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Titel: Wenn Wirklichkeitsversteher das Sagen haben – der Fehlentwicklung des Werte-Westens auf der Spur
Datum: 30. März 2024 um 12:00 Uhr
Rubrik: Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
Verantwortlich: Redaktion
Irgendjemand muss ja das Sagen haben und den anderen erklären, wie und wo es langgeht! Auch diese Selbstverständlichkeit hat ihre systemstabilisierende Funktion. Am Anfang war das Wort, heißt es. Die Fähigkeit, mit dem Wort die Wirklichkeit zu kommunizieren, hatte seit Anbeginn manche fantasievollen Visionäre auf die selbstverliebte Idee gebracht, das eigene Verständnis von der gemeinschaftlichen Lebensgestaltung als ein allgemeingültiges zu etablieren. Gesagt, getan: Mit der Macht des Wortes sich als Herr über Mensch und Natur erleben! Und es entstanden Herrschaftssysteme unterschiedlichster Prägung. Weltweit. Aber nur der abendländischen Zivilisation gelang es, diese Fehlentwicklung in einen weltumfassenden „Herrenmenschen-Rausch“ zu verwandeln. Von Pentti Turpeinen.
Zu der naturgegebenen Überlebenskunst der Menschenart gehört nicht nur, wie bei den Lebensformen üblich, das gemeinschaftliche Handeln auf die Naturbedingungen anzupassen, sondern auch die Begabung, mithilfe der Sprache die Lebensverhältnisse kollektiv zu koordinieren und selbstbewusst zu planen. Statt die kreativen Potenziale dieser kommunikativen Zusammenarbeit zum Wohle der Allgemeinheit zu kultivieren, entdeckten schon die „zum Führen berufenen“ Urväter unserer Zivilisation die hohe Kunst, ihre Eitelkeit als Allgemeingut zu verbreiten.
Und es etablierte sich eine werteorientierte Kaste von abendländisch zivilisierten Wirklichkeitsverstehern, die bis zum heutigen Tag nicht nur das Sagen haben, sondern in ihrer Souveränität ausschließlich Rationalität und Zuverlässigkeit ihren Bevölkerungen zu verkünden meinen. Die selbst erzeugten Katastrophen werden dabei nonchalant geleugnet. Dazu gehört, den gehörigen Zuhörern die Bewunderung der Weisheit und Unfehlbarkeit der vormaligen Kaiser und Könige und sonstigen Herrscher beizubringen. Und auch die großen Führer unserer demokratischen Nationen bleiben vor einem respektlosen Faktencheck verschont; um den guten Ruf der Demokratie nicht in Verruf zu bringen, versteht sich.
In einer Gesellschaft der Wirklichkeitsversteher legt man großen Wert auf die Stabilität der öffentlichen Meinung. Damit sich keine uferlose Meinungsvielfalt entwickeln kann, wird auch gegenwärtig das Recht auf öffentliche Redefreiheit auf die Auftritte ausgesuchter „Wahrheitssager“ begrenzt. Man will unter sich bleiben; versteht sich.
Dass unsere zivilisierte wirtschaftspolitische Dynamik es nicht nötig hat, andere Ansichten und Anregungen ernst zu nehmen, wird als eine altbewährte Tradition gewissenhaft gepflegt. In seinem Weltbild bejubelt der aufgeklärte Werte-Westen sich in mittelalterlichen Manieren als Zentrum des Universums. Schauen wir mal, was der nächste „Kopernikus“ erreichen kann.
In der Enge der systemstabilisierenden Meinungsbildung hat man nie gelernt, offene Diskussionen als Quelle der gemeinschaftlichen Kreativität bei der Gestaltung des Überlebens zu kultivieren. Das Allgemeinwohl wurde von den jeweiligen Herrschaftssystemen seit Anbeginn mit den eigenen Macht-Profit-Interessen gleichgesetzt. Und auch in Demokratien setzte sich diese Tradition fort, nur dass man das vertraute Verständnis vom Gemeinwohl als eine politische Auseinandersetzung der Interessengruppen, Parteien, Gewerkschaften usw. zu verwirklichen lernte. Immerhin!
