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Titel: Christoph Butterwegge: Innere und äußere Aufrüstung und Sozialabbau sind zwei Seiten einer Medaille. Einige Argumente gegen das neoliberale Konzept zum Um- bzw. Abbau des Sozialstaates
Datum: 24. Mai 2006 um 11:45 Uhr
Rubrik: Sozialstaat, Ungleichheit, Armut, Reichtum, Wettbewerbsfähigkeit
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Aufrüstung und Sozialabbau bilden immer schon zwei Seiten einer Medaille. Beide sind Teil eines Konzepts, das Gewalt als legitimes Mittel der Politik versteht. Massenarbeitslosigkeit und steigende (Kinder-)Armut sind in einem so wohlhabenden Land wie der Bundesrepublik “strukturelle Gewalt” (Johan Galtung). Gleichzeitig beteiligt sich die Bundesregierung im EU-Rahmen am Aufbau einer Schnellen Eingreiftruppe, womit sie das Ende der “Zivilmacht Europa” einleitet und militärischer Gewalt nach außen den Vorzug gegenüber anderen Möglichkeiten der Konfliktlösung gibt.
Lesen Sie mehr in unserer Rubrik „Andere interessante Beiträge“, den wir mit Zustimmung des Autors aus einem Referat vor der AG Friedensforschung an der Uni Kassel übernommen haben.
Strukturschwächen des Sozialstaates
Von Christoph Butterwegge
Erwerbsarbeits-, ehe- und erwachsenenorientiert, setzt die Konstruktionslogik des Sozialstaates in Deutschland seit Bismarcks Zeiten einen männlichen Familienernährer voraus, der sich, seine Ehefrau und gemeinsame Kinder mittels eines sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsverhältnisses unterhält. Fragt man nach den tiefer liegenden Gründen für die Krisensymptome und Strukturprobleme des Wohlfahrtsstaates, spielen aufgrund der Globalisierung, Modernisierung und Individualisierung hoch entwickelter Industriegesellschaften wie der Bundesrepublik drei Tendenzen eine Schlüsselrolle:
Die gängigen Muster zur Erklärung der “Misere des Sozialstaates”
Als für die Probleme des Sozialstaates ursächlich werden in der öffentlichen Diskussion darüber hauptsächlich vier Faktoren bzw. Entwicklungsdeterminanten genannt:
Kritik an den dominierenden Erklärungsmustern
Diesen (größtenteils “interessierten”, d.h. von Lobbyisten und neoliberalen Gegnern des Sozialstaates gezielt verbreiteten) Missverständnissen bzw. Fehlurteilen ist Folgendes zu erwidern:
“Umbau”-Folgen für die Staatsentwicklung: Bedeutet die neoliberale Wende das Ende des Sozialstaates?
Bei der gegenwärtigen “Umbau”-Diskussion handelt es sich um den umfassendsten Angriff auf den Sozialstaat in seiner gewohnten Gestalt. Hierbei geht es längst nicht mehr um bloße Leistungskürzungen (wie noch unter der Regierung Kohl), sondern um einen Systemwechsel. Damit verbunden ist eine gesellschaftspolitische Richtungsentscheidung von historischer Tragweite. Zwar steht nicht der Sozialstaat selbst zur Disposition, aber es geht um seine grundlegende Transformation, deren Richtung, Radikalität und Realisierungschancen nunmehr erörtert werden sollen. Statt in der Globalisierung einen naturwüchsigen Prozess zu sehen, der entwickelte Industriestaaten wie die Bundesrepublik zwingt, soziale und Umweltstandards zu senken, damit sie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben können, ist es notwendig, die neoliberale Modernisierung bzw. Umstrukturierung fast aller Lebensbereiche nach dem Vorbild des Marktes als gesellschaftspolitisches Großprojekt zu kritisieren.
