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Titel: Venezuela: Urbane Landwirtschaft nach kubanischem Vorbild im Herzen von Caracas
Datum: 14. April 2024 um 12:00 Uhr
Rubrik: Ökonomie, Länderberichte
Verantwortlich: Redaktion
Urbane Gärten, die sich an den in der kubanischen Sonderperiode entwickelten Methoden orientieren, werden zur Förderung der Ernährungssicherung eingesetzt. Der Garten Organoponico Bolívar 1[1] ist ein ca. 0,8 Hektar großes Grundstück, eingekeilt zwischen Betonhochhäusern im Zentrum von Caracas. Mit in Kuba entwickelten Methoden der urbanen Landwirtschaft werden in diesem Pilotprojekt eine Vielzahl von Nahrungsmitteln produziert und gleichzeitig Workshops für Erwachsene und Kinder angeboten. Das Projekt Bolívar 1 ist dem Ministerium für urbane Landwirtschaft angegliedert, das sich in unmittelbarer Nachbarschaft befindet, und untersteht der venezolanischen Gesellschaft für urbane und periurbane Landwirtschaft. In diesem Interview sprechen wir mit der Projektkoordinatorin Glenda Vivas über die Geschichte des Projekts, wie damit auf die durch die Blockade verursachte Krise reagiert wird, und über die Notwendigkeit einer Umstellung auf ökologische Landwirtschaft weltweit. Von Glenda Vivas (das Interview führte Cira Pascual Marquina).
Kannst du etwas über die Geschichte des Gartens Bolívar 1 erzählen? Wie lange gibt es ihn schon?
Der Garten Organoponico Bolívar 1 wurde am 31. März 2003 von Comandante Hugo Chávez Frías gegründet. Er war als Prototyp – sozusagen als Keimzelle – für die urbane Landwirtschaft in Venezuela gedacht. Mit diesem Garten wollte Chávez zeigen, dass auf vielen unserer ungenutzten städtischen Grundstücken nützliche Nahrungsmittelpflanzen angepflanzt werden können, um die Versorgung der Menschen zu gewährleisten.
Der Garten Bolívar 1 liegt zwischen zwei Hauptverkehrsstraßen von Caracas und versorgt die Stadtbewohner mit einer Vielzahl von gesunden Lebensmitteln, und er dient als Bildungszentrum für die Gemeinschaft.
Im Laufe der Zeit hat sich Bolívar 1 auch zu einem Zentrum für verschiedene städtische Initiativen zur Lebensmittelproduktion entwickelt, darunter vertikale Hühnerställe, Kaninchenzuchtgehege und hydroponische Systeme. Kurz gesagt, der Garten Bolívar 1 ist eine Initiative zur Förderung der Ernährungssouveränität, was in einem belagerten Land besonders wichtig ist.
Wie kam es zu diesem Projekt und den hier angewandten agroökologischen Methoden?
Der Garten Organoponico Bolívar 1 geht auf das Jahr 2003 zurück, kurz nach dem Putsch im April 2002 und der Ölsabotage [Dezember 2002 bis Februar 2003]. In dieser Zeit besuchte Chávez Kuba, wo er die Initiativen für urbane Landwirtschaft kennenlernte, die während der Sonderperiode entstanden waren. Das kubanische Modell hat ihn und uns gelehrt, dass ungenutzte städtische Flächen zu einem Mittel des Widerstands gegen die imperialistische Aggression werden können.
Inwieweit orientieren sich die venezolanischen Organoponico-Gärten am kubanischen Vorbild?
Der Garten Organoponico Bolívar 1 ist zwar stark am kubanischen Modell orientiert, aber wir haben ihn an unsere Umweltbedingungen und verfügbaren Ressourcen angepasst.
Eines der Hauptmerkmale des kubanischen Organoponico-Anbaus ist die Praxis der geschlossenen Bebauung mit Hügeln. Dabei werden Hochbeete mit Erde angelegt, in die Samen oder Setzlinge gepflanzt werden. Diese Technik fördert die Drainage, sorgt für eine bessere Durchlüftung der Wurzeln und hilft bei der Unkrautbekämpfung.
