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Titel: Sinkende Inflation, sinkende Preise?
Datum: 5. April 2024 um 10:07 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Innen- und Gesellschaftspolitik, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Jens Berger
Das Statistische Bundesamt konnte Anfang der Woche eine positive Nachricht vermelden. Mit voraussichtlich lediglich 2,2 Prozent war die Inflationsrate für den März so niedrig wie seit langem nicht mehr. In den Medien wurde diese Meldung erstaunlich interpretiert – so war die Rede von „sinkenden Preisen“, einem „Ende des Teuer-Schocks“ oder gar dem „Ende der Inflation“. Das ist teils verwirrend, teils schlichtweg falsch. Um die Zusammenhänge zu verstehen, ist vielleicht ein kleiner Einblick in die Grundlagen hilfreich. Sollten Sie über ausreichende ökonomische Kenntnisse verfügen, können Sie diesen Artikel getrost ignorieren. Aber vielleicht findet der eine oder andere Leser eine Einführung in dieses sehr komplexe Thema ja hilfreich. Von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Was heißt es eigentlich, wenn die Statistiker melden, dass die Preise um 2,2 Prozent gestiegen sind? Dazu muss man erst einmal schauen, was im Vergleich wozu teurer geworden ist. Basis für die sogenannte Inflationsrate ist ein statistischer Warenkorb. Enthalten sind darin rund 600 verschiedene Güter und Dienstleistungen, deren Anteil so gewichtet ist, dass es den durchschnittlichen Haushaltsausgaben entspricht. Ihre individuellen Ausgaben werden selbstverständlich anders sein. So machen z.B. alkoholische Getränke und Tabakwaren 3,76 Prozent des Warenkorbs aus. Wenn Sie weder trinken noch rauchen, spielen die Preise für Schnaps und Zigaretten für Sie jedoch keine Rolle. Wenn Sie trinken und rauchen, ist es hingegen sehr wahrscheinlich, dass sie mehr als vier Prozent ihrer monatlichen Ausgaben für diese Produkte ausgeben. Von einer Preiserhöhung, z.B. einer Erhöhung der Tabaksteuer, sind Raucher natürlich überproportional betroffen, während dies auf Nichtraucher gar keinen Einfluss hat. Ähnlich verhält es sich mit Ausgabenkategorien, die einen großen Teil des Warenkorbs ausmachen. Nur Mieter zahlen Miete. Nur Autofahrer kaufen Autos und tanken. Nur Haushalte mit einer Gasheizung bezahlen Gas – und so weiter, und so fort. So kommt es, dass der statistische Warenkorb eigentlich für keinen Haushalt wirklich 100 Prozent repräsentativ ist, aber dennoch für den Durchschnitt schon eine recht brauchbare Größe darstellt.
Ein weiterer Fallstrick fürs Verständnis ist der zeitliche Bezug. Die prozentualen Angaben beziehen sich immer – sofern es nicht ausdrücklich anders benannt ist – auf den Vorjahresmonat. Sie geben also stets nur die Preisänderung zu diesem Stichtag an. Das kann zu Fehlinterpretationen führen. So sind beispielsweise aktuell in der Tat die Haushaltspreise für Erdgas im Vergleich zum Vorjahresmonat um 2,5 Prozentpunkte gesunken. Der Vorjahresmonat gehörte jedoch beim Erdgas lt. Statistischem Bundesamt zu den historisch teuersten Monaten. Nimmt man nicht den Februar[*] 2023, sondern den Januar 2020 als Basis, so ist das Erdgas nicht um 2,5 Prozent billiger, sondern um 91,5 Prozent teurer geworden – der Preis hat sich also in etwas mehr als vier Jahren fast verdoppelt. So entsteht die paradoxe Situation, dass sowohl die Aussage „Gas wird billiger“ als auch „Gas ist fast doppelt so teuer“ vollkommen korrekt sind. Es kommt halt immer auf den Bezug an.
Wer die aktuellen Daten einordnen will, sollte seinen Blick daher nicht nur auf die Entwicklung in Bezug auf den Vorjahresmonat, sondern auf die längerfristige Entwicklung werfen. Das Jahr 2020 bietet sich hier an, da das Statistische Bundesamt dieses Jahr als Basis in seinen Tabellen selbst verwendet. Man könnte aber auch jeden anderen Bezugszeitraum nehmen. Während der Preis des statistischen Warenkorbs – also die offizielle Inflationsrate – sich im Vergleich zum Vorjahresmonat um 2,2 Prozent verteuert hat, beträgt die Teuerung im Vergleich zum Januar 2020 stolze 18,1 Prozent.
Einzelne Positionen weisen sogar noch deutlich höhere Werte auf. So sind die Preise für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke sogar um 32 Prozent im Vergleich zum Januar 2020 gestiegen, während sie im Vergleich zum Vorjahresmonat sogar um 0,7 Prozent gesunken sind. Aufgrund dieser Zahl meldete die Wirtschaftswoche erfreut, das „Nahrungsmittel erstmals billiger“ wurden und die „Teuerung auf dem Rückzug“ sei. Die Aussage ist verwirrend, da der Bezugsmonat März 2023 (+31,5 Prozent gegenüber Januar 2020) der – Zufall oder nicht – teuerste Monat des Jahres 2023 war. Gegenüber März 2023 sind die Nahrungsmittelpreise in der Tat um 0,7 Prozent gesunken, gegenüber August 2023 sind sie jedoch beispielsweise um 0,9 Prozent gestiegen. Die Aussage, „Nahrungsmittel erstmals billiger“, ist also streng genommen falsch. Korrekt wäre die Aussage: „Nahrungsmittel erstmals seit längerer Zeit etwas billiger als im Vorjahresmonat“. Doch wer würde so eine Überschrift lesen wollen? Und vor allem: Wo wäre bei dieser Überschrift die positive Nachricht?