Trotz offensichtlicher Fehlentwicklungen der abendländischen Zivilisation, seien es Kriege, Kolonialismus, Naturzerstörung, soziale Ungerechtigkeit, ungleiche Verteilung des Reichtums, Flüchtlingskrise usw. gelingt es auch heute den diensthabenden Wirklichkeitsverstehern, das Bestehende als das Beste aller möglichen Welten zu vermitteln und systemkritische Analysen höchstens als lesenswerte Literatur zu verkaufen.
Bei dem Verbreiten ihrer Weltanschauungen wussten die Herrschaftssysteme seit Anbeginn intuitiv, unser assoziatives Denken zu lenken; nachvollziehbar in den gegenwärtigen, leicht überschaubaren Assoziationsketten über unsere westliche Wertegemeinschaft sowie in den Charakterisierungen der demokratischen Führerpersönlichkeiten.
Vormals wurden die Untertanen mit literarischen Geschichten und künstlerischen Meisterwerken zu fantasiereichen Vorstellungen über die Erhabenheit der eigenen Herrscher und ihres Herrschaftssystems angeregt. Heute sind die KI-Spezialisten, Psychologen, Sozial- und Kommunikationswissenschaftler, Qualitätspresse usw. dran. Und das merkt man! Ihre Fantasielosigkeit und geistig anspruchslosen Lobgesänge für die Werte-Westen-Herrlichkeit konnten sich aber, das muss man zugeben, als Allgemeinbildung etablieren.
Assoziationen über die Komplexität der globalen wirtschaftspolitischen Dynamik wurden mit Erfolg auf das überschaubare „wir gut, andere böse“ reduziert. Und bei den faktengecheckten Informationen und Nachrichten über die vielschichtige Verflochtenheit der internationalen Konflikte und Kriege schaffen es die Wirklichkeitsversteher, alles Böse nur auf einen einzigen Bösewicht zurückzuführen. Alle Achtung! Damit konnte man eben sichergehen, dass die Gleichgesinnten intellektuell nicht überfordert und zu keinen selbstständigen Gedanken animiert werden.
Den Wirklichkeitsverstehern, so wie ihren Anhängern, scheint nicht aufzufallen, wie sie sich bei ihrem Deuten der soziopolitischen Realität auf Nebensächlichkeiten konzentrieren und dabei das zusammenhängende Nachdenken gründlichst verlernen.
Die gegenwärtige Einfältigkeit vor Augen, kann man die Überzeugungskunst der zur Herrschaft Berufenen aus den vergangenen Zeiten etwa so rekapitulieren:
„Freunde, lasst uns die Nachbarvölker ausrauben und beherrschen! Wir sind einfach besser, schlauer und stärker! Als Chef verwalte ich dann die Beute, und ihr dürftet euch auf glorreiches Ansehen, viel Ruhm und Ehre als Mitgestalter unserer erhabenen Herrschaft freuen. Und darüber hinaus biete ich euch die Möglichkeit, für unseren gemeinsamen Wohlstand fleißig zu arbeiten.“
Statt solche Wirklichkeitsverdreher seit Anbeginn souverän auszulachen, nahmen die Bevölkerungen sie ernst. So wie heute!
Auch diese Naivität hat ihre gesellschaftspolitische Funktion. So, wie man den Bevölkerungen heute beibringt, sich keine Gedanken darüber zu machen, was der Werte-Westen eigentlich bedeutet, wussten die Wirklichkeitsversteher seit jeher, eine möglichst leicht nachvollziehbare und nicht zu hinterfragende Weltanschauung über ihre jeweiligen Kaiser- und Königreiche und erhabenen Nationen in ein hochgeschätztes Kulturerbe zu verwandeln.