Auf der politischen Agenda, die sich in der rot-grünen Regierungspraxis widerspiegelt, steht nicht etwa weniger, sondern ein anderer Staat. Es geht also keineswegs um die Liquidation des Sozialstaates, vielmehr um seine Reorganisation nach einem neoliberalen Konzept, das Leistungsreduktionen (z.B. “Nullrunden” für Rentner/innen), Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen (Erhöhung des Rentenzugangsalters) bzw. Verkürzung der Bezugszeiten (von Arbeitslosengeld) und die Reindividualisierung sozialer Risiken beinhaltet. Dadurch verändert sich der Sozialstaat grundlegend, und zwar in mehrfacher Hinsicht:
Folgen der neoliberalen Hegemonie für die soziale Symmetrie, den inneren Frieden und die Demokratie
Die gegenwärtige US-Amerikanisierung des Sozialstaates führt perspektivisch auch zu einer US-Amerikanisierung der Sozialstruktur, d.h. einer wachsenden Polarisierung zwischen Arm und Reich. Ulrich Beck sprach in seinem 1986 erschienenen Buch “Risikogesellschaft” von einem sozialen “Fahrstuhl-Effekt”, der alle Klassen und Schichten gemeinsam nach oben befördert habe. Betrachtet man die jüngste Gesellschaftsentwicklung, kann eher von einem Paternoster-Effekt die Rede sein: In demselben Maße, wie die einen nach oben gelangen, geht es für die anderen nach unten. Mehr denn je gibt es im Zeichen der Globalisierung ein soziales Auf und Ab, das Unsicherheit und Existenzangst für eine wachsende Zahl von Menschen mit sich bringt.
Jenseits des Atlantiks ist die sozialräumliche Trennung von Bevölkerungsgruppen schon viel klarer erkennbar, samt ihren verheerenden Folgen für den Zusammenhalt der Gesellschaft: einer gestiegenen (Gewalt-)Kriminalität, des Drogenmissbrauchs und einer Verwahrlosung der öffentlichen Infrastruktur. Die neoliberale Hegemonie, wie man die öffentliche Meinungsführerschaft des Marktradikalismus nennen kann, verschärft aber nicht nur die soziale Asymmetrie, ist vielmehr auch eine Gefahr für den inneren Frieden und die Demokratie.
Deregulierung bedeutet nicht Verzicht auf staatliche Rahmensetzung, vielmehr deren Konzentration auf die Förderung des wirtschaftlichen Leistungswettbewerbs und der rentablen Kapitalverwertung. Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und -zeiten bringt für die Beschäftigten keine oder nur wenige Vorteile, weil sie sich den wirtschaftlichen Verwertungsbedingungen unterordnen müssen und nicht selbst bestimmen können, wann und unter welchen Bedingungen sie arbeiten wollen. Privatisierung öffentlichen Eigentums und sozialer Dienstleistungen läuft auf Entpolitisierung, diese wiederum auf die Entdemokratisierung der Gesellschaft hinaus, weil nunmehr der Bourgeois jene Entscheidungen trifft, die eigentlich dem Citoyen bzw. dem Gemeinwesen und seinen gewählten Repräsentant(inn)en vorbehalten bleiben sollten. Überhaupt werden Menschen der Möglichkeit beraubt, in gesamtgesellschaftliche Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse einzugreifen. Wie soll z.B. eine alleinerziehende Mutter, die nicht einmal weiß, ob sie genug Geld für die nahende Klassenfahrt ihres Kindes erübrigen kann, am politischen Leben teilhaben?
In der neoliberalen Weltsicht erscheint Armut nicht als gesellschaftliches Problem, vielmehr als selbst verschuldetes Schicksal, das im Grunde eine gerechte Strafe für Leistungsverweigerung oder die Unfähigkeit darstellt, sich bzw. seine Arbeitskraft auf dem Markt mit ausreichendem Erlös zu verkaufen, wie der Reichtum umgekehrt als angemessene Belohnung für eine Leistung betrachtet wird, die auch ganz schlicht darin bestehen kann, den Tipp eines guten Anlageberaters zu befolgen. Dagegen sind hohe Löhne bzw. Lohnnebenkosten der wirtschaftliche Sündenfall schlechthin und müssen als Ursache für die Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche in Deutschland herhalten.
