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Titel: Einsprüche zur geplanten Schuldigitalisierung – Ein Lehrer meldet sich zu Wort

Datum: 1. April 2024 um 12:00 Uhr
Rubrik: Bildungspolitik, Wertedebatte
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Die jüngsten Entscheidungen in Schweden, Dänemark und auch in den Niederlanden, die Digitalisierung an den Schulen zurückzufahren, sollten in Deutschland zum Anlass genommen werden, die desolate und völlig erstarrte Bildungspolitik gründlich zu überdenken. Vor allem sollte die lobbypolitische und pädagogisch weitgehend gedankenlos betriebene Förderung der Digitalisierung in den Schulen im Interesse der nachwachsenden Generationen beendet werden. Aber auch die Sorge um eine funktions- und leistungsfähige, vor allem aber auch in Zukunft noch lebenswerte Gesellschaft verlangt diesen Schritt. Hier folgt eine umfangreiche Betrachtung von Bernd Schoepe.

Aus nächster Nähe: Beobachtungen zum Niedergang der Bildung

Des Längeren muss ich als Lehrer der Mittel-und Oberstufe bei meinen Schülerinnen und Schülern schon zunehmende Konzentrations-, Gedächtnis- und Ausdauerverluste, allgemein eine Verschlechterung der mündlichen und schriftlichen Ausdrucksfähigkeit und schwindende Frustrationstoleranz beim Lernen beobachten. Anders, als der moderne Zeitgeist es gerne sehen will, ist Lernen kein anstrengungsloser Spaß, sondern bereitet immer auch Unlustgefühle, da Lernen ein steiniger, von Ungleichgewichten, Fehlern, Irrtümern, vom Misslingen und Enttäuscht-Werden gepflasterter Weg ist. Per aspera ad astra – „Durch Mühsal gelangt man zu den Sternen“: Diese lateinische Redewendung hat auch heute noch ihre Gültigkeit, sofern man glückende und letztlich auch beglückende Bildungserfahrungen angemessen beschreiben möchte. Insofern ist ein Lernen, das im Sinne der Persönlichkeitsbildung wirksam wird, ohne Triebverzicht und ohne die schon erwähnte Frustrationstoleranz gar nicht denkbar.[1]

Bezüglich der orthographischen und grammatikalischen Fähigkeiten, dem Rechnen- und logischen Denken-Können tun sich in der Breite immer größere Defizite – selbst bei Abiturienten – auf. Es ist unglaublich zu sehen, wie viele Schülerinnen und Schüler z.B. im Stadtstaat Hamburg „ihr Abi schaffen“, obwohl sie nach 13 Jahren Schule nicht in der Lage sind, auch nur einen fehlerfreien, grammatisch wohlgeformten, von Stereotypen und Klischees weitgehend freien Satz in deutscher Sprache zu formulieren.

Durchweg sind damit Probleme benannt, die in den letzten zehn bis 15 Jahren besorgniserregende Dimensionen angenommen haben. Das spiegelt sich auch in der Arbeitsbelastung der Lehrer wider.

Die Annahme, dass der Fachunterricht auf den früheren Stufen dieses Wissen schon erfolgreich vermittelt hat – was selbstverständlich in den Curricula vorausgesetzt wird – stellt sich immer öfter als falsch heraus. Der dabei entstehende Eindruck ist, dass ich als Lehrer genötigt werde, im Unterricht fast immer wieder bei null anzufangen. Das beschneidet meine Handlungsmöglichkeiten nicht nur stark, sondern stellt sie, wenn das Problem dauerhaft bestehen bleibt, radikal in Frage.

Angesichts einer bei unserem Nachwuchs endemisch gewordenen Schreib- und Denkschwäche (Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel!) hat sich der Korrekturaufwand bei schriftlichen Prüfungen deutlich erhöht. Auch die Erfordernisse unterrichtlicher Differenzierung nach Leistungen und allgemeiner Verständnisfähigkeit (z.B. Aufgabenverständnis) sind innerhalb der Lerngruppen deutlich gestiegen – meist, ohne dass durch binnendifferenzierende Ansprache und Methoden zufriedenstellende Resultate erzielt würden. Das hat wiederum damit zu tun, dass die tieferen Ursachen nicht gesehen, geschweige denn bekämpft werden.

Exzessive Smartphone-Nutzung unserer Jugend hat dramatische Folgen

Für jeden nicht völlig schon durch den Betrieb des Hamsterrades erblindeten Pädagogen müssten die Korrelationen der tiefen Lern- und Bildungskrise, in der wir uns befinden (ohne dass gesellschaftlich wirklich Notiz davon genommen würde), zur zeitfressenden und raumgreifenden Überhandnahme der Smartphone- und Computernutzung, speziell in der jüngeren Generation, eigentlich unübersehbar sein. 2023 waren laut JIM-Studie Jugendliche unter 19 Jahren durchschnittlich 224 Minuten pro Tag online. Laut DAK-Studie (mit Ergebnissen aus dem Jahr 2022) nutzten rund 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche Gaming, Social Media oder Streaming problematisch, das heißt sind suchtgefährdet oder bereits von Sucht betroffen. Insgesamt hat sich laut DAK die Zahl der Mediensüchtigen in der Pandemie verdoppelt.

Dennoch scheiterten bislang alle Versuche, mein Kollegium zu einer pädagogischen Diskussion über die Digitalisierung und ihre Folgen für die Lernleistungen, aber auch das Sozialverhalten der Schülerinnen und Schüler zu bewegen.

Ein kurzzeitig – ebenfalls ohne vorangegangene Diskussion – eingeführtes Smartphone-Verbot an der Oberstufe wurde auf Drängen der Schülerschaft, aber auch vieler Kollegen flugs wieder aufgehoben. Die bemerkenswerte Begründung, die fast unisono von den Kollegen dafür zu hören war, lautete: Man könne die Verstöße nicht ahnden, dafür seien sie zu zahlreich, man habe schließlich noch anderes und ohnehin viel zu viel zu tun.

Insgesamt hat sich durch die mangelnde Bereitschaft bzw. das teils unverhohlene Desinteresse meiner Kollegen, sich mit Erkenntnissen aus der Neurobiologie und Entwicklungspsychologie, die die negativen Wirkungen exzessiver Smartphone-und Computernutzung bei Kindern und Jugendlichen nachweisen, überhaupt argumentativ auseinanderzusetzen, mein Bild der Pädagogik inzwischen dunkel eingefärbt. Das idealistische Bild, das ich als Student und Berufsanfänger von Pädagogen hatte (und von einigen meiner eigenen Lehrer vorgelebt bekam), ist stark und nachhaltig erschüttert worden. Au fin, nach jahrelangem Kampf gegen diese Gleichgültigkeit, bin ich an meinem eigenen Berufsstand doch ziemlich verzweifelt und fühle mich dem einmal heiß geliebten Beruf entfremdet. Längst hätte angesichts der Krise der Lernfähigkeit und Lernbereitschaft der jungen Generation ein lauter, kollektiver Aufschrei (nicht nur) der Lehrerschaft durch die „Bildungsrepublik Deutschland“ gehen müssen.

Doch die „Bildungsrepublik“, die in den Sonntagsreden der Politiker gerne beschworen wird, ist reines Wunschdenken. Stattdessen erleben wir, wie fortwährend alle Probleme in Watte gepackt, ununterbrochen nur schöngeredet und durch immer weitere Reformitis der Kultusbürokraten, die nur erfolglos an den Symptomen herumdoktern, offenbar verewigt werden sollen. Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen hat sich leider auch in der Schule ein System organisierter Verantwortungslosigkeit ausgebreitet, das droht, den Karren der Bildung immer tiefer in den Morast zu fahren. In diesem ziehen dann schwache, ängstliche, überangepasste und biegsame Lehrer-Charaktere schwaches, ängstliches, überangepasstes und biegsames „Menschenmaterial“ heran, statt – viel schöner und erfüllender, aber natürlich auch wesentlich herausfordernder – an der Bildung eigensinniger, starker Individuen und kritischer, nonkonformistischer Citoyens mitzuwirken. Denen dürfte die Schule allerdings auch noch das beschert bzw. vermittelt haben, was bei der übermächtigen Sogwirkung, die von den digitalen Bildmaschinen ausgeht und einen immer größeren Teil der Kinder und Jugendlichen zu Suchtabhängigen macht (was viele von ihnen übrigens wissen), als nahezu ausgeschlossen angesehen werden muss: tiefe, persönlichkeitsbildende Resonanzerfahrungen.

Gegenüber reizstarken digitalen Bildmaschinen kann Schulunterricht fast nichts ausrichten

Meine These lautet, dass, so lange überfällige Interventionen des pädagogischen Feldes ausbleiben und die Interferenzen zwischen dem digitalen System und dem des Lernens und Bildens weiter so (offenbar in eine gewollte Richtung) laufen, nichts und niemand uns einen Ausweg aus der Bildungskrise wird weisen können. Denn wenn weiter in die digitale Transformation von Schule investiert wird, so kann im günstigsten Fall angenommen werden, dass alles gleich schlecht bleiben wird. Viel eher, mit höherer Wahrscheinlichkeit aber, wird sich das meiste noch weiter verschlechtern.

Um zu diesem Urteil zu gelangen, reicht es im Grunde aus, die hohe Reizstärke sowie die disruptiv-schockartige, stark auf Inkohärenz, d.h. auf die Unterbrechung jedweden bedeutungsstarken Sinns abgestellte Qualität digitaler Reize mit jedem tatsächlich stattfindenden, also empirisch beobachtbaren Unterricht zu vergleichen. Unterricht kann niemals, wenn überhaupt noch etwas gelernt werden soll, an Multi-Media-Shows und die Reizfeuerwerke heranreichen, die diese abbrennen. Dann wird man nämlich um die Feststellung nicht herumkommen, dass in puncto Aufmerksamkeit schulische Lernsettings gegenüber Digital-Reizen, die das junge Gehirn mit exorbitant hohen Reaktionsstärken regelrecht überfluten, hoffnungslos ins Hintertreffen geraten müssen. Schulische, dem Lernen dienende Reize können selbst beim schülergerechtesten und „innovativsten“ Unterricht nur ein geringes Maß des Levels erreichen, an das die Jugend durch ihren Medienkonsum fatalerweise von Kindesbeinen auf gewöhnt wird. Von digital dauergestressten jungen, noch im Wachstum befindlichen Gehirnen muss jeder Unterricht per se als langweilig und öde, da (zu) reizarm empfunden werden.[2]

Dies liegt daran, dass Schulunterricht weder auf Disruption, Diskontinuität noch auf Inkohärenz – und damit jeweils nur kurze Aufmerksamkeitsspannen – setzen kann, sondern Lernprozesse Kontinuität, Kohärenz und Wiederholung benötigen und dahingehend ausgerichtet sein müssen. Lernerfolg setzt selbsttätiges, konzentriertes Üben voraus, damit der Lernstoff wirklich beherrscht und die Lernziele im Langzeitgedächtnis verankert werden können. Zum Üben fehlt es den meisten Schülern heute am langen Atem und der inneren Ruhe – vor allem wegen des ständigen Abgelenkt-Werdens durch das Smartphone. Mit anderen Worten: Gelingendes Lernen kann es ohne die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung längerer Aufmerksamkeitsspannen nicht geben. Angesichts der Nutzungsdauer- und Intensität digitalen Medienkonsums und seines Einflusses auf die Wahrnehmungs- und Denkprozesse wird klar, dass die unterrichtliche Performance des Lehrers – wie redlich er sich auch immer im reizarmen Klassenraum abmühen mag, um die Aufmerksamkeit seiner Schülerinnen und Schüler zu fesseln – gegenüber der Macht, die von Smartphones, Computern, PlayStations & Co. ausgeht, auf verlorenem Posten steht.

Der Brain-Drain und wie er Lernen verhindert

In diesem Kontext ist in der Erziehungswissenschaft der Begriff Brain-Drain geprägt und in kürzester Zeit bekannt geworden. „Brain-Drain“ geht auf eine gleichnamige Studie zurück und bezeichnet den Umstand, dass allein das Vorhandensein von Smartphones die Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit der Schüler reduziert:

„Auf Facebook und Twitter machen gegenwärtig Bilder die Runde, die zeigen, dass in einer einzigen Unterrichtseinheit Hunderte von Nachrichten Kinder und Jugendliche erreichen, wenn sie ihr Smartphone eingeschaltet lassen. Je mehr Zeit Kinder und Jugendliche mit Smartphones verbringen, desto schlechter sind die schulischen Leistungen.“ (Neue Züricher Zeitung, Ernüchternde digitale Bildungsrevolution, Gastkommentar von Klaus Zierer, 16. Mai 2019)

So laufen alle Bemühungen, das für gelingende Lernprozesse so wichtige und unverzichtbare Interesse zu erzeugen, ins Leere.

Wobei Interesse, also Inter-esse, hier als das durch Neugierde intentional und motivational herzustellende Dazwischen-Sein des Schülers definiert wird, das durch entsprechende didaktische Arrangements sichergestellt werden soll. Die Frage, ob das Lerninteresse des Schülers geweckt, dauerhaft hervorgerufen und in Form von Einstellungen bzw. Habitualisierungen verstetigt werden kann, hängt davon ab, inwieweit es dem Lehrer gelingt, dieses Interesse im Zentrum des unterrichtlichen Interaktionsgeschehens so zum Funktionieren zu bringen, dass die Lernziele am Kreuzungspunkt zwischen dem zu erschließenden Lerngegenstand, dem darauf bezogenen Lehrerhandeln und der Reaktionen des Schülers auf beides gut erreicht werden können. Der Schüler ist aber immer auch eingebettet in das Feld der Kommunikation und Kooperation mit seinen Mitschülern, die für die Hereinnahme gleichaltrig-komplementärer, individueller, im günstigen Fall aber divergierender Perspektiven in den Erkenntnisprozess sorgen. Für den Lernprozess ist das außerordentlich wichtig, denn der Schüler lernt nicht monologisch, sondern dialogisch, im Konzert der Klasse. Der Lehrer gibt durch seine didaktischen Vorannahmen und Entscheidungen den Schülern den Lerngegenstand in der Form eines relevanten, altersgemäß präsentierten, bildungsbedeutsamen Problems vor, sodass die Schüler sich von diesem Lerngegenstand und den kategorial mit ihm verknüpften Fragen wechselseitig, im Austausch ihrer Perspektiven auf den Gegenstand, affizieren lassen können.

Die für die Generierung neuer Erkenntnisse des Schülers wichtigen „Affizierungsenergien“ werden heutzutage aber – siehe obige Schilderung der Brain-Drain-Wirkungsweise – durch das immerwährende digitale Grundrauschen absorbiert, das von den zumindest im Stand-by-Modus permanent eingeschaltet bleibenden digitalen Geräten verursacht wird. Der Brain-Drain nimmt die Kinder als allzeit präsente Ablenkungsquelle in Beschlag, durch die der sich sozusagen auf der Vorderbühne abspielende Unterricht von der nicht einsehbaren Hinterbühne aus gestört, um nicht zu sagen sabotiert wird – und zwar ständig. Die Schule wird durch den Brain-Drain und seine Folgen auch noch in einer anderen Hinsicht unter Druck gesetzt, die politisch leider schon länger aus dem Blick geraten ist: Abweichendes Denken bedarf der Sorge, der gärtnerischen Pflege und Kultivierung und einer Art der anwaltlichen Vertretung durch den Berufsstand der Pädagogen. Dementsprechend wäre es eine wichtige Aufgabe für sie, dafür einzutreten, dass das abweichende Denken eine Heimstatt in der Schule findet. Längerfristig kann sich sonst eine Gesellschaft unter demokratischen Vorzeichen nicht produktiv weiterentwickeln bzw. nicht mehr, wie das heute schon der Fall zu sein scheint, genügend Kraft zur Erneuerung finden.

Dagegen steht die Digitalisierung. Sie wird an den Schulen gerade als Katalysator für die Standardisierung und Vereinheitlichung von Lerninhalten- und Lernprozessen und für das Monitoring und Controlling des Lehrpersonals eingesetzt. Doch IT- und KI-gesteuerte Lernsysteme – und das stellt für Lern-und Bildungsprozesse ein großes Problem dar – können immer nur den gegebenen Status Quo affirmieren. Da „KI (…) ein inhärent konservatives Instrument (…) ist“, können sie ihn nicht verlassen oder gar überschreiten. Denn: „(…) der Kern von KI ist: sie lernt aus alten Daten und schreibt sie in Zukunft fort“. (Judith Simon, Professorin für Ethik in der Informationstechnologie, Universität Hamburg, Mitglied im deutschen Ethikrat, 6. Februar 2024). Diese, von ihren Grundlagen aus betrachtete „konservative KI kann also die gesellschaftliche Erstarrung wie das Denken in etablierten Mustern fördern“, so die Philosophin. Wird freies und abweichendes Denken nicht schon in der Schule entdeckt, geschützt und aktiv gefördert, gibt die Gesellschaft den vielleicht wichtigsten Schatz, der in ihr schlummert, das Potenzial zu vernünftigen Veränderungen, preis.

Doch von solchen Einsichten ist das heutige Schulsystem leider weit entfernt.

Die durch den Transhumanismus ins Totalitäre ausgreifende Tendenz, Probleme ausschließlich technisch zu definieren und sie auch rein technisch, auf Basis von Annahmen ihrer vollständigen Berechenbarkeit (Modellierung), lösen zu wollen – der sogenannte „Solutionismus“ – führt dazu, die Quellen alles Neuen, d.h. aller künftigen Chancen, für neue Probleme neue Lösungen zu finden, zu verschließen. Denn die Entstehung neuer Lösungen beruht auf Entwicklungsmöglichkeiten, die von einer ganzheitlichen Betrachtung und Würdigung des Menschen abhängig sind, da sie sonst gar nicht richtig in den Blick genommen werden können. Dazu gehört z.B. intuitives Vor-Verständnis, die berühmten Bauchgefühle. Der Transhumanismus hingegen sieht den Menschen als ein defizitäres Wesen an, das durch Technik optimiert werden muss. Immer stärker gerät auch die Pädagogik in dieses transhumanistische Fahrwasser, ohne dass die meisten Pädagogen überhaupt einen Begriff von dieser Bewegung hätten. Die Gefahr, dass die Quellen des Neuen in Gestalt materialer Vernunft (die gar nicht anders kann, als sich immer zunächst als abweichendes Denken zu artikulieren, da sie per Definition immer ihrer Zeit voraus ist) durch eine technokratische Steuerung des Lernens zu versiegen drohen, kommt heutigen Pädagogen, die zum Teil schon tief in ihr Dehumanisierungsprogramm involviert worden sind, leider nicht (mehr) zu Bewusstsein. Durch diese Entwicklung wird abweichendes Denken in der Praxis erst mit dem Bann der sogenannten Cancel Culture belegt und dann zunehmend inkriminiert, d.h. sogar mit (straf-)rechtlichen Mitteln verfolgt.

Die seit Corona verstärkt wahrnehmbare Drift in Richtung eines technokratischen Totalitarismus dürfte einiges damit zu tun haben, dass das Schulsystem seit Ende des Zweiten Weltkrieges in mehreren Etappen immer stärker und einseitiger an ökonomischen Interessen, Zweck- und Zielsetzungen ausgerichtet wurde. Es kann daher nicht wirklich verwundern, dass zur Ökonomisierung der Schulbildung, mit der diese Verzweckung und Verdinglichung des Schülers zum „Humankapital“ im Namen allgemein kaum hinterfragter Imperative des Marktes bzw. der dahinterstehenden neoliberalen Ideologie erfolgte, daher nun in einem weiteren Durchgang die digital-kybernetische Wende für das Lernen hinzukommt.

Die aufklärerische Tradition der Schulbildung und was von ihr übrig bleibt

Dem System öffentlicher Bildung geht durch Ökonomisierung und Kybernetisierung jedoch der vitale Kontakt zu seinen Wurzeln verloren. Diese liegen in der Aufklärung und haben in der westlich-liberalistischen Vorstellung von schulischer Bildung und Erziehung als Anleitung zur Autonomie bzw. Mündigkeit in der berühmten Forderung Kants: „Habe Mut Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ ihre knappe, aber sowohl philosophisch als auch historisch wirkungsvolle und weitreichende Selbstverständigungsformel gefunden.

Das Selber-Denken nahm eine Schlüsselrolle innerhalb der politischen und soziokulturellen Formierungen des modernen bürgerlichen Gesellschaftstypus ein, der sich ab dem 18. Jahrhundert herausbilden sollte. Das aufklärerische Denken trug maßgeblich zur Entwicklung des Selbstbewusstseins des Bürgers bei. Politisch leitete es sich aus der Abwehr, dem wachsenden Widerstand gegen den feudalistischen Obrigkeitsstaat ab. Die Bürger wandten sich gegen die Übermacht und Übergriffigkeit einer Herrschaft, deren Willkür ihnen zunehmend zu Bewusstsein kam, sodass sie deren repressives, die eigene, aufstrebende Klasse benachteiligendes Regime nicht mehr länger hinzunehmen bereit waren.

Der Mensch in Gestalt des neuzeitlichen Individuums begann, sich auf ein Recht zu berufen, das ihm durch die Natur selbst gegeben bzw. verliehen worden war, einer Natur, als dessen Geschöpf er sich selbst zugleich immer stärker aufgrund der Fortschritte in den Wissenschaften begriff. Das moderne öffentliche Schulsystem, das sich parallel zum ökonomischen Aufstieg des Bürgertums als „drittem Stand“ entwickelte, einem Aufstieg, den die anderen Stände, Adel und Klerus, nicht aufzuhalten vermochten, geht insofern in einer direkten Abstammungslinie auf den aufklärerischen Geist und das bürgerliche Streben nach Freiheit, Selbstbestimmung und politischer Repräsentation zurück. Später ist die in ihm abgelagerte aufklärerische Substanz erst vom utilitaristisch-bourgeoisen Denken (nach welchem die Schulbildung von unmittelbarem, selbstevidenten Nutzen sein und dabei mithelfen soll, die bürgerliche Klassengesellschaft zu erhalten) und dann vom Neoliberalismus (die Schule soll Unternehmer ihrer selbst ausbilden, die sich flexibel an die ständig wechselnden Bedürfnisse und Vorgaben des Marktes anpassen können, sollen und am besten auch wollen) ausgehöhlt und schließlich ganz entkernt worden.

Inzwischen hat man den Eindruck, dass es sich bei dem, was vom emanzipatorisch-aufklärerischen Geist und den radikaldemokratisch-freiheitlichen Bestrebungen in unseren Bildungsanstalten nach den Verwüstungen durch die PISA- und BOLOGNA-„Reformen“ noch übrig geblieben ist, nur noch um so kümmerlich-kleine Überreste handelt, dass diese heute de facto in den Funktionszusammenhängen der Schule keine Rolle mehr spielen. Fast ohne Übertreibung kann man feststellen, dass der aufklärerische Begriff von Freiheit dort aktuell nicht mehr anzutreffen ist. Ebenso wenig lässt sich noch empirisch die Existenz eines Bereiches nachweisen, der auf eine signifikante und positive Weise mit dem Freiheitsbegriff korreliert. Freiheit – etwa als die doch grundgesetzlich geschützte Freiheit der Lehre (Art. 5, Abs. 3) – als ein Wert, der real verteidigt, unterstützt und gefördert würde, ist in der Schule längst zu einem Phantom geworden.

Kehren wir an diesem Punkt von der abstrakteren, allgemeinen Ebene wieder zum anekdotischen Einzelfall und damit an den Schauplatz der Kämpfe in meiner eigenen Schule zurück:

Meine anhaltende Kritik an einer unvernünftigen und schädlichen, dazu teuren und – wie man heute so schön zu sagen pflegt – nicht „nachhaltigen“ Schuldigitalisierung, die insbesondere für Kinder aus sozial unterprivilegierten Familien zusätzliche Bildungsdiskriminierung zur Folge hat, isolierte mich zunehmend im Kollegium. Die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, die aus armen, oft alleinerziehenden Haushalten kommen, wiegen deshalb so schwer, weil sie bereits in mehrfacher Hinsicht schulisch derart stark benachteiligt werden, dass jedes weitere Handicap sich umso dramatischer auf ihre Bildungs- und Lebenschancen auswirkt. Sie verfügen nämlich über keinerlei Mittel und haben auch null Reserven, womit sich irgendwie noch irgendetwas für sie kompensieren ließe. Man würde erwarten, dass Lehrer, die nicht an dieser diskriminierenden Praxis beteiligt sein wollen, eigentlich ein offenes Ohr für diese Probleme hätten.

Meine Forderung, nicht einfach nur immer weiter achselzuckend die allgemeine Absenkung des Bildungsniveaus hinzunehmen, die wir seit vielen Jahren schon an den Schulen nicht nur „beobachten“ können, sondern die wir ja als Lehrer in mehr oder weniger schizophrener Weise aktiv mitbetreiben (und/oder die wir mit einer Inflationierung guter Noten kontraproduktiv „wegrationalisieren“ wollen), stieß ebenfalls nur auf wenig positive Resonanz an meiner Schule. Der Wille, die Rundum-Digitalisierung zu hinterfragen, die nun neben der privaten Lebenswelt auch noch als „Learning Analytics“ (die flächendeckend zu etablierende algorithmische und automatisierte Erhebung und Auswertung von Daten über Lernende) den unterrichtlichen Alltag der Schülerinnen und Schüler bestimmen soll – und das in Anbetracht der ohnehin schon weit verbreiteten Computer und Smartphone-Sucht und des damit zusammenhängenden Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms[3] vieler Jugendlicher –, tendiert bei der Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen gen Null. Das hat auch damit zu tun, dass immer mehr „Digital Natives“ die Lehrerzimmer bevölkern. Dies allein kann den unkritischen Hype um die Schuldigitalisierung jedoch nicht hinreichend erklären. Die relativ kleine Minderheit von Kollegen, die dem Hype noch mit Zweifeln und Kritik begegnen, äußern diese meist nur noch in privaten Vier-Augen-Gesprächen und hinter vorgehaltener Hand, man will keinesfalls als altmodisch gelten.

Das Unbehagen, ja die Angst davor, das Etikett des ewig Gestrigen umgehängt zu bekommen, der irgendwie den Anschluss an das verpasst hat, was die „Schöne neue Bildungswelt“ genannt werden kann, oder der, wenn man die Digitalisierung kritisiert, als Querulant, Fortschrittsverweigerer oder Maschinenstürmer hingestellt wird, scheint groß zu sein. Das kann von Außenstehenden vielleicht besser verstanden werden, wenn ich nochmal kurz meine eigenen Erfahrungen, die ich auf diesem verminten Gelände sammeln musste, referieren darf. Waren in den ersten Jahren, damals noch unter dem Dach der Gesamtschule – die Gesamtschule mitsamt ihres auf Gesellschaftsveränderung durch mehr Bildungsgerechtigkeit gerichteten kritischen Potenzials fiel einer der vielen sogenannten Schulreformen zum Opfer –, Diskussionen und Kritik noch gefragt, sind sie in der neoliberal gewendeten Schule seit ungefähr 2010 verpönt.

Tatsächlich ging zeitlich der Aufstieg der Digitalisierung mit einem autoritären Roll-Back in den Schulen einher, das durch zeitgemäße Politfolkloren wie Demokratiesimulationen, Anti-Rassismus-Projekte, Wokeness und Klimaaktivismus heute nur noch schlecht kaschiert wird.

In meinem Fall intervenierte die Schulleitung immer öfter und versuchte, mich – auch wegen meiner Angriffe auf die „heiligen Kühe“ der neoliberalen Schulentwicklung – mit disziplinarischen Mitteln auf Linie zu bringen. So nahm die Schulleitung z.B. Anstoß daran, dass ich nicht davon ablassen wollte, meine Auffassung, dass eine managerial geführte Schule mehr Nachteile als Vorteile bringt, offen kundzutun. Auch dass ich weiterhin – trotz aller Rückschläge – für eine demokratische Diskussionskultur und die Mitbestimmungsrechte des Kollegiums stritt und weder die Digitalisierung noch die Kompetenzorientierung genug beweihräucherte und stattdessen beiden vorwarf, maßgeblich für eine Verbetriebswirtschaftlichung und Verflachung der Lerninhalte verantwortlich zu sein sowie darüber hinaus der Entmündigung des Lehrers Vorschub zu leisten, war der im (Un-)Geist des neoliberalen Change-Managements agierenden Schulleitung zunehmend ein Dorn im Auge.

Das ging so weit, dass man am Ende durch meine Meinungsäußerungen sogar den „Schulfrieden“ in Gefahr sah und mir de jure einen Maulkorb verpassen wollte.

Meine eigenen Wortmeldungen zur Schuldigitalisierung und Schulentwicklung

Da ich die Leserschaft mit meiner eigenen Leidensgeschichte nicht über Gebühr langweilen möchte, breche ich an der Stelle ab und gehe im nächsten Abschnitt lieber näher auf den Entstehungszusammenhang meiner ersten eigenen digitalisierungskritischen Texte ein, die ich dann, doch eher ungewöhnlich für einen Lehrer, schreiben und auf verschiedenen Seiten veröffentlichten sollte.

Denn einerseits bringt diese Geschichte auf ihre Art und Weise wiederum die Virulenz des Themas Schuldigitalisierung gut zum Vorschein, andererseits ist meine Ohnmacht in ihr dokumentiert sowie das, was aus ihr folgte. Die Ohnmacht bestand darin, als einzelner Lehrer auf dieses Thema innerschulisch in keiner Weise konstruktiv Einfluss nehmen zu können.

Das Schreiben des ersten Teils meiner „Einsprüche“ geht auf die Jahre 2018/2019, die Zeit nach Verabschiedung des Digitalpaktes durch Bund und Länder zurück. Johannes Mosmann hat in einem interessanten Beitrag (einer Leseprobe aus seinem Buch „Die erweiterte Demokratie“) für Norbert Härings Blog Geld und mehr auf den wahren Urheber dieses Politikums in Gestalt des Big-Data-Konzerns Microsoft aufmerksam gemacht. Mosmann legt sehr schön den starken, durchschlagenden lobbypolitischen Einfluss dar, der im Fall Digitalpakt sogar bis zur Grundgesetzänderung ging. Hier ein Auszug:

„Wie kam es etwa zum kürzlich verabschiedeten „Digitalpakt“? Im Jahr 2015 initiierte Microsoft zusammen mit dem Verband der Internetwirtschaft die Kampagne ‚Digitaler Bildungspakt‘ und entwickelte eine „Handlungsempfehlung“ für die Politik. Die Kampagnen-Seite erklärt:

‚Der Einsatz von IT im Unterricht ermöglicht lebendige Lernerfahrungen und nachhaltigere Lernerfolge. Deshalb müssen Lehrer digitale Technologien verstärkt im Unterricht einsetzen. Dabei geht es nicht darum, sie isoliert in einem Pflichtfach >Informatik< oder >Digitales< einzusetzen, sondern vielmehr in allen Bereichen – und überall dort, wo es sinnvoll ist. In nahezu allen Fächern können digitale Formate den Zugang zum Lernstoff erleichtern, die Qualität des Unterrichts erhöhen und die Lernmotivation steigern.‘ Dass viele erfahrene Pädagogen ganz anderer Meinung waren und die ‚Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft‘ ausdrücklich vor dem aggressiven Lobbyismus der Digitalkonzerne warnte, konnte Microsoft nicht aufhalten. Wenige Monate später standen die „Handlungsempfehlungen“ des Konzerns auf der Agenda der großen Koalition. Im Februar 2019 wurde das Grundgesetz geändert, weil der ‚Digitalpakt‘ aufgrund der Länderhoheit im Bereich der Bildung eigentlich verfassungswidrig ist.“ (norberthaering.de, veröffentlicht am 21. Februar 2024)

Meine Texte, zunächst die ersten Abschnitte meines Einspruch-Textes („Zehn Thesen zur Digitalisierung der Schulen“), dann „Die Digitalisierung und ihre Effizienzgewinne aus pädagogischer Perspektive“, sind vor dem Hintergrund meiner Befürchtung entstanden, dass Schulen künftig nach Maßgabe der Vorstellungen der Digitalindustrie, namentlich denen der Big Five (Alphabet/Google, Amazon, Apple, Meta/Facebook, Microsoft) aus dem Silicon Valley ummodelliert und vollständig ins Design, das der Überwachungskapitalismus (Shoshana Zuboff) uns überstülpen will, integriert werden sollen.

In einem Gespräch, zu dem unsere Schul-Digitalisierungsbeauftragte mich und zwei weitere Digitalisierungsskeptiker einlud, schlug ich ihr das Papier als Grundlage für eine Diskussion über unser eigenes Digitalisierungsprogramm vor. Meine Anregung war, dass das Kollegium im Rahmen einer Oberstufenkonferenz diese aus meiner Sicht längst überfällige Debatte, gestützt auf vorab zusammengetragene Pro-und Contra-Argumente, miteinander führen sollte. Dazu muss man wissen, dass in den zwei Jahren vor Corona, nachdem die Mittel aus dem Digitalpakt bereitgestellt waren, unsere Digitalisierungsbeauftragte in enger Zusammenarbeit mit der Oberstufenleitung das Digitalisierungsprogramm für unsere Schule entwickelte. In dem Zusammenhang wurden dann tatsächlich eine Reihe von schlechten Entscheidungen getroffen und umgesetzt.

Dass es schlechte Entscheidungen wurden, war meines Erachtens allerdings nicht sehr überraschend, denn sie waren vorher nie Gegenstand einer schulintern offenen, kollegial geführten Debatte: So wurden in fast allen Klassenräumen ohne Rücksprache mit den dort unterrichtenden Lehrern die Tafeln abgehängt und stattdessen teure, störanfällige Smart- bzw. Whiteboards angeschafft, durch die, genauer gesagt durch dessen langsames Hoch-und-Runterfahren aufs Schuljahr hochgerechnet eine Unsumme der ohnehin knappen, reinen Unterrichtszeit seither vergeudet wurde (die „Hochfahr-Zeit“ kann sinnvoll für nichts anderes verwendet werden, da die Schüler während des gesamten Vorgangs auf das Gerät starren, um zu prüfen, ob der Lehrperson es auch tatsächlich gelingt, die Einschaltprozedur erfolgreich zu bewältigen). Dazu wurde W-LAN in der gesamten Schule installiert. Das bot Schülern einen zur Aufrechterhaltung einer konzentrationsförderlichen-positiven Lernumgebung sich kontraproduktiv auswirkenden Anreiz, im und außerhalb des Unterrichts zukünftig noch mehr mit ihren Smartphones herumzuspielen und sich „die blöde und nervige Schulzeit zu vertreiben“, da dies ja nunmehr kostenfrei für sie möglich war.

Zurück zum damaligen Gespräch mit der Digitalisierungsbeauftragten: In dessen Verlauf zeigte sich schnell, dass gar keine pädagogische Diskussion erwünscht war. Später stellte sich heraus, dass das Programm Fait accompli längst beschlossene Sache war. Die Gespräche im kleinen Kreis wurden nur geführt, um die wenigen „Bedenkenträger“ im Kollegium besser einnorden bzw., wie das in der Sprache des Change-Managements heißt, „neutralisieren“ zu können, damit man sichergehen konnte, dass sie dem schon durchgeplanten Prozess nicht noch in die Quere kommen. Und das, obwohl die im Schulgesetz dafür vorgesehenen Gremien, die Lehrer- und die Schulkonferenz, sich zu keiner Zeit überhaupt einmal grundsätzlich mit dem Für und Wider der Pläne zur Schuldigitalisierung beschäftigt geschweige denn auf der Grundlage einer solchen Debatte irgendwelche Beschlüsse dazu gefasst hätten. Stattdessen wurden Tenor und Niveau der Behandlung dieser sehr weitreichenden Umbaupläne für Schule und Unterricht durch meine Schulleiterin in den Konferenzen durch Statements wie „Die Digitalisierung ist auch etwas sehr Wichtiges, das anliegt und was wir einfach machen müssen“ (sic!) vorgegeben.

Dann, zwei Jahre später – unter dem Eindruck der Corona-Krise und den schlimmen, bis dato noch immer nicht aufgearbeiteten Folgen der Schul-Lockdowns und des digitalen Homeschoolings –, holte ich das Papier, das man an meiner Schule nicht diskutieren wollte, noch einmal hervor und begann, es um aktuelle Aspekte zu ergänzen. Zu dieser Zeit wurde die Digitalisierung quasi über Nacht in den Status des „New Normal“ für (nicht nur pandemiekonformes) Unterrichten erhoben. Damals schrieben Finn Jagow und ich dazu:

„Je schneller wir uns an das Format des Online-Lernens gewöhnen – da es uns auch immer wieder als das erfolgversprechendste Zukunftsmodell für das gesamte Bildungswesen respektive seinen Fortschritt empfohlen wird –, desto geringer fällt das Zeit- und Aufmerksamkeitsquantum aus, um all dem nachzuspüren, was durch dieses künstliche Lernsetting abgekoppelt wird und verloren geht. Da das E-Learning aber lauter denn je als Lösung des Problems in der und für die Krise und darüber hinaus propagiert wird – wo es doch eigentlich nur ein Notbehelf ist –, verlieren wir durch das Disruptive, durch das unser Handeln neu ausgerichtet wird, die Empfindung für das Abgekoppelte und Verlorengegangene. Dieses löst sich dadurch aber nicht auf, sondern addiert sich vielmehr auf der Rückseite unserer digitalen Betriebsamkeit zur schwersten Hypothek der bislang größten Bildungskrise auf, in die wir durch die Corona-Maßnahmenpolitik geraten sind und bei der immer noch kein Licht am Ende des Tunnels erkennbar wird.“

Potenzierter digitaler Kollateralschaden durch E-Teaching während der Corona-Lockdowns

Den konkreten Hintergrund für mein Wiederaufnehmen des Fadens zur Aktualisierung der kleinen digitalisierungskritischen Streitschrift[4] lieferten die schwer zu ertragenden Verharmlosungen und Beschönigungen der Situation, in die wegen der Corona-Maßnahmen viele Schülerinnen und Schüler durch verantwortungslos handelnde Politiker, sich selbst gleichschaltende Medien und hysterisch gewordene Lehrerverbände und Gewerkschaften gestürzt worden waren. Die äußerst prekäre Lage, in die sie hineingerieten, und die für mich nicht nachvollziehbare Untätigkeit meines Berufsstandes angesichts des Leids, das man ihnen durch die Folgen zweimaliger kompletter Schulschließungen (von denen die zweite für Teile der Hamburger Schülerschaft fast bis zu den Sommerferien 2022 andauern sollte) sowie durch die Verbote fast aller sozialen Kontakte und alterstypischen und altersgemäßen Freizeitaktivitäten bzw. Betätigungsmöglichkeiten antat, empörten mich. Vor allem empörte und belastete mich, dass diese Anordnungen bzw. das gesamte Vorgehen, welches diese Anordnungen zum Resultat hatte, über die Bühne gingen, ohne dass es für diese massiven Grundrechtseingriffe und Freiheitsbeschränkungen je eine rationale Rechtfertigung gegeben hätte. Mir war auch nicht verständlich, wie mein Dienstherr darauf verzichten konnte, eine solche Rechtfertigung anzumahnen bzw. sie einzufordern.

Stattdessen wurden die unverhältnismäßigen Mittel und Maßnahmen einfach um- und durchgesetzt, ohne dass ein Abwägungsprozess zwischen den möglichen und sinnvollen Interessen eines Infektionsschutzes und den Interessen angestellt worden wäre, die durch das Kindeswohl in seinem Status als grundgesetzlich vorrangigem Schutz der Menschenwürde vorab definiert waren. Im Gegenteil: Kollegen, die das Kindeswohl ernst nahmen und solche Abwägungsfragen angesichts der Datenlage stellten, wurden ganz schnell in diffamierender Absicht in die „Querdenkerecke“ gestellt, vor die Schulleitungen und die Schulbehörden zitiert und mit disziplinarrechtlichen Mitteln kujoniert. Nicht wenige von ihnen wurden vom Dienst suspendiert und aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Ihre Rehabilitation steht skandalöserweise immer noch aus, während die Schreibtischtäter nach wie vor in Amt und Würden sind.

Der gröbste Verstoß gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit war aus meiner Sicht der, dass Kindern und Jugendlichen der Zugang zur Schulbildung genommen und sie zu Hause eingesperrt wurden, um sie vorgeblich vor einem Virus zu schützen, damit sie ihre Gesundheit bewahren und andere nicht anstecken konnten. Tatsächlich wurden sie in ihrer Gesundheit aber aufgrund der Separation und Isolation, die sie stark belastendem Stress aussetzten und Gefühle von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein erzeugten, viel stärker angegriffen und geschädigt, als wenn man die Infektion mit dem Virus bei geöffnet bleibenden Schulen einfach zugelassen hätte.

Das hätte den Effekt gehabt, dass diese vulnerable Gruppe dadurch viel schneller selbst natürlich immunisiert worden wäre, was im Übrigen auch zu einer früheren Entspannung der allgemeinen Infektionslage beigetragen hätte. Die natürliche Immunisierung – und nicht etwa die sogenannte Impfung, zu der die Jugendlichen gedrängt wurden – wäre ihr bester Schutz gewesen. Das kann als gesichert angenommen werden, da die Datenlage zu keinem Zeitpunkt zwischen 2020 und 2022 verlässliche Hinweise dafür geliefert hat, dass Schüler, wie Politiker es trotzdem kontrafaktisch immer wieder behaupteten, je „Treiber der Pandemie“ waren.

Die hier noch einmal rekonstruierte Gemengelage, der ich mich gegenübersah, führte schließlich dazu, dass mein Freund und Kollege Finn Jagow, der an einer anderen Hamburger Stadtteilschule unterrichtet, und ich im Januar 2021, also in den ersten Wochen des zweiten Lockdowns, eine qualitative Erhebung zur Lebenssituation unserer Schülerinnen und Schüler in den elften Klassen initiierten. Mit den bescheidenen Mitteln, über die wir in dieser Situation verfügten – den Mitteln qualitativer Sozialforschung –, wollten wir der gleichgültigen Haltung vieler Pädagogen, die wir zunehmend sehr befremdlich fanden, etwas entgegensetzen und durch die Untersuchung in Erfahrung bringen, wie es unseren Schülern im Lockdown unter den Bedingungen einer ausschließlichen und rudimentären Beschulung durch E-Learning wirklich erging.

Doch wir scheiterten mit unserem Anliegen, den Schülerinnen und Schülern damit eine hörbare Stimme zu geben. Das Ziel, Öffentlichkeit und Politik auf ihre schwierige, z.T. verzweifelte Lage aufmerksam zu machen, konnten wir nicht erreichen. Nicht einmal kleine Verbesserungen ließen sich für sie durchsetzen. Wir merkten: Gegen den vorherrschenden Panik-Modus der Pandemie-Erzählung, in dessen Griff die Öffentlichkeit mit Dauersirenen-Ton – völlig überzogen – gehalten wurde, war kein Kraut gewachsen. Es ließ sich weder genug Verständnis und Empathie für die Schülerinnen und Schüler mobilisieren, noch war die geringste Bereitschaft auf Seiten der Politik zu erkennen, sich überhaupt argumentativ auf irgendwelche Alternativen zur Extremlösung Schulschließung und E-Learning einzulassen, auf die sich diese versteift hatten. Niemand hatte die Absicht, unsere praktischen und unbürokratisch leicht umzusetzenden Vorschläge zur Abmilderung der Lage im Interesse der Schülerinnen und Schüler ernsthaft und unvoreingenommen zu prüfen, und das, obwohl das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) im Zusammenhang mit Corona schon damals von der größten Bildungskatastrophe der Neuzeit sprach; sie wurde, – unfassbar, aber wahr – einfach ausgesessen.

Nach Auswertung der Fragebögen, die wir unseren Schülern geschickt hatten, war ich selbst als digitalisierungsskeptisch eingestellter Pädagoge, der schon erwartet hatte, dass ihn die Antworten seiner Schüler mit einigem Negativen und Beunruhigenden konfrontieren würden, von den Ergebnissen unserer kleinen Studie regelrecht schockiert – ein Schock, den ich so nicht vorausgesehen hatte. Ähnlich, wenn nicht noch mehr, schockierte mich allerdings die Tatsache, dass diese wirklich alarmierenden Befunde, die hier zu Tage traten, in den Fraktionen der in der Hamburger Bürgerschaft vertretenen Parteien und der GEW – mit beiden hätten wir gerne einen Austausch begonnen – sowie auch in den Medien nur auf taube Ohren stoßen sollten – und das trotz folgender Ergebnisse:

  • 90 Prozent aller Schülerinnen und Schüler nehmen die derzeitige Situation des Schul-Lockdowns als „belastend“, jeder zweite Befragte sogar als „sehr belastend“ wahr.
  • Fast jeder Zweite geht davon aus, dass sich seine Noten durch die Lockdowns verschlechtern werden.
  • 58 Prozent bekommen zu Hause wenig oder gar keine Unterstützung.
  • 69 Prozent der Schülerinnen und Schüler sagen: Die Schule nimmt nur teilweise Rücksicht auf die besondere Situation, 24 Prozent sagen: Sie nimmt keine oder nur wenig und nur 6,9 Prozent sagen, sie nimmt viel Rücksicht.
  • 90 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler sprechen sich dafür aus, möglichst schnell wieder in den Präsenzunterricht zurückkehren zu können, 24 Prozent können sich in der derzeitigen Situation am besten Hybridunterricht (Mischung aus Präsenz- und digitalem Fernunterricht) vorstellen, wenn sie eine Wahlmöglichkeit bekommen.

Kein Ausweg aus der katastrophalsten Bildungskrise der Neuzeit?!

Obwohl wir selbst durch die Reaktionen und Äußerungen unserer „Schülerprobanden“ für ihre schlimme und eigentlich untragbare Lage natürlich besonders sensibilisiert worden sind – der Umgang mit dieser Untersuchung sollte für mich ein prägendes Erlebnis darstellen und führte dazu, dass mich das Thema der pädagogischen Aufarbeitung der Corona-Krise seitdem nicht wieder losgelassen hat –, gilt andererseits leider, dass bei den Verantwortlichen bis zum heutigen Tag weder eine Sensibilisierung für diese keineswegs „erledigten“ Probleme stattgefunden noch sich so etwas wie ein Verständnis der Täter für oder gar Reuegefühle gegenüber den Opfern entwickelt haben. In der Studie wiesen all die Schwierigkeiten, unter denen unsere Schüler infolge der Maßnahmen leben mussten, in nuce – auch wenn uns für die Datenerhebung nur ein kleines Stichproben-Sample zur Verfügung stand – bereits auf den großen psychosozialen Belastungskomplex hin, der etwas später zur traurigen Realität wurde und u.a. als die einzige Triage, die sich in der Corona-Zeit tatsächlich ereignete, nämlich die Triage in den Kinder-und Jugendpsychiatrien, massiv in Erscheinung treten sollte.

Das heißt, dass sich hier bereits die erst später manifest werdenden chronifizierten Belastungsstörungen und psychosomatischen Krankheitsbilder als schon zum Teil schwerwiegende Folgen der Corona-Maßnahmen-Politik ankündigten[5] – von den Schäden ganz zu schweigen, die in Folge der sogenannten Impfung auftreten sollten.

Auch wenn sich trotzdem, ein Jahr nach offiziellem Ende der sogenannten Pandemie, die psychischen Langzeitfolgen der Schul-Lockdowns für Kinder und Jugendliche noch gar nicht genau absehen lassen, muss angesichts der verfügbaren Datenlage doch vermutet werden, dass diesbezüglich bislang nur die Spitze des Eisbergs eines riesigen Gesundheitsproblems sichtbar geworden ist, der durch die Wegschließungen und das Covid-Spritzen-Regime auf uns zukommt und unsere Gesellschaft vor gewaltige Belastungen stellt. Sicher scheint, dass die Fallzahlen an Verhaltensauffälligkeiten, psychosomatischen Krankheiten, Entwicklungs-, Ess- und Schlafstörungen sowie Depressionen und Angstpsychosen sprunghaft angestiegen sind. Zu erinnern ist daran, dass Pädiater sowie Kinder- und Jugendpsychologen schon im ersten Corona-Jahr in dieser Hinsicht ungehört Alarm schlugen. Außerdem ist die Computer- und Smartphone-Sucht (siehe oben) inzwischen endemisch unter Jugendlichen verbreitet und wirkt sich verheerend auf Bildungskarrieren aus.

Insgesamt haben sich die vor Corona schon starken, schicht- und milieuabhängigen Diskrepanzen und Disparitäten im bundesrepublikanischen Schul- und Bildungssystem nochmals dramatisch verschärft – mit dem Effekt, dass soziale Ungleichheit sich weiter verfestigt. Dies stellt eine große Gefahr für die Demokratie und für den Zusammenhalt der Gesellschaft dar.

Trotz dieser desaströsen Ergebnisse hält die Politik in Deutschland offensichtlich unbeirrt an der Digitalisierung der Schulen fest. Hierzulande erachtet sie es nicht einmal für nötig, die Erfahrungen mit dem E-Learning während der Corona-Krise aufzuarbeiten, um in Zukunft bessere politische Entscheidungen sicherstellen zu können, welche dann tatsächlich auch im Einklang mit der UN-Kinderrechtskonvention getroffen werden, d.h. solche, die mit den Menschenrechten kompatibel wären, die auch für Kinder gelten (sollten!). Denn trotz allen Inklusionsgeredes war genau das eben in der Corona-Politik zu keinem Zeitpunkt der Fall: Die Grundrechte der Kinder wurden komplett missachtet. Da der Nachweis eines pädagogischen Nutzens der Digitalisierung bislang nicht erbracht werden konnte, müsste bei der Debatte doch allgemein die Frage in den Mittelpunkt gerückt werden, welchen anderen großen oder noch größeren Interessen und Zielen die Schuldigitalisierung dann eigentlich dient. Diese Frage müsste angesichts der Tatsache, dass die Schuldigitalisierung nach Corona offenbar trotz der desaströsen Ergebnisse weiter ohne nennenswerte Korrekturen verfolgt werden soll, mit besonderer Dringlichkeit gestellt werden. Doch ein Interesse an dieser Frage lässt sich in der deutschen Öffentlichkeit beim besten Willen nicht feststellen.

In anderen europäischen Ländern ist ein Umdenken in Gang gekommen

Dabei könnte man in Deutschland z.B. von Schweden und Dänemark lernen, von zwei Ländern, die bezeichnenderweise lange Zeit Vorreiter der Schuldigitalisierung gewesen sind und dementsprechend bei dieser Ummodellierung ihrer Bildungslandschaft noch viel weiter sind bzw. waren als die auch hier ins hintere Mittelfeld abgerutschte Bundesrepublik. Beide Länder haben nun, kurz nacheinander, diesbezüglich in der Bildungspolitik eine Wende um 180 Grad eingeleitet:

So hat in Schweden eine von der Regierung berufene Kommission aus Entwicklungspsychologen und Kognitionswissenschaftlern des namhaften Karolinska-Institutes Stockholm im vergangenen Jahr festgestellt, dass es „eindeutige wissenschaftliche Belege dafür (…) gibt, dass digitale Werkzeuge das Lernen der Schüler eher beeinträchtigen als verbessern.“ Weiter heißt es in dem Abschlussbericht der Wissenschaftler, den die neue schwedische Regierung sich weitgehend zu eigen gemacht hat:

„Die zunehmende Digitalisierung der Schulen weist (…) erhebliche negative Folgen auf, (…) daher sollten wichtige schulpolitische Entscheidungen nicht getroffen werden, ohne dass man vorher weiß, was die Forschung sagt. (…) Wir sind der Meinung, dass der Schwerpunkt wieder auf den Wissenserwerb über gedruckte Schulbücher und das Fachwissen des Lehrers gelegt werden sollte, anstatt das Wissen in erster Linie aus frei zugänglichen digitalen Quellen zu erwerben, die nicht auf ihre Richtigkeit geprüft wurden.“ (bildung-wissen.eu, veröffentlicht am 9. Juli 2023)

Daraufhin hat der Bildungsminister die Schulen angewiesen, den digitalen Unterricht und den Gebrauch digitaler Lernmittel zurückzufahren und insbesondere die frühe Tablettnutzung im Vor- und Primarschulbereich einzustellen und der Empfehlung der Karolinska-Kommission gemäß durch Schulbücher zu ersetzen.

In Dänemark hat die Regierung Ende 2023 die gleichen Kurskorrekturen für die Schulen angekündigt. Der sozialdemokratische Bildungsminister Mattias Tesfaye ging sogar so weit, sich bei den dänischen Schulkindern dafür zu entschuldigen, „dass sie als Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment“ zugunsten der großen Tech-Konzerne missbraucht worden seien. Norbert Häring hat dankenswerterweise unter der Überschrift „Die Vorreiter der Schuldigitalisierung legen den Rückwärtsgang ein“ über diese Entwicklungen in den beiden skandinavischen Ländern vor Kurzem ausführlich in seinem Blog berichtet (norberthaering.de, 09. Februar 2024).

Doch nicht nur in den skandinavischen Ländern, auch andernorts zeigt sich in Sachen Digitalisierung ein Umdenken in Europa: Die Niederlande gehen sogar noch rigoroser vor. Dort hat man mit Ende der Weihnachtsferien am Beginn des Jahres 2024 die Nutzung von Handys, Tabletts und Smartwatches in den Schulen generell verboten. Ähnliches haben die Regierungen von Italien und Großbritannien angekündigt. Und auch das spanische Bildungsministerium hat vorgeschlagen, den Gebrauch von Mobiltelefonen an Schulen einzuschränken. (de.euronews.com, 16. Dezember 2023).

Was ich aus meiner fast 20-jährigen Erfahrung als Lehrer zur Erneuerung des von der Politik, der Politikberatung (OECD, Bertelsmann & Co.) und den Schulverwaltungen an die Wand gefahrenen Schul-und Bildungssystems für notwendig erachte, ist inzwischen also nicht nur von Kognitionsforschern und Bildungsexperten, sondern auch von zahlreichen Politikern, allerdings fast ausschließlich Politikern im Ausland, erkannt und sowohl in den bildungs- als auch gesellschaftspolitischen Konsequenzen thematisiert wurden. Erste Schritte für eine grundlegende Kurskorrektur sind in die Wege geleitet worden. Nun wird es spannend sein zu sehen, wie weit die Arme der mächtigen Digitallobby in Stockholm, Kopenhagen und andernorts reichen, um nicht an Einfluss zu verlieren. Man kann nur hoffen, dass die Revisionen ernst gemeint sind und wirklich auch durchgesetzt werden können und dass hoffentlich diese Beispiele auch in Deutschland bald „Schule machen“. Erste Signale, von der schleswig-holsteinischen Bildungsministerin Katrin Prien (CDU), gibt es in diese Richtung. Zumindest sollte die Entscheidung unserer Nachbarn die bei uns längst überfällige Debatte von Nutzen und Nachteil der Digitalisierung für die Schule, das Lernen und das Leben endlich anschieben.

Fazit I: Was die Digitalisierung aus den Lehrern und dem Lehrerhandeln macht

Für mein eigenes Plädoyer möchte ich am Ende dieses kleinen, berufsbiographisch grundierten Essays folgendes Fazit ziehen (der Leser möge es mir nachsehen, dass es etwas philosophisch ausfallen wird. Von einem Philosophielehrer zu erwarten, dass er ausgerechnet bei der Frage nach der Zukunft der Bildung über seinen Schatten springt, dürfte aber vielleicht auch zu viel erwartet sein):

Die Interferenz des digitalen Systems mit dem des Lernens und Bildens hat die für das pädagogische Professionshandeln konstitutive Dialektik zwischen Nähe und Distanz des Lehrers gegenüber seinen Schülerinnen und Schülern aufgehoben. Der Lehrer verschwindet hinter der Hard-und Software der digitalen Apparatewelt, er soll sich gegenüber der scheinbaren Objektivität, Genauigkeit, Zuverlässigkeit der Künstlichen Intelligenz und den Effizienz-Versprechen des automatisierten Lernens zurücknehmen und zum „Lerncoach“ mutieren, d.h. sich nurmehr in Zukunft als Unterstützer dieser durch IT und KI gesteuerten Systeme verdingen.

Das geht jetzt schon einher mit dem Verlust des Ansehens und der Autorität der Lehrpersonen. Der Lehrer wird nicht mehr als eine Instanz des Wissens, der Kritik und der gesellschaftlichen Integration und als fachliche, aber auch ethisch-moralische Autorität in der für die Ziele von Schule notwendigen erzieherischen Praxis anerkannt, und zwar weder von den Schülern noch den Eltern noch gar von den Schulverwaltungen. Vielmehr wird er auf die Rolle des Dienstleisters reduziert, der sich im Auftrag der IT-Industrie auf das Moderieren, Überwachen und Nachsteuern von Lernprozessen beschränkt, die an einen messenden und sich auto-regulativ steuernden Maschinenkreislauf mit kybernetischen Feedbackschleifen delegiert werden sollen.

Viele jüngere Lehrerinnen und Lehrer nehmen diese Neudefinition ihrer beruflichen Tätigkeit ohne Murren, nahezu vorbehaltlos oder sogar gerne an und identifizieren sich mit ihr. Viele erhoffen sich dadurch auch eine Entlastung. Aus der Art und Weise, wie sie als Personen individuell an den Schulen, in den Konferenzen und im Lehrerzimmer in Erscheinung treten, nämlich am liebsten sehr zurückgenommen bis gar nicht, lässt sich schließen, dass ihr professionelles Verständnis nicht über ein „Ich will hier nur meinen Job machen“ hinausreicht. Sich menschlich, als ganze Person einzubringen scheint ihnen eher suspekt zu sein (was vielleicht nicht so erstaunlich ist, wenn man sich klarmacht, dass sie selbst zu einem großen Teil schon Produkte dieser entpersonalisierten und entpersonalisierenden PISA- und BOLOGNA-Rumpfbildung sind. Sie mussten selbst schon fleißig Credit-Points für ihre Module sammeln, bekamen bis ins kleinste Detail vorgeschrieben, was zu welcher Zeit wie im Studium zu lernen war, und wurden ständig überwacht und geprüft. In diesem Zusammenhang darf auch nicht vergessen werden, dass die Entwicklung der Schulen zu zentralisierten, viel zu großen, unübersichtlichen, post-tayloristisch durchorganisierten und anonymen Lernfabriken ja bereits in den 1970er-Jahren einsetzte.

Fazit II: Was nun täte unserem heutigen Bildungssystem wirklich not?

Am dringlichsten benötigen wir neben mehr Ressourcen für und sehr viel mehr Augenmerk auf bildungsrelevante Beziehungsarbeit, z.B. durch deutlich kleinere Klassen bzw. Lerngruppen, eine Stärkung der Leistungsaspekte durch eine Konzentration auf das Wesentliche im Unterricht. Das Wesentliche heißt: richtig und gut Sprechen-, Lesen-, Schreiben-, Rechnen-, Logisch-Denken-Lernen. Dies sind im Übrigen auch die wichtigsten Voraussetzungen dafür, um einen sinnvollen Umgang mit digitalen Medien und Werkzeugen erlernen zu können. Außerdem sollte in den Lehrplänen dem Erfahrungslernen und -wissen und der Reflexion Vorrang gegeben werden vor schwammiger Kompetenzorientierung und dem Antrainieren beruflich (scheinbar) leicht verwertbarer und (angeblich) gut nutzbarer Fähigkeiten. Dass das nicht funktioniert, ist häufig genug von der Praxis an die Schulen zurückgemeldet worden. Eine echte pädagogische Wende würde das längst überfällige Reflektieren über das, was Wissen und Bildung im Internetzeitalter und unter den Bedingungen der Künstlichen Intelligenz heißen kann, mit einbegreifen.[6]

Wir sollten uns auf eine Pädagogik der Sorge, aber einer Sorge um die Autonomie des Individuums besinnen. Als Erstes müssten die Pädagogen dafür wieder lernen, NEIN zu sagen. Sie müssten sich z.B. weigern, Kinder und Jugendliche an den elektronischen Geräten, in der virtuellen Realität und den scheinbar grenzenlosen Weiten des World Wide Web weiter sich selbst und ihrem von Big Tech programmierten Schicksal zu überlassen. Denn eine solche Haltung kann nicht verantwortet werden, weil die Pädagogik am Ende Gefahr läuft, damit den vollkommenen Selbst- und Weltverlust, den ihre ihr zum Schutz befohlenen Kinder und Jugendlichen dadurch erleiden können, billigend in Kauf zu nehmen.

Wir brauchen eine Pädagogik, die der jungen Generation hilft, durch praxisnahe Medienerziehung und Medienkritik einen vernünftigen und gesunden Umgang mit digitalen Geräten und Gadgets auszubilden. Dazu sollte ein Fach „Medien“ an den Schulen fest etabliert werden, in dem die Schüler über mediale Beeinflussungstechniken aufgeklärt werden und z.B. lernen können, dass das Design der Social-Media-Plattformen und Algorithmen „darauf angelegt ist, Verweildauer und Interaktion auf der jeweiligen Plattform zu maximieren, um so höchstmöglichen kommerziellen Nutzen zu ziehen. Dies geschieht durch die gezielte Aktivierung neuronaler Systeme, die der Mensch nicht bewusst steuern kann (…) und tief in die Psyche eingreifen.“ (ratfuerdigitaleoekologie.org/de/)

Generell wichtig erscheint mir, dass Pädagogen junge Menschen in Zukunft zur digitalen Achtsamkeit erziehen und sie darüber aufklären, wie diese Geräte, Medien und Apps auf uns wirken, was sie mit uns machen, wie sie das Nutzer-Verhältnis umkehren (d.h. wie es dazu kommen kann, dass wir ihnen dienen und von ihnen benutzt werden, statt umgekehrt) und dass digitale Mündigkeit nur erreicht werden kann, wenn wir uns über ihr Wesen, ihre Funktionen und die damit verfolgten Absichten Klarheit verschaffen. Die Schüler sollten also in die Lage versetzt werden, einen eigenen Kompass zu entwickeln, mit dem sie sich aus der Welt des digitalen Scheins befreien können. Denn sie spüren sehr wohl, dass dieser Schein sie einsam macht und dass seine Versprechen von Nähe, Dabeisein und gesteigerter Lebensintensität trügerisch sind. Vergessen wir nicht, inwieweit die gottgleiche Großartigkeit des Internets nur eine angemaßte ist: Wird die Stromverbindung gekappt, ist es zappenduster in der virtual reality, und ohne Anschluss an die Stromversorgung bleibt es das auch. Dafür, dass sie sich spätestens an diesem Punkt als bloße, elektrifizierte laterna magica entpuppt, kommt sie doch sehr großspurig daher.

Dagegen gilt es, den Reichtum der natürlichen, uns gemeinsamen realen Welt mit allen Sinnen und den von Menschen geschaffenen, von Sinn und Bedeutung durchwirkten, insofern nie ganz abgeschlossenen und wunderbaren Erscheinungen und Konstruktionen, Ideen und Schöpfungen neu zu entdecken. Einer Generation Head-Down wird dies nicht möglich sein. Denn nur in der analogen Welt, die uns zwischenmenschlich wie auch intergenerational verbindet, und nicht in der durch Algorithmen und Filterblasen uns von den anderen und der pluralen Wirklichkeit trennenden Placebo-Welt der Bytes und Bits können wir authentische Erfahrungen machen. Nur dort gibt es wahres Glück, echte Schönheit, wirkliche Erfüllung und kann für uns Menschen so etwas wie Heimat aufscheinen, Freiheit tatsächlich erlebt und diese auch nur erkämpft werden. Und nur in der analogen Welt gibt es auch all das andere, im Guten wie im Schlechten, wofür (und wogegen) es sich bei genauerem Hinsehen wirklich erst zu leben lohnt.

Außerdem sollte es wieder zum Credo und zur Maxime der Schulpädagogik werden, ihre wichtigsten Anliegen, Lehren und Lektionen konkret und glaubhaft zu verlebendigen. Was eignet sich besser dafür, als in den Schulen charismatische, streitbar-herausfordernde Lehrerpersönlichkeiten nicht nur zuzulassen oder zu dulden, sondern deren Existenz zu fördern und alles das zu kultivieren, was der Bildung von Lehrer-, aber natürlich auch von Schülerpersönlichkeiten zugutekommt? Dieser Ansatz würde bedeuten, die Verantwortung und die pädagogische Urteilskraft des Lehrers in den Schulen endlich wieder zu stärken.

Außerdem sollte die top-down-gemanagte Schule im Interesse einer besseren Schulentwicklung zugunsten eines Modells überwunden werden, das neben der Beachtung der wichtigen Rolle des Lehrers auch die Stärkung von Klassen- und Lehrerkonferenzen sowie ganz allgemein die große Bedeutung von kollegialer pädagogischer Mitbestimmung als eine vorrangig zu erfüllende Bedingung eines jeden gelingenden Schulveränderungsprozesses begreift. Statt Schule und Lehrer technologisch steuern zu wollen und immer mehr Geld in Digitalisierung zu stecken, sollte also besser in emphatische, inspirierende, originelle, intrinsisch motivierte, mutige, unbequeme, kurz (horribili dictu!): zum Querdenken befähigte Lehrerpersönlichkeiten und in ein Umfeld investiert werden, das ihr Handeln nicht vor allem, so wie das heute der Fall ist, torpediert. Dabei versteht es sich von selbst, dass diese Lehrerpersönlichkeiten, die ich im Blick habe, über ausgezeichnetes Fach- und Weltwissen verfügen – beileibe also das Gegenteil von Fachidioten sind.

Ausblick: Die Idee einer Schule, in der man die menschliche Natur und Freiheit besser achten würde

Aus meiner Sicht, auch wenn man sich bestimmt damit sogleich des Verdachts aussetzt, etwas altmodisch und recht sonderbar zu sein, haben Pädagogen vor allem die Aufgabe, „an der Front des Weltexperiments“ – Experimentum Mundi (Ernst Bloch) – den Kindern und Jugendlichen immer wieder erzählend, erklärend, vermittelnd, erkennend, bejahend Lernen und Bilden als ein Projekt für eine gemeinsame Welt, die niemals fertig ist und wird, nahezubringen. Den Lehrern muss endlich Zeit und Raum gegeben werden, um sich wirklich für ihre Schüler interessieren zu können, sodass sie Vertrauen und Mut fassen, sich auf das Abenteuer des Wissens und der Bildung einzulassen. Dafür müssen sie als ganze Menschen wahrgenommen und angesprochen werden können. Jochen Krautz schreibt dazu:

„Erziehung und Bildung können sich immer nur in interpersonalen Beziehungen vollziehen. Hierdurch entfaltet der Mensch seine angelegte Sozialität, seine Fähigkeit zur Kooperation und Verstehen. (…) Auch das Lernen beruht auf der spezifisch menschlichen Fähigkeit zu geteilter Aufmerksamkeit auf Fragen und Sachverhalte der gemeinsamen Welt. (…) Der Lehrer kann den Schüler anregen, eine geistige Aktivität zu entfalten. Tun muss es der Schüler aber selbst. (…) Man kann nicht gebildet werden. Ohne innere Aktivität geschieht nichts. Ein Lehrer kann und muss den Schüler dazu auffordern, ihn für etwas interessieren, ihn ermutigen, ermahnen, motivieren, unterstützen. So kann man jungen Menschen z.B. aus einer Lernentmutigung heraushelfen. (…) Bindung und Beziehung werden heute aber gerne missverstanden, als ginge es um ein persönliches Coaching, um Beziehungsarbeit unabhängig von der Sache. Wir haben aber ein pädagogisches Dreieck. Der Mittelpunkt ist die gemeinsame Arbeit an Weltzugängen, die die Schulfächer repräsentieren: die Sprachen, die naturwissenschaftliche Sichtweise, die historische Perspektive, die bildnerisch-gestalterische Dimension usw. Nur durch eine intensive Auseinandersetzung mit den Realia, den Dingen und Themen unserer gemeinsamen Welt, entwickelt man sich zu einer reifen Persönlichkeit.“ (lehrernrw.de)

Für die schulischen und pädagogischen Prozesse sollte in Anbetracht der die Handlungs- und Denkspielräume der Menschen immer stärker einengenden Anwendungen der Künstlichen Intelligenz noch etwas Weiteres bedacht werden:

Der Mensch – ein Gedanke, der besonders von Hannah Arendt hervorgehoben wurde – lebt von der Gabe und Fähigkeit, immer wieder neu anfangen zu können. Daher ist und bleibt er sein Leben lang ein Lernender und Suchender, aber damit sein Leben lang auch ein immer wieder in die Freiheit Aufbrechender. In „Die Freiheit, frei zu sein“ schreibt Hannah Arendt:

„Diese geheimnisvolle menschliche Gabe, die Fähigkeit, etwas Neues anzufangen, hat offenkundig etwas damit zu tun, dass jeder von uns durch die Geburt als Neuankömmling in die Welt trat. Mit anderen Worten: Wir können etwas beginnen, weil wir Anfänge und damit Anfänger sind.“

Wird ihm dieses nun durch eine dazwischengeschaltete Technik verwehrt, die alles schon „weiß“ bzw. die vorgibt, alles schon zu wissen, muss in Bezug auf Schule Folgendes konstatiert werden: Bildung ist ohne Bildungserlebnisse nicht zu haben. Durch das Touch-Screen-Lernen wird dem Schüler suggeriert, er müsste nur die vorgesehenen Lernprogramme erfolgreich durchlaufen; wenn er schließlich perfekt auf das Maschinenlernen konditioniert ist, dann sei er auch „gebildet“. Aber wie sehen wohl Bildungserlebnisse vor dem Computer-Bildschirm aus?

„Lebendigkeit“, um den Soziologen Hartmut Rosa zu zitieren, „entsteht nur aus der Akzeptanz des Unverfügbaren“, und Bildung lässt sich nicht „programmieren“. Solch eine programmierte Bildung wäre, wenn es sie gäbe, das krasse Gegenteil von Lebendigkeit – und Lebendigkeit spricht immer aus wahrer Bildung. Programmierte Bildung wäre tot.

Das Anfangen und die Bezeichnung der Menschen als die Spezies von Neu-Anfängern, die „von dem Gewesenen und Geschehenden ausgesehen, schlechterdings unerwartet und unerrechenbar in die Welt (…) mit der Begabung für das Unvorhersehbare (…) brechen“ (Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967, S. 166 f.), werden in Arendts Werk unter dem Begriff der Gebürtigkeit bzw. Natalität so betont, weil sie für ihren Entwurf des Politischen von eminenter Bedeutung sind. Gebürtigkeit ist für Arendts Verständnis von Politik u.a. deshalb so wichtig, „weil Menschen nicht als identische Kopien zur Welt kommen, sondern als Individuen mit eigenem und eigenwilligem Bewusstsein.“[7] (achimwagenknecht.de)

Das verbürgt nicht nur die Pluralität der Sichtweisen, deren freies Oszillieren für den möglichst ungehinderten Austausch der Meinungen auch ein großes Anliegen Arendts war, sondern darüber hinaus, wie der Politologe Oliver Marchart in einem Buch über die wohl originellste politische Denkerin des 20. Jahrhunderts herausgestellt hat, die Richtig- und Wichtigkeit von Arendts Überzeugung, „dass“, wie Marchart es formuliert, „die Welt verändert werden kann, dass nichts so bleiben muss, wie es ist, und dass (…) eine andere Welt möglich ist.“ Die Natalität wird bei Arendt also zu so etwas wie einem Erkennungszeichen, dass die Menschen wortwörtlich, im existenziellen Sinne, politische Wesen sind und solche auch sein wollen, anderenfalls verkümmern sie.

Die Schulen sollten meiner Auffassung nach so eingerichtet sein, dass sie die Einsicht Arendts in die Veränderbarkeit der Welt durch „die Begabung des Menschen mit dem Unvorhersehbaren“ berücksichtigen sollten, dergestalt, dass die in ihnen Tätigen genügend Raum und Anknüpfungspunkte (gleich Ansätze zu Beziehungen) finden können, um ihre „Fähigkeit, etwas Neues anzufangen“ (Arendt) auszuprobieren, denn sonst verkümmern sie, und mit ihnen verkümmert auch die Schule. Das heißt, es wären Schulen zu wünschen, in denen Lehrerinnen und Lehrer mit Schülerinnen und Schülern in ganzheitlicher, alle Sinne ansprechender Interaktion und in dialogischen Formen, einander zugewandt, so lernen könnten, dass das Lernen seinen wenig produktiven Einbahnstraßencharakter schnell verlieren würde.

Schulen sollten in Zukunft nicht nur Wissen reproduzieren und Kompetenzen trainieren, sondern der Ort werden, an denen (wieder) bereichernde und prägende Erfahrungen gemacht werden können, die sich positiv auf die Charakterbildung auswirken und dabei helfen, das Individuum mit einem guten sozialen Sinn auszustatten. Diese für die Gesellschaft und den gesellschaftlichen Zusammenhalt enorm wichtigen Erfahrungen können sehr gut aus diesem gemeinsamen schulischen Handeln, Lernen und Begreifen erwachsen, wenn man sie entbürokratisieren und Lehrern sowie Schülern größtmögliche Freiheit vor staatlicher Bevormundung geben würde. Gewiss würde man so dafür sorgen können, dass die Schüler, aber auch die Lehrer neues Selbstvertrauen gewinnen und sich ihrer Selbstwirksamkeit (wieder) bewusst werden – einer Selbstwirksamkeit, die letztlich in der menschlichen Natur begründet liegt, jederzeit etwas Neues anfangen (zu) können.

