht selbst das Träumen unmöglich.

Sie hoffen, dass wir sie nicht vergessen haben. Sie hoffen, dass wir alles tun, damit sie wieder als Menschen leben dürfen. Sie hoffen auf die Demonstranten weltweit, zuletzt in den Universitäten in den USA, in England, Frankreich, Australien – und hoffentlich endlich auch in Deutschland! – auf eine 68er-Bewegung für Freiheit in Gaza, in ganz Palästina, im gesamten, immer noch so stark kolonial unterdrückten und ausgebeuteten Süden. Auf Electronic Intifada finden wir Stimmen von jungen Menschen, Teenagern aus Gaza wie Abu Baker oder Dunja Abu Sitta, die voller Hoffnung sind und allen Demonstranten weltweit für ihre Solidarität danken.

Abschließend muss ich Lenin zitieren. (Aus: Lenin. Was Tun? 1902. Hier.) Da ist ein volles Zitat… auf Google zu finden… mit Link leider nicht mehr. Deshalb einfacher. Lenin.

Was tun?

„Wenn der Mensch die Kraft zum guten Träumen
eingebüßt hätte, wenn er nicht immer wieder
vorauseilen und mit seiner Einbildungskraft
das Ganze seines Tuns überschauen würde,
das sich mühselig unter seinen Händen
herauszubilden beginnt –
wie könnte er überhaupt das Umfassende
seiner Anstrengungen durchhalten?
Träumen wir also! Aber unter der Bedingung,
ernsthaft an unseren Traum zu glauben,
das wirkliche Leben auf’s Genaueste
zu beobachten, unsere Beobachtungen mit unserem Traum
zu verbinden, unsere Phantasie gewissenhaft
zu verwirklichen! Träumen ist notwendig …“.

Vielen Dank für das Interview und alles Gute für Sie und alle Menschen in der Region und auf diesem Planeten!


Das Buch:
Helga Baumgarten
KEIN FRIEDEN FÜR PALÄSTINA
Der lange Krieg gegen Gaza. Besatzung und Widerstand

ISBN 978-3-85371-496, br., 192 Seiten, 19,90 Euro.
Näheres zum Buch: https://mediashop.at/buecher/kein-frieden-fuer-palaestina/
Diskussion mit der Autorin. Moderation: Stefan Kraft

Die Veranstaltungen:
*) Samstag, 11. Mai 2024 um 10 Uhr 30
in Marx-is-Muss-Konfernez, Franz Mehring Platz 1, 10243 Berlin

*) Montag, 13. Mai 2024 um 19 Uhr
in Hansa Haus Brienner Str. 20, 8033 München

*) Donnerstag, 16. Mai 2024 um 19 Uhr
im “Freien Wort”, Rögergasse 24-26, 1090 Wien

*) Dienstag, 21. Mai 2024 um 19 Uhr
im Bürgerhaus Heidelberg Bahnstadt, Gadamerplatz 1, 69115 Heidelberg

*) Sonntag, 26. Mai 2024 um 17 Uhr
in Café Palestine, Quartierzentrum Bäckeranlage, Hohlstr. 78, 8004 Zürich

*) Montag, 27. Mai 2024 um 19 Uhr 30
im Haus der Solidarität Nord-Süd, Steinbergg. 18, 8400 Winterthur

Das Buch ist über den Handel oder direkt beim Verlag zu bestellen. Die Versandkosten für Österreich und Deutschland trägt der Verlag.

Titelbild: Anas-Mohammed/Shutterstock.com und Stefan Röhl – Heinrich-Böll-Stiftung, CC BY-SA 2.0 de


[«1] Verwirklichung seines Traums: Auf LP Brüssel 1980: Mustapha El Kurd: „La voix de la Palestine“ (Contr’Eurovision)

[«2] Unterstützt von der Armee, in der sie eine immer stärkere Rolle spielen: Yagil Lavy. Lines increasingly blurred between soldiers and settlers in the West Bank. Foreign Policy, Nov. 9, 2023. Vgl. auch Artikel von Amira Hass und Gideon Levy in Haaretz in den vergangenen Jahren.

[«3] Adel Manna. Nakba and Survival. The Story oft he Palestinians who remained in Haifa and the Galilee, 1948-1956.

[«4] Baumgarten, Helga: „Hamas. Der politische Islam in Palästina“; München 2006; Vergriffen, kann über folgenden Link heruntergeladen werden.

[«5] Dazu kurz und übersichtlich: Baumgarten, Helga: „Kampf um Palästina. Was wollen Hamas und Fatah?“; HERDER spektrum / Freiburg 2013; ISBN: 9783451065439

[«6] Baumgarten, Helga: „Kein Frieden für Palästina.Der lange Krieg gegen Gaza. Besatzung und Widerstand.“; Promedia 2021

[«7] 34 000 Opfer OCHA: www.ochaopt.org

Dort werden Zahlen ständig aktualisiert: heute, Freitag: 34 356!!!; live auf al-Jazeera; immer auch in Haaretz https://www.haaretz.com/ übernommen


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