Fast allen bekannten Plänen, die den Sozialstaat sanieren sollen, wie den Konzepten der sog. Hartz-Kommission “zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit” sowie der sog. Rürup-Kommission “für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme” und der von Bundeskanzler Gerhard Schröder präsentierten “Agenda 2010” liegt das neoliberale Dogma zugrunde, wonach die Arbeitslosigkeit in erster Linie durch Senkung der Lohnnebenkosten bekämpft werden muss. Es kommt aber in Wirklichkeit gar nicht auf die Höhe der (gesetzlichen) Personalzusatzkosten, also der von den Arbeitgebern zu entrichtenden Sozialversicherungsbeiträge, an. Entscheidend ist vielmehr die Höhe der Lohnstückkosten, welche in der Bundesrepublik aufgrund einer überproportional wachsenden Arbeitsproduktivität seit Jahren stärker sinken als in den meisten mit ihr auf dem Weltmarkt konkurrierenden Ländern, was im letzten Jahr zu einem Rekordüberschuss in der Handelsbilanz von mehr als 100 Mrd. EUR führte. Nicht zufällig ist Deutschland – bezogen auf die Leistungsfähigkeit pro Kopf der Bevölkerung – mit großem Abstand “Exportweltmeister”. Hinge das Wohl und Wehe einer Volkswirtschaft von niedrig(er)en Lohn- bzw. Lohnnebenkosten ab, wie Neoliberale behaupten, müssten in Bangladesch und Burkina Faso längst Vollbeschäftigung und allgemeiner Luxus herrschen!
Wer die Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik auf gestiegene Personalzusatzkosten zurückführt, wie es die Arbeitgeber, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und die Bundesregierung tun, verwechselt Ursache und Wirkung: Die hohe Erwerbslosigkeit ist zwar für die hohen Lohnnebenkosten verantwortlich, aber nicht umgekehrt. Daher erwies sich der Glaube, die (teilweise) Umstellung des Sozialsystems von der Beitrags- auf Steuerfinanzierung schaffe Arbeitsplätze, wirtschaftliche Stabilität und mehr soziale Gerechtigkeit, in der jüngsten Vergangenheit genauso als Illusion wie die der Riester’schen Rentenreform zugrunde liegende Auffassung, das Kapitaldeckungsprinzip löse die Probleme der Alterssicherung einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung (zumindest besser als das Umlageverfahren). Wer die Lohnnebenkosten senken will, um “den Faktor Arbeit zu entlasten”, macht ihn in Wahrheit billiger für das Kapital und belastet damit die Arbeitnehmer/innen zusätzlich.
Gegen eine Zurückdrängung der Beitrags- und einen Ausbau der Steuerfinanzierung des sozialen Sicherungssystems sprechen im Wesentlichen vier Gründe:
Die solidarische Bürgerversicherung als einzige Alternative zum neoliberalen Um- bzw. Abbau des Sozialstaates
M.E. geht es darum, die spezifischen Nachteile des deutschen Sozialstaatsmodells auszugleichen, ohne seine besonderen Vorzüge preiszugeben. Strukturdefekte des “rheinischen” Wohlfahrtsstaates bilden seine duale Architektur (Spaltung in die Sozialversicherung und die Sozialhilfe), seine strikte Lohn- und Leistungsbezogenheit (Äquivalenzprinzip) sowie seine Barrieren gegen Egalisierungs-tendenzen (Beitragsbemessungsgrenzen; Versicherungspflicht- bzw. -fluchtgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung; Freistellung prekärer Beschäftigungsverhältnisse von der Sozialversicherungs- bzw. Steuerpflicht). Der entscheidende Pluspunkt des Bismarck’schen Sozialsystems gegenüber anderen Modellen liegt jedoch darin, dass seine Geld-, Sach- und Dienstleistungen keine Alimentation von Bedürftigen und Benachteiligten aus Steuermitteln darstellen, die je nach politischer Opportunität widerrufen werden kann, sondern durch Beitragszahlungen erworbene (und verfassungsrechtlich garantierte) Ansprüche.
Das in der Bundesrepublik bestehende System der sozialen Sicherung speist sich nur zu etwa einem Drittel aus Steuereinnahmen; zwei Drittel der Finanzmittel stammen aus Beiträgen der Versicherten und ihrer Arbeitgeber. Umso wichtiger wäre es, durch eine Übertragung des Prinzips der ökonomischen Leistungsfähigkeit auf dieses Gebiet für mehr Beitragsgerechtigkeit zu sorgen. Statt alle nicht dem Äquivalenzprinzip entsprechenden Leistungen gleich als “versicherungsfremd” zu brandmarken, was der Logik gewinnorientierter Privatversicherungen entspricht, müsste man überlegen, wie ein Mehr an solidarischer Umverteilung innerhalb der Sozialversicherungzweige zu realisieren und die Öffentlichkeit dafür zu gewinnen ist.
