Startseite - Zurück - Drucken
NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Ostern 2024 oder Umgekehrtes ABC und andere Ver(w)irrungen
Datum: 30. März 2024 um 13:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
Verantwortlich: Redaktion
Corona-geschädigt, bellizistisch gestimmt, allseits gewünschte Amnesie: Seit nunmehr reichlich vier Jahren leben wir im Dämmerzustand grassierender Unübersichtlichkeiten. Einst für unverrückbar gehaltene Koordinaten politischen Handelns gelten längst als obsolet. Völkerrechtliche Normen sind immer mehr ins Hintertreffen geraten. Stattdessen wird allerorten eine „regelbasierte“ oder „wertegeleitete Ordnung“ beschworen, die möglichst von „feministischer Außenpolitik“ flankiert werden soll. Amnesie, präziser noch: Vergessen-Machen, gilt als Tugend. Was gestern noch sakrosankt war, bietet heute allenfalls Stoff für Zynismus. Österlich-besinnliche Momentaufnahmen von Rainer Werning.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Vorgegebene Narrative
Wenn und wann immer sich Dissens und Kritik wie bei den Covid 19-Maßnahmen, dem Krieg in der Ukraine, bei großen Kulturereignissen (documenta 15 und der diesjährigen Berlinale) sowie jüngst zu den Entwicklungen im Gazastreifen reg(t)en, folg(t)en unverzüglich und knallhart Sanktionen seitens „offizieller“ Politik und der sogenannten Leitmedien. Dann senken sich unbarmherzig Damoklesschwerter: Wer sich kritisch zu Coronamaßnahmen äußerte, galt schnurstracks als „Covidiot“ oder „Verschwörungstheoretiker“. Wer im Ukrainekrieg für Verhandlungen und Diplomatie plädiert, ist ein „Lumpenpazifist“, „Putinversteher“ und hoffnungslos von „toxischem Pazifismus“ befallen. Wer heute mit Blick auf Gaza auch nur auf diese oder jene Weise das Leiden der palästinischen Zivilbevölkerung fokussiert, gilt als ausgemachter „(israelfeindlicher) Antisemit“. Cancel Culture und ähnliche Gangarten in den Bereichen Sport, Wissenschaft und Bildung werden eher zur Regel denn zur Ausnahme. Da wird Botmäßigkeit notfalls mit dem Verweis auf vermeintliche Parteinahme für den „unprovozierten Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine“ oder angeblichen „Antisemitismus“ hergestellt beziehungsweise erzwungen. Wer selbst lange im medialen Rampenlicht stand, kann flugs im Orkus landen. Diskurse & Dispute in des Wortes ursprünglicher Bedeutung – Fehlanzeige!
Beklemmende Parallelwelten
Wer in den vergangenen Wochen und Monaten täglich nur eine halbe Stunde lang das englischsprachige Programm des im katarischen Doha beheimateten Senders Al Jazeera anschaute und den Rest des im Wachzustand erlebten Tages damit verbrachte, den hiesigen Leitmedien zu lauschen oder sich ihrer Lektüre zuzuwenden, musste kirre werden und sich ernsthaft immer wieder selbst aufrütteln und fragen, ob Mensch da tatsächlich auf ein und demselben Planeten lebt!
Auf der einen Seite nicht enden wollende Szenen menschlichen Leids, Verwüstungen gigantischen Ausmaßes und ungebremste Vernichtungsphantasien gegenüber der urplötzlich zum ideellen Gesamtbösen hochstilisierten Hamas – inklusive stündlich wachsenden Blutzolls seitens der in Gaza zusammengepferchten palästinensischen Zivilbevölkerung. Auf der anderen Seite das tremoloartig beschworene „Selbstverteidigungsrecht“ Israels, das zu kritisieren sich aus vermeintlicher Staatsräson strikt verbiete.
Dass kurz nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 ausgerechnet das lautstarke Diktum „Wir sind alle Israelis in diesen Tagen“ aus der Zitadelle bundesdeutscher Außenpolitik erklang, ließ jedweden Anflug von politischem Einfühlungsvermögen und diplomatischem Geschick vermissen. Stattdessen wird ein Terrain beackert, das in strikt manichäischer Sicht in gute und schlechte Parzellen unterteilt ist. Wohlverstanden: All dies geschieht in Echtzeit und sehenden Auges!
„Antisemitismus“ als Allzweckkeule
Vor wenigen Tagen konstatierte der US-amerikanische Publizist und renommierte Buchautor Norman Solomon mit Blick auf die in seinem Land gleichermaßen aufgeheizte politische Stimmung verbittert:
„Während Israel weiterhin Kinder, Frauen und Männer abschlachtet – nicht schuldiger als eine Menschenmenge, die Sie vielleicht in einem örtlichen Supermarkt sehen –, läuft der extreme Missbrauch des ‚Antisemitismus‘-Vorwurfs oft darauf hinaus: Sei still. Protestiere nicht. Sprich nicht einmal laut.