Da guter Boden in jeder Stadt eine begrenzte Ressource ist, kamen die Kubaner auf die Idee, die Hügelbeete mit Asbestdächern einzufassen. Warum Asbestdächer? Kuba stand (und steht) unter einer Blockade, wodurch die Einfuhr einer Vielzahl von Waren einschränkt ist; also wurden die Gartenbeete eben mit dem gebaut, was verfügbar war.
In Venezuela haben wir das kubanische Modell an unsere besonderen Gegebenheiten angepasst. Zum einen wurden die Auswahl der Pflanzen und die Fruchtfolge an den Besonderheiten unseres Klimas und Bodens ausgerichtet. Zweitens war Venezuela zum Zeitpunkt des Gartenbaus noch nicht von Sanktionen betroffen, sodass wir konventionelle Baumaterialien für die Einfassung der Beete benutzen und die Verwendung von Asbest vermeiden konnten.
Letztendlich sind Organoponico-Gärten sowohl in Kuba als auch in Venezuela ressourceneffiziente Initiativen, die das strategische Ziel verfolgen, die Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen.
Du hast die Methode der urbanen Landwirtschaft in Kuba kennengelernt. Kannst du uns mehr über deine Ausbildung erzählen?
Gerne. Ich habe an einer technischen Fachschule für Landwirtschaft im Bundesstaat Táchira studiert, später habe ich in Kuba eine ausgezeichnete Ausbildung in urbaner Landwirtschaft erhalten. Trotz der schwierigen Umstände haben die Kubaner ein nachhaltiges Modell für die urbane Landwirtschaft entwickelt, das nur minimale Ressourcen benötigt und dennoch relativ hohe Erträge erzielt – sogar auf brachliegenden städtischen Grundstücken! Diese Technik, die als Organoponico-Gartenbau bekannt ist, ist heute in Havanna weit verbreitet, und man kann im Betondschungel der Stadt viele prosperierende Gärten sehen.
Wie viele Leute arbeiten mit dir im Garten Organoponico Bolívar 1?
Ich koordiniere ein Team von 19 Personen, von denen sieben Menschen mit Behinderungen sind. Unser Team arbeitet als geschlossene Einheit und kümmert sich gemeinsam um die verschiedenen Aufgaben im Garten, einschließlich Kompostierung, Bodenvorbereitung, Unkrautjäten, Ernte, Sicherheit und Verteilung der Produkte.
Was bringt der Garten in quantitativer und qualitativer Hinsicht an Ertrag ein?
Im Laufe der Jahre haben wir unsere Techniken und Methoden optimiert, um die Produktivität und Nachhaltigkeit zu maximieren. Zurzeit können wir bei kurzzyklischen Kulturen etwa sieben Kilogramm pro Quadratmeter erzeugen.
Bolívar 1 erstreckt sich über 8.283 Quadratmeter und ist in verschiedene Zonen unterteilt, wie die „Weiße Zone” für Blattgemüse und die „Orangene Zone” für andere kurzzyklische Kulturen wie Paprika, Lauch und Frühlingszwiebeln. Insgesamt gibt es 150 Pflanzbeete. Am östlichen Rand haben wir einen traditionellen Conuco[2] mit mehrjährigen Pflanzen wie Mango, Stachelannone, Avocado und Wegerich.
Wir haben auch eine Reihe von Kompostiergruben zur Verbesserung der Bodenqualität und zur Herstellung von Humusdünger. Zudem verfügen wir über eine 120 Quadratmeter große Pflanzschule, in der wir gleichzeitig 28.000 Setzlinge ziehen können. Die Pflanzen, die wir in Bolívar 1 anbauen, stammen zu 100 Prozent aus dieser Gärtnerei, die aber auch andere städtische Gärten in Caracas beliefert.
Unsere Produktion ist frei von Agrochemikalien. Wir verwenden keine industriellen Düngemittel oder chemischen Pestizide. Stattdessen stellen wir unseren eigenen Dünger mit Hilfe von Wurmbeeten her, und wir verwenden eine Vielzahl von Pflanzen, um Schädlinge fernzuhalten, von Farbfängern wie Sonnenblumen bis hin zu Heilpflanzen, die schädliche Insekten abwehren. Außerdem haben wir mit Zuckerrohr Windbarrieren geschaffen.