An die Stelle der bisherigen Arbeitnehmer- muss m.E. eine allgemeine, einheitliche und solidarische Bürgerversicherung treten. Allgemein zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung sämtliche dafür geeignete Versicherungszweige (Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung) umfasst. Schon jetzt stellt die Gesetzliche Unfallversicherung insofern einen Sonderfall dar, als sie sich nur aus Beiträgen der Arbeitgeber finanziert. Der letzte Versicherungszweig, die Arbeitslosenversicherung, könnte nach einem Vorschlag des “Forums Demokratische Linke 21” in eine “Arbeitsversicherung” umgewandelt werden, die auch sämtliche Selbstständigen und Freiberufler/innen aufnehmen soll. Damit schlösse sich der Kreis zu einer beinahe alle Einwohner/innen als Mitglieder umfassenden Volksversicherung.
Einheitlich zu sein heißt in diesem Zusammenhang, dass neben der Bürgerversicherung keine mit ihr konkurrierenden Versicherungssysteme existieren. Private Versicherungsunternehmen müssten sich auf die Abwicklung bestehender Verträge (Wahrung des Bestandsschutzes), Zusatzangebote und Ergänzungsleistungen beschränken. Solidarisch zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung zwischen den ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellt. Nicht nur auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten (Zinsen, Dividenden, Tantiemen, Miet- und Pachterlöse) wären Beiträge zu erheben. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis bedeutet dies nicht, dass Arbeitgeberbeiträge entfallen. Sie sollten jedoch nicht mehr an die Bruttolohn- und -gehaltssumme gekoppelt werden, was beschäftigungsintensive Betriebe übermäßig belastet. Ende der 1970er-/Anfang der 1980er-Jahre wurde über alternative Erhebungsmethoden diskutiert. Damals schlugen sozialdemokratische Politiker/innen, Gewerkschafter/innen und Wissenschaftler/innen vor, die Bruttowertschöpfung eines Unternehmens als Bemessungsgrundlage zu wählen. Durch den als “Maschinensteuer” bezeichneten Wertschöpfungsbeitrag sollte eine ausgewogenere Belastung erreicht und ein positiver Beschäftigungseffekt erzielt werden. Auch wenn man sich davon keine Wunderdinge versprechen sollte, hätte es der Wertschöpfungsbeitrag verdient, wieder mehr Aufmerksamkeit zu finden.
Nach oben darf es Beitragsbemessungs- sowenig wie Versicherungspflichtgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben würden, sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte zu entziehen und in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen. Wer den nach Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht selbst entrichten kann, muss finanziell aufgefangen werden. Vorbild dafür könnte die Gesetzliche Unfallversicherung sein. Dort dient der Staat gewissermaßen als Ausfallbürge für Vorschulkinder, Schüler/innen und Studierende, die einen Kindergarten, eine allgemeinbildende Schule bzw. eine Hochschule besuchen.
Bürgerversicherung schließlich heißt, dass Mitglieder aller Berufsgruppen, d.h. nicht nur abhängig Beschäftigte, aufgenommen werden. Da sämtliche Wohnbürger/innen in das System einbezogen wären, blieben weder Selbstständige, Freiberufler/innen, Beamte, Abgeordnete und Minister noch Ausländer/innen mit Daueraufenthalt in der Bundesrepublik außen vor. Es geht primär darum, die Finanzierungsbasis des Sozialsystems zu verbreitern und den Kreis seiner Mitglieder, zu erweitern. Bürgerversicherung bedeutet, dass es sich um eine Versicherungslösung handelt, also gewährleistet sein muss, dass ihre Mitglieder, soweit sie dazu finanziell in der Lage sind, Beiträge entrichten und entsprechend geschützte Ansprüche erwerben. Dies schließt keineswegs aus, dass sich der Staat mit Steuergeldern an ihrem Auf- und Ausbau beteiligt. Die geplante Bürgerversicherung könnte zum Einfallstor für einen Systemwechsel werden, sofern sie nicht nach dem Versicherungsprinzip konstruiert wäre, sondern aus Steuermitteln finanziert würde.
* Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Leiter der Abteilung Politikwissenschaft an der Universität Köln. Der hier vorliegende Text enstpricht einem Referat, das der Autor beim 10. Friedenspolitischen Ratschlag am 6./7. Dezember 2003 in Kassel hielt.
Buchveröffentlichungen des Autors zum Thema:
Originalabdruck: www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Globalisierung/butterwegge.html
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=1139