Natürlich gibt es Antisemitismus in den Vereinigten Staaten und im Rest der Welt, und er sollte verurteilt werden. Gleichzeitig ist es ein Missbrauch des Wortes Antisemitismus und ein Bärendienst für alle, die einen einheitlichen Standard der Menschenrechte wollen, wenn man den Begriff missbraucht, um Menschen zum Schweigen zu bringen, während Israels Gräueltaten in Gaza weitergehen.
Letzte Woche gingen 17 Rabbiner und Rabbinatsstudenten zum Capitol Hill und forderten einen Waffenstillstand und ein Ende der bedingungslosen US-Militärhilfe für Israel. Rabbi May Ye sagte: ‚Wir sind Rabbiner, die Hunderttausende von Juden repräsentieren, die der Jewish Voice for Peace Action angehören, und wir flehen unsere Führer an, ihre Komplizenschaft mit der völkermörderischen Kampagne des israelischen Militärs im Namen von tzedek (Gerechtigkeit) und echter Sicherheit für alle Menschen zu beenden.‘” (eigene Übersetzung R.W.)
Mit Blick auf die kürzlich zu Ende gegangene 74. Berlinale war es wiederum eine vergleichsweise junge Frau, die auch die dort (diesmal tatsächlich von weißen älteren Herren) geschwungene Antisemitismuskeule intelligent parierte. Gresa Hasa, Jahrgang 1992, studierte Politikwissenschaft in Albaniens Hauptstadt Tirana und arbeitet als Aktivistin einer linken Graswurzelbewegung zum Thema Arbeitnehmerrechte. Auf ihrem X- Account (früher Twitter) postete sie am 26. Februar folgenden Eintrag:
„Künstler kommen aus der ganzen Welt, um an der #Berlinale teilzunehmen – von #Japan bis #Argentinien, von #Italien bis #China, von #Frankreich bis in die #USA usw. Doch #Germany verlangt, dass all diese Menschen und alle anderen mit Blick auf den Konflikt im Nahen Osten der deutschen Argumentation folgen.“ (eigene Übersetzung R.W.)
Über ebendiese Berlinale hatte ein deutscher Wirtschaftsprofessor dermaßen Zeter und Mordio geschrien, dass man meinen konnte, in seinem Fall sei der Verstand vom präfrontalen Cortex plötzlich buchstäblich in die Hose gegangen. Über das Berlinale-Publikum hatte er sich am 24. Februar auf seinem X-Account (früher Twitter) wie folgt geäußert:
„Antisemitisches Klatschvieh beim Reichstreffen der Filmschaffenden, Opa Goebbels wäre stolz.”
Zuvor hatte die deutsch-amerikanische Schriftstellerin Deborah Feldman die vor allem in der Bundesrepublik unsäglich instrumentalisierte Debatte um „Antisemitismus“ glasklar auf den Punkt gebracht:
„Die einzige legitime Lehre des Holocausts ist die absolute, bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte für alle.”
Mekong – Hindukusch – Mali – Kiew
Was haben dieser Strom in Südostasien, dieses zentralasiatische Gebirgsmassiv sowie das zentralafrikanische Land und die Hauptstadt der Ukraine gemein? Dort wurden/werden seit sechs Dekaden erklärtermaßen in Westberlin und in der Bundesrepublik unser aller Werte verteidigt – „Freiheit, Sicherheit und Demokratie“, wiewohl nicht unbedingt in dieser Reihenfolge!
„Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt“, sagte am 11. März 2004 der damalige deutsche Verteidigungsminister Peter Struck.
„Wir als Europäer sind betroffen, weil der Norden Malis eine Staatsgrenze vom Mittelmeer entfernt ist”, sagte Außenminister Guido Westerwelle in seiner Rede vor Parlamentariern im April 2013. „Wir helfen also nicht nur altruistisch Menschen vor Ort, sondern in einer zusammenwachsenden Welt geht es auch darum, unsere Freiheit, unsere offene Gesellschaft und die Art, wie wir in Europa leben, zu verteidigen.”
Wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Mai 2023 feststellte, „steht die Ukraine an vorderster Front, wenn es um die Verteidigung all dessen geht, was uns Europäerinnen und Europäern lieb und teuer ist: unsere Freiheit, unsere Demokratie, unsere Meinungs- und Gedankenfreiheit.“
(Grünen-Chef) Omid Nouripour im FOCUS-Interview am 24. März 2024: „Wir sollten nicht vergessen, dass wir bei der Unterstützung der Ukraine am Ende auch unsere eigene Sicherheit verteidigen.“
Angesichts des Scheiterns dieser hehren Vorsätze auf ganzer Linie drängt sich die Frage auf, wie es nach alledem um unsere „Freiheit, Sicherheit, Demokratie“ und dergleichen bestellt ist – abgesehen davon, dass in all den genannten Regionen und Ländern Schneisen imperialer und neokolonialer Verwüstung und menschlicher Tragödien geschlagen wurden. Und im Falle Afghanistans und Malis stehen abschließende Bewertungen dieser verniedlichend „Einsätze“ genannten Kriege noch aus.