Es ist eine natürliche Überlebensstrategie, die eigenen Lebensbedingungen zu überschauen, um sinnvoll handeln zu können. Diese Selbstverständlichkeit wird von den Herrschaftsgebilden missbraucht. Indem die weiträumigen Gesellschaftssysteme für alle Beteiligten unübersichtlich geworden waren, wurde die Notwendigkeit, die eigene Lebensrealität zu verstehen, auf das Durchsetzen von Macht- und Profitinteressen der Herrschenden reduziert und dies der Allgemeinheit mit ein paar anspruchslosen Sprüchen als ihre erhabene Wirklichkeit vermittelt. Heute heißt es: Westliche Werte sind die Rettung der Menschheit!
Diese Art von Informationskampagne wird als wohlwollende Beihilfe zum Verständnis der soziopolitischen Wirklichkeit bejubelt. Derart erlebt man auch die gegenwärtigen Wirklichkeitsversteher nicht als Wirklichkeitsverdreher, sondern als Aufklärer, deren Meinung man getrost in alltäglichen Gesprächen repetieren kann. Jawohl: Was die westliche Wertegemeinschaft bedeutet, weiß doch jedes Kind!
Gelernt ist gelernt. Und man darf sich in der Öffentlichkeit verpflichtet fühlen, die „Wahrheit und nichts als die ganze Wahrheit“ zu rezitieren.
Die gegenwärtige Einengung der gesellschaftlichen Diskussionskultur in eine vordefinierte Einheitsmeinung ist eine zeitgemäße Wiederbelebung der abendländisch-zivilisierten Legitimationsmethode der Herrschaftssysteme. In der gegenwärtigen aggressiven Form schien dieses Revival bis vor Kurzem undenkbar. Bei manchen europäischen Politikern und sogar wirtschaftlichen Führungskräften hatte man noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg das Gefühl, dass sie auch als Vertreter ihrer parteipolitischen Interessen in der Lage waren, ihren geistigen Horizont auf ein allgemeines Mitfühlen auszudehnen. Ihre emotionale Offenheit, so wie später auch in der Studentenbewegung, war von der Erkenntnis über die Sinnlosigkeit der Kriege geprägt. Man verstand die Notwendigkeit des Dialogs, sei es im Inneren oder auf der internationalen Bühne. Und man erkannte im respektvollen Umgang mit den unterschiedlichsten Interessengruppen die wesentliche Voraussetzung für eine lebendige Demokratie. Man hatte etwas gelernt, Scham und Empörung über unsere zivilisierte Fehlentwicklung gespürt.
Indem die westliche Wertegemeinschaft bei ihrer Weltrettungsmission die finstere Seite ihres zivilisierten Handelns leugnet, wird sie zu der Tradition der abendländischen Zerstörungsorgien nur ein neues Kapitel hinzufügen.
Herrschaftssysteme legitimieren sich seit eh mit dem Ablenken von ihren Schandtaten. Die weitreichenden Zusammenhänge und Konsequenzen der Macht- und Profitvermehrung der Mächtigen werden mit positiven Beispielen aus dem gemeinschaftlichen Zusammenleben verschleiert. Ja, es gibt wahrlich Kreatives und Nützliches in unserer gesellschaftlichen Entwicklung zu feiern. Aber die aktuellen Leitsprüche à la westliche Wertegemeinschaft, Werte-Westen, regelbasierte Ordnung usw. dienen nur zur Verklärung der Geschichte und der Gegenwart und lenken von den systemimmanenten Fehlentwicklungen ab. Mehrere Hundert Millionen Menschen sind in all den abendländischen Kriegen und kolonialistischen Raubzügen getötet worden! Ohne die bewundernswerten Errungenschaften unserer Zivilisation zu leugnen, kommt man auf den Gedanken: Wir sind die Bösen!
Wie also unsere Zivilisation unverblümt benennen? Bitte um Vorschläge!
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