Wenn man den Preisentwicklungen etwas Positives abgewinnen will, dann ist dies der Umstand, dass der große Preisschock in der Tat überwunden ist. Das heißt aber nicht, dass die Teuerung damit auch überwunden ist. Nicht die Preise, sondern die Teuerung geht zurück. Das ist verwirrend? Das mag daran liegen, dass die vielzitierte „Inflation“ oft falsch dargestellt wird.
Lesen Sie dazu den Hintergrundartikel: „Leitzinserhöhung zur Inflationsbekämpfung? Was für eine Schnapsidee“
Die NachDenkSeiten hatten in den letzten Jahren stets darauf hingewiesen, dass wir derzeit keine klassische Inflation, sondern vielmehr einen Preisschock beobachten. Dies kann man recht gut beim Erdgas beobachten. Mit der politisch gewollten Umstellung von russischem Röhrengas auf meist amerikanisches LNG hat sich der Endkundenpreis (s.o.) seit Beginn der Sanktionen gegen Russland nahezu verdoppelt. Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, dass sich der Preis in den nächsten zwei Jahren noch einmal verdoppelt. Wir haben keine dynamische Entwicklung, wie es bei einer „Inflation“ ja die Regel ist, sondern einen einmaligen Preisschock. Und wenn man immer nur die Preisveränderung gegenüber dem Vorjahresmonat betrachtet, ist dieser Preisschock natürlich irgendwann überwunden.
So betrug die Preissteigerung für Energie bei den Erzeugerpreisen im August 2022 im Vergleich zum Vorjahresmonat schwindelerregende 139 Prozent. Wenn die Energiekosten nun von August 2022 auf August 2023 auf diesem extrem hohen Niveau geblieben wären, hätten Statistiker, Politik und Medien ein Stagnieren der Preise und ein „Ende der Preissteigerungen“ feiern können – und dies, obgleich die Energiekosten im Vergleich zum Vorvorjahresmonat ja immer noch schwindelerregende 139 Prozent höher sind. In der Tat sind die Preise seit dem Peak im August 2022 sogar wieder etwas gefallen, was dann mit einem „Rückgang der Erzeugerpreise“ als Beleg für die Richtigkeit der Sanktionspolitik gefeiert wurde. Das ist natürlich absurd, waren die Preise zu diesem Zeitpunkt doch doppelt so hoch wie vor den Sanktionen.
Inflation oder Preisschock – was heißt das für Sie? Wenn Sie selbst Ihr Einkommen in den letzten vier Jahren jährlich um zwei Prozent netto steigern konnten, dann ist Ihr Einkommen insgesamt gegenüber dem Jahr 2020 um 6,12 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum sind die Verbraucherpreise (also der gesamte Warenkorb) jedoch um 18,1 Prozent gestiegen. Lebensmittel sind um 32 Prozent, Erdgas um 91,5 Prozent, Strom um 28,6 Prozent, Benzin und Diesel um 44 Prozent, Restaurantbesuche um 26,4 Prozent und sogar die Bestattungsdienstleistungen sind um 17 Prozent im Preis gestiegen. Mit einer Einkommenssteigerung von zwei Prozent pro Jahr – also 6,12 Prozent für den gesamten Vergleichszeitraum – ist für Sie also durch den Preisschock nahezu alles deutlich teurer geworden. Es gibt nur sehr wenige Güter und Dienstleistungen, die in diesem Zeitraum faktisch billiger geworden sind. Dazu zählen beispielsweise Fernsehgeräte, die in der Tat heute 13 Prozent günstiger als im Jahr 2020 sind. Wenn Sie also den Großteil Ihres Einkommens für Fernsehgeräte ausgeben, können Sie in der Tat behaupten, dass die Preise nicht etwa gestiegen, sondern gesunken sind und es keine Inflation mehr gibt. Sie Glücklicher.
Für alle anderen hat der Preisschock zu einem sehr deutlichen Rückgang der Kaufkraft geführt. Wir sind also ärmer geworden und das kann auch jede noch so selektive Interpretation der Verbraucherpreisstatistik nicht kaschieren. Es mag durchaus zutreffend sein, dass der Preisschock nun überwunden ist und wir wieder „normale“ Zeiten bekommen, in denen die Preissteigerung ungefähr den Einkommenssteigerungen entspricht. Der Preisschock der letzten Jahre ist damit jedoch nicht ausgeglichen. Die Preise sind ja weiterhin hoch. Um den Preisschock wirklich auszugleichen, müsste die Inflation nicht sinken, sondern es müsste über Jahre hinweg eine hohe Deflation kommen. Das wird nicht passieren. Wir befinden uns nun nach dem Preisschock vor allem bei den Energiekosten in einer Hochpreisära. Dumm nur, dass unsere Einkommen nicht im gleichen Maße gestiegen sind. Das sind die Kosten, die wir für die Sanktionen bezahlen; das ist jedoch nur den Wenigsten so bewusst.
Titelbild: Maxx-Studio/shutterstock.com
[«*] Februar deshalb, weil die detaillierten Einzeldaten für März 2024 noch nicht veröffentlicht wurden
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