Vieles davon hat seinen Ursprung in alten Anbaumethoden, die von der konventionellen Landwirtschaft verdrängt wurden. Sie stellen billige und effiziente Lösungen für die Erzeugung gesunder Lebensmittel dar.
Wie vertreibt ihr die Produkte von Bolívar 1?
Wir haben am Eingang einen kleinen Laden für den Direktverkauf an die umliegende Nachbarschaft. Außerdem arbeiten wir mit nahe gelegenen Schulen zusammen, um so einen größeren Verteilungsradius der Produkte zu gewährleisten. Darüber hinaus besteht unsere wichtigste „Vertriebsarbeit” darin, die Botschaft zu verbreiten, dass die organoponische Landwirtschaft eine echte Alternative zur Agrarindustrie darstellt, weil sie nachhaltige und biologische Produkte anbietet, so den CO2-Fußabdruck reduziert und gleichzeitig zur Ernährungssouveränität beiträgt. In der Organoponico-Landwirtschaft geht es darum, Familien mit gesunden, lokal angebauten Lebensmitteln zu versorgen.
Vor circa 20 Jahren, als der Garten Organoponico Bolívar 1 gegründet wurde, dachten viele, der Organoponico-Gartenbau sei nur eine Marotte von Chávez, andere sahen darin allenfalls eine dekorative Aufwertung des Stadtbildes. Die Geschichte hat die Skeptiker jedoch eines Besseren gelehrt, denn es hat sich herausgestellt, dass der Garten noch viel mehr ist als das. Die urbane Landwirtschaft ist eine strategische Option für die Ernährungssouveränität.
Kannst du uns mehr über die Bedeutung von Organoponiko-Initiativen für ein Land erzählen, das von den US-Sanktionen betroffen ist?
Organoponico-Projekte verbinden ökologische Praktiken mit städtischer Landwirtschaft. Die urbane ökologische Landwirtschaft bietet einen nachhaltigen Weg zur Ernährungssicherung, da sie die Abhängigkeit von Importen verringert und gleichzeitig die negativen Auswirkungen der konventionellen Landwirtschaft abmildert. Sie ist auch weit weniger abhängig von fossilen Brennstoffen, da die Lebensmittel kürzere Wege zurücklegen, und wir verzichten auf die Anwendung gefährlicher Giftstoffe, wie sie in der konventionellen Landwirtschaft zum Einsatz kommen.
Letzteres ist für die gesamte Menschheit sehr wichtig, denn die fruchtbarsten Böden der Welt sind bereits durch den Missbrauch von Agrochemikalien erodiert. Wenn wir weiterhin so viele Agrochemikalien einsetzen wie bisher, werden die Erträge in den nächsten 20 Jahren zurückgehen.
Bolívar 1 erstreckt sich über 8.283 Quadratmeter und ist in verschiedene Zonen unterteilt
QUELLE: PEDER ØSTRING UND MINPPAU
Das Projekt Bolívar 1 hat seine Höhen und Tiefen erlebt. Interessanterweise hat es in den letzten Jahren den größten Wachstumsschub erfahren. Welche Faktoren haben dazu beigetragen?
Ich denke, dass es gerade die Widrigkeiten waren, die uns wachsen ließen. Als die Gewinne aus dem Ölgeschäft im Überfluss vorhanden waren und die Wirtschaft boomte, wurden wir selbstzufrieden. Doch mit dem Beginn der US-Sanktionen nahm die Entwicklung an Fahrt auf. Und wohlgemerkt, ich spreche nicht nur von Bolívar 1, ich spreche von ganz Venezuela. Als die einseitigen Zwangsmaßnahmen in Kraft traten, war das Volk zunächst wie gelähmt, erkannte dann seine Resilienz und ging schließlich zum Widerstand über. Wir kommen gerade wieder auf die Beine!
Dein Team fördert auch andere Initiativen für urbane Landwirtschaft. Kannst du uns mehr über diese Initiativen erzählen?
Wir arbeiten mit organisierten Gemeinschaften zusammen, um ungenutzte Grundstücke umzuwidmen und in florierende städtische Gärten zu verwandeln. Dazu entwickeln wir gemeinsam mit den Menschen vor Ort umfassende Pläne, bieten Schulungen an und stellen Setzlinge zur Verfügung.
Wir arbeiten mit Kommunen[3] wie Ana Karina Rote in San Martín und der Asociación Viviendo Venezolano [Organisation zur Wohnungsbeschaffung] Jorge Rodríguez Padre in Antímano zusammen. Darüber hinaus kooperieren wir mit Schulen und unterhalten Partnerschaften mit rund 400 Kleinerzeugern, die sich der urbanen Landwirtschaft verschrieben haben.
Die Gemeinschaften werden mithilfe der Organoponico-Initiativen in die Lage versetzt, die Kontrolle über ihre eigenen Nahrungsquellen zu übernehmen!
Im Anschluss an das Interview mit Glenda Vivas sprachen wir mit Janet Brito, einer bolivarischen Milizionärin, die ebenfalls im Garten Bolívar 1 arbeitet.
Was kannst du über dieses Projekt sagen?
Es geht uns darum, Lebensmittel im Einklang mit der Natur zu produzieren und gleichzeitig den städtischen Raum aus den Fängen der kapitalistischen Ausbeutung zurückzuerobern. Zu unseren Aufgaben gehören die Pflege der Setzlinge, die Aufzucht der Pflanzen und die Ernte der Erzeugnisse. Wir organisieren aber auch Workshops für Kinder, Erwachsene und Senioren. Wir setzen uns dafür ein, „sauerstoffreiche” Räume zu schaffen, in denen die Kreativität fließen und das Leben gedeihen kann.
Welche Bedeutung hat dieses Gartenprojekt angesichts der imperialistischen Blockade?
Indem wir die Umwelt pflegen, gesunde Produkte anbauen und uns um die Vögel und Blumen kümmern, widersetzen wir uns der Unterdrückung.
Der Conuco, der Heilpflanzengarten und unsere natürlichen Düngemittel bedeuten nicht, dass wir rückständig sind. Im Gegenteil, wir bauen mit traditionellen Methoden auf und kombinieren sie mit moderner Technologie: Wir verwenden Nährstoffe, die von Tieren stammen, zur Düngung des Gartens, wir setzen Pferdemist ein, um den Säuregehalt des Bodens auszugleichen, und um den Boden zu nähren und die Erträge zu steigern, gewinnen wir Kalium, Kalzium und Eisen aus dafür geeigneten Samen.
Die urbane ökologische Landwirtschaft ist eine unserer Waffen im Kampf gegen die US-Blockade.
Übersetzung: Elinor Winter, Amerika21
Titelbild: PEDER ØSTRING UND MINPPAU
„Pueblo a Pueblo” in Venezuela: Nahrung ist keine Ware, sondern ein Menschenrecht
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[«1] Organopónicos oder Organoponik ist ein System der städtischen Landwirtschaft mit biologischen Gärten, das seinen Ursprung in Kuba hat. Siehe amerika21, Kuba: Städtische Agrarwirtschaft mit großem Erfolg
[«2] Haus- oder Bauerngarten, in dem Obst, Gemüse und Heilpflanzen angebaut werden
[«3] Die Kommunen (comunas) sind Zusammenschlüsse mehrerer Consejos Comunales auf lokaler Ebene. Die Consejos Comunales (Kommunale Räte) sind eine Struktur der Selbstverwaltung in den Gemeinden. Gewählte Nachbarschaftsvertreter sind zur Planung und Haushaltsgestaltung in lokalpolitischen Angelegenheiten berechtigt. Sie sind seit 2006 gesetzlich verankert, haben Verfassungsrang und sollen die Grundlage für den Kommunalen Staat bilden. Ziel ist die Selbstregierung des Volkes und die Überwindung des bürgerlichen Staates
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