„Kriegstauglichkeit“ statt Friedensfähigkeit
Ausgerechnet ein Mann wie der Sozialdemokrat Boris Pistorius, der immerhin von November 2006 bis Februar 2013 als Oberbürgermeister der Friedensstadt Osnabrück amtierte, sollte sich mit seinem Wunsch nach erhöhter „Kriegstauglichkeit“ oder „Kriegsfähigkeit“ als Stichwortgeber für eine mittlerweile parteiübergreifend gebilligte Militarisierung in Staat und Gesellschaft erweisen. Als gelte es, dem jetzigen Verteidigungsminister in putativem Gehorsam unter die Arme zu greifen und so etwas wie eine „feministische Innenpolitik“ zu betreiben, hat Pistorius’ Ministerkollegin, Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, bereits die Einbeziehung von Schulen in die Vorbereitung der deutschen Gesellschaft auf einen etwaigen großen Krieg gefordert. „Zivilschutz“ sei „immens wichtig“ und gehöre „auch in die Schulen“, erklärte die Ministerin. Stark-Watzinger meint damit Maßnahmen, die die Überlebenschancen der Zivilbevölkerung im Kriegsfall erhöhen sollen. Sie „vergaß“ dabei zu erwähnen, dass Derartiges bereits vor 62 Jahren wenig Taugliches zutage förderte.
Vielmehr und stärker denn je ist eine aktive Friedensbildung angesagt, wie dies auf diesen Seiten erst kürzlich erneut Heinz Klippert eindringlich unterstrich:
„Aus alledem ergibt sich für die politische und ethische Bildungsarbeit in Schulen, Universitäten, Akademien und sonstigen Einrichtungen der Erwachsenenbildung die Verpflichtung, das menschliche ‚Kriegs-Gen‘ dadurch zu zähmen, dass für ein Mehr an begründeter Kriegsskepsis, Friedensphantasie und Konfliktregelungskompetenz gesorgt wird. ‚Begründet‘ heißt hierbei, dass auf differenzierte Informationen, Reflexionen, Perspektivenwechsel, Debatten und sonstige Formen der tiefgreifenden Meinungsbildung in Sachen Krieg und Frieden gesetzt werden sollte, damit das Meinungsmanagement kriegsaffiner Scharfmacher in Politik, Medien, Parlamenten, Zivilgesellschaft und militärischen Kreisen nicht vorschnell verfängt.“
„Süß scheint der Krieg den Unerfahrenen“
Ostern gilt gemeinhin als eine Zeit der Besinnung. Wie süß wäre da allein die Vorstellung, bitter-gallige Kriegsapologeten im nimmermüdem Talkshow-Modus verstummten mal für wenige Tage im Zuge einer Alpaka-Wanderung – und läsen bei der Gelegenheit in Ruhe einen Text, den der große Humanist Erasmus von Rotterdam im Jahre 1517 (sic!) verfasste:
„Wenn man also zuerst nur die Erscheinung und Gestalt des menschlichen Körpers ansieht, merkt man denn nicht sofort, dass die Natur, oder vielmehr Gott, ein solches Wesen nicht für Krieg, sondern für Freundschaft, nicht zum Verderben, sondern zum Heil, nicht für Gewalttaten, sondern für Wohltätigkeit erschaffen habe? Ein jedes der anderen Wesen stattete sie mit eigenen Waffen aus, den Stier mit Hörnern, den Löwen mit Pranken, den Eber mit Stoßzähnen, andere mit Gift, wieder andere mit Schnelligkeit. Der Mensch aber ist nackt, zart, wehrlos und schwach, nichts kann man an den Gliedern sehen, was für einen Kampf oder eine Gewalttätigkeit bestimmt wäre. Er kommt auf die Welt und ist lange Zeit vor fremder Hilfe abhängig, kann bloß durch Wimmern und Weinen nach Beistand rufen. Die Natur schenkte ihm freundliche Augen als Spiegel der Seele, biegsame Arme zur Umarmung, gab ihm die Empfindung eines Kusses, das Lachen als Ausdruck von Fröhlichkeit, Tränen als Symbol für Sanftmut und des Mitleids.
Der Krieg wird aus dem Krieg erzeugt, aus einem Scheinkrieg entsteht ein offener, aus einem winzigen der gewaltigste […] Wo denn ist das Reich des Teufels, wenn es nicht im Krieg ist? Warum schleppen wir Christus hierhin, zu dem der Krieg noch weniger passt als ein Hurenhaus? So mögen wir Krieg und Frieden, die zugleich elendeste und verbrecherischste Sache vergleichen, und es wird vollends klar werden, ein wie großer Wahnsinn es sei, mit so viel Tumult, so viel Strapazen, so einem großen Kostenaufwand, unter höchster Gefahr und so vielen Verlusten Krieg zu veranstalten, obwohl um ein viel Geringeres die Eintracht erkauft werden könnte.”
Titelbild: Evgeny Atamanenko/shutterstock.com
Quellen und Anmerkungen
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=113155