Etwas Neues anzufangen heißt, dass es einerseits, da dieses Neue aus einer Gemeinschaft von eigenwilligen und eigensinnigen Individuen hervorgeht, an uns als seine Schöpfer gebunden bleibt, dass es andererseits in seiner Bedeutung aber weit über das Individuelle hinausreichen kann, da in diesem Prozess Kräfte entfaltet werden (können), die das Zeug dazu haben, unsere Welt erst im Kleinen und dann auch im Großen tatsächlich zu verändern. Diese Veränderungen, die nicht nur die Kraft besitzen, das Lernen und Bilden zu revolutionieren, sondern darüber hinaus, wenn sie freigesetzt wurden, unser ganzes Zusammenleben neu ordnen werden, werden im Einklang mit unserer Natur, unseren Bedürfnissen nach Sozialität und Freiheit und unseren individuellen Fähigkeiten geschehen, die in einer „Gesellschaft von Anfängern“ Förderung, Anerkennung und Resonanz erfahren – oder sie werden nicht geschehen. Diese Veränderungen werden einen großen qualitativen Sprung für die gesellschaftliche Entwicklung bedeuten, da sie nicht bloße Mittel zu einem anderen, heteronomen, bildungsfernen Zweck sind, wie dies beim Digitalisierungssetting aus dem Geist der Technokratie der Fall ist, das über die ganze Schule gelegt werden soll. Vielmehr steckt in diesen Veränderungen das Potenzial, die Menschen aus den kapitalistischen Verzweckungs- und Ausbeutungsverhältnissen[8] zu befreien, aber ohne ihnen auf dem Weg dorthin irgendwelche neuen, einengenden, ideologisch-dogmatischen Vorschriften zu machen.

Wir sehen an dieser Stelle schon, dass die Denkfiguren und die sich daraus ergebenden Sichtweisen, die hier nur angedeutet werden können, in einem denkbar großen Kontrast zu den Aussagen und Positionen der die Digitalisierung pushenden Schul- und Bildungstechnokraten stehen. Sie haben Gegensätzliches im Sinn zu dem, was derzeit durch Learning Analytics in der Schule umgesetzt und gemanagt wird. Den Machern und Managern der Learning Analytics geht es um die möglichst vollständige Berechenbarkeit des Menschen. Die algorithmische Lernanalytik ist Teil des Programms, das die sogenannte biodigitale Konvergenz zum Ziel hat. Der Mensch erscheint dort nicht als Produzent oder besser Autor seiner eigenen Autonomie, Zoon politikon, debütierender Gestalter seiner Welt, über dessen Fähigkeiten zum Anfangen man sagen kann, dass sie immer etwas Zauberhaftes und auch Optimistisches haben – „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, Hermann Hesse, „Stufen“ –, sondern nur als ein Datensatz. Sein Denken und Fühlen soll durch die umfassend zu Profilen („Profiling“) verarbeiteten Daten vorhersehbar gemacht, sein Verhalten genau vorausgesagt werden können.

Er soll mit anderen Worten von den Mächten, die hinter diesen Maschinen stehen und aus ihrem Einsatz auch den bei Weitem größten Nutzen ziehen, möglichst vollständig determiniert werden.

Bildung muss man sich dagegen als einen ins Offene weisenden, auf Wachstum und Transformation gerichteten Prozess vorstellen, bei dem es um Erlangung größtmöglicher Autonomie, Handlungssouveränität, geistige Unabhängigkeit, aber auch um Spiritualität (die Fähigkeit zur Selbsttranszendierung) und seelische Gesundheit geht.

Um der Offenheit des Bildungsprozesses und der durch das Faktum der Natalität (Gebürtigkeit) gegebenen Veränderbarkeit der Welt im Kleinen wie im Großen (wieder) die Bedeutung zu geben, die ihr eigentlich, aus anthropologischer Perspektive betrachtet, zukommt, muss das Bildungssystem aus seiner Erstarrung gelöst werden. Dafür müssen die Lehrerinnen und Lehrer ihre Lähmung überwinden. Um eine menschenwürdige und lebenswerte Zukunft angesichts des Kipppunktes, dem sich das „Weltexperiment“ aufs immer Bedrohlichere hin nähert, nicht aufs Spiel zu setzen, bedarf es einer (Wieder-)Entdeckung der Schule als analogen Schutz- und gemeinsamen Erfahrungsraum und einer Renaissance des Lehrers!

Hinweis des Autors: In meinem Text verweise ich wiederholt auf mein digitalisierungskritisches Thesenpapier, das im März 2021 veröffentlicht worden ist. Es bietet eine kompakte Sammlung von (meiner Auffassung nach) besonders wichtigen Argumenten gegen die Schuldigitalisierung und den weiteren Vormarsch der sogenannten Learning Analytics. Gegenüber dem oben stehenden, persönlich stark eingefärbten und auf eine Synthese meines Urteils über die Schuldigitalisierung abzielenden Text hat das Thesenpapier für Leser, die sich noch nicht so intensiv mit dem Thema beschäftigt haben, den Vorteil, dass ich dort die Argumente einzeln konturiert und entwickelt und sie ohne einen komplexen Kontext oder eine Art Rahmenerzählung dargestellt habe.

Die Links dazu:

Zum Autor: Bernd Schoepe (Jahrgang 1965) ist freier Autor für bildungssoziologische, bildungspolitische und -philosophische Themen, GEW-Mitglied und langjähriges aktives GEW-Betriebsgruppenmitglied, Vertrauensmann sowie ehemaliges Mitglied der Hamburger Lehrerkammer. Hauptberuflich ist er Deutsch-, Politik- und Philosophielehrer an einer Hamburger Stadtteilschule.

Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier.

Titelbild: Masson / Shutterstock


[«1] Was wir lernen, wenn wir lernen, ist immer auch Selbstbeherrschung, z.B. als Fokussierung auf einen Gegenstand. So führt uns auch die Bildung nur in Freiheit durch unsere Freude am Lernen, die kein Gefühl, sondern eine Erkenntnis ist, und wiederum auf Selbstbeherrschung beruht. Ohne Überwindung daher keine Freude, ohne lernende Selbsttranszendierung keine echte Freiheit.

[«2] Das setzt sich an der Uni fort, wo „nur wenige Studenten Laptop und Co. in der Vorlesung lernorientiert nutzen. Sie surfen stattdessen im Internet, spielen oder plaudern mit Freunden in sozialen Netzwerken. (…) Forscher der Universität des Saarlandes (…) kommen zu dem Fazit: ‚Die meisten Studenten, die wir beobachtet haben, beschäftigen sich mit vorlesungsfernen Aktivitäten.‘“ (wissenschaft.de, 30. Juni 2014.

[«3] Das wird durch die Struktur dieses Mediums verursacht: „Der Bildschock mit ruckartig vorgebrachten optischen Reizen wird zum Brennpunkt eines globalen Aufmerksamkeitsregimes, zu dessen charakteristischen Merkmalen es plötzlich gehört, dass jener mit den beruflichen“ (und ebenso schulischen, Anm. B.S.) „Arbeitsaufträgen verschmilzt. Als Ergebnis der Anpassung an die Hoheit der rasanten Bildflut fällt es am Ende immer schwerer, sich über längere Zeit auf eine Sache konzentrieren zu können.“ Manfred Gerspach socialnet.de, 13. August 2012

[«4] Sie ist dann im GEW-Magazin Ansbach und auf der Seite der Gesellschaft für Wissen und Bildung unter dem Titel „Zehn Thesen zur Digitalisierung der Schulen“ erschienen. gew-ansbach.de, 4. März 2021, bildung-wissen.eu, 4. März 2021.

[«5] Wir hatten anhand der Antworten unserer Schüler Probleme der Rhythmisierung, der Orts- und Zeitdiffusion, der Motivation, der Konzentration, der Monotonie und Isolation sowie Probleme der nicht natürlichen Kommunikation, als die durch die Schulschließung und das ausschließlich während des Lockdowns praktizierte E-Learning verursachten Hauptprobleme identifiziert bzw. rekonstruiert. 90 Prozent der Teilnehmer hatten mindestens ein, meist mehrere dieser Probleme in den offenen Fragebögen direkt angesprochen oder indirekt umschrieben, ganz zu schweigen von denen, die in Folge der sogenannten Impfung auftreten sollten.

[«6] An anderer Stelle habe ich einen kleinen Beitrag zur Entwirrung der Begriffe Wissen und Bildung und ihres Verhältnisses, aber auch zur Definition der Begriffe Daten und Informationen zu leisten versucht. Das diesbezüglich weite Feld an Konfusionen ist leider typisch für den Diskurs über Schule und Bildung in der Gegenwart: novo-argumente.com, 24. September 2021.

[«7] Unter den Bedingungen des Computer-Lernens, d.h. in die schulische Sphäre transferiert, ist alles Individuelle im maschinell durchgeführten Lernprozess nur eine potenziell als Störung in Erscheinung tretende Randbedingung. Das maschinelle Lernen macht alle und alles gleich. Es würdigt keinen Schüler seiner individuellen Eigenarten gemäß, weil dessen System ihn als Person natürlich überhaupt nicht wahrnehmen kann. Jeder Mensch kommt in informationsverarbeitenden Systemen ja nicht als Mensch, sondern nur als Datensatz für die Maschine vor. Der Datensatz wird erst einmal nur aus Identifizierungsgründen mit dem Namen der Person versehen, bevor er damit gefüttert wird (Input) und er ihn nach den Rechenoperationen als verändertes Update des Datensatzes wieder ausspuckt (Output).

[«8] In diesem Sinne sollte Pädagogik als ein Gegenmittel zur gesellschaftlichen Tendenz der Atomisierung der Subjekte, die ja mit Hilfe der Digitalisierung stark vorangetrieben wird, anknüpfend an die Erkenntnis des frühen Karl Marx neu begriffen werden, wonach „erst in der Gemeinschaft mit Anderen jedes Individuum die Mittel (hat), seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also persönliche Freiheit möglich. Jeder bedarf des Anderen, um er selbst zu sein, (…) weil der Mensch das erste Bedürfnis für den Menschen ist.“ (Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844, zitiert nach de.wikipedia.org/wiki/Marxistische_Philosophie, letzter Aufruf 29. Februar 2024.) Die moderne Evolutionsbiologie und Verhaltensforschung hat die Richtigkeit dieser anthropologischen Grundeinsichten Marx’ überzeugend verargumentieren können.


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