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Titel: Ulrike Guérot: „Wir sind mitten in einem öffentlichen Tauziehen über die Verlängerung dieses Krieges“ (1/2)

Datum: 26. März 2024 um 9:23 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Europapolitik, Friedenspolitik, Interviews, Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache
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„Denn dieser Krieg ist nicht in europäischem Interesse, und schon gar nicht, wenn er möglicherweise zu einem dritten Weltkrieg entgleist“ – das sagt Ulrike Guérot in einem zweiteiligen Interview mit den NachDenkSeiten. Guérot betont die Notwendigkeit einer gesamteuropäischen Friedensordnung – unter dem Einschluss von Russland. „Die Ukraine könnte Mittelpunkt einer solchen Ordnung, nicht militarisiertes Grenzland werden“, sagt die Politikwissenschaftlerin. Gleichzeitig verweist Guérot auf die Präsenz „einer hemmungslosen Kriegspropaganda-Maschinerie“ und von „feuchten Träumen von geostrategischen amerikanischen Falken in den USA“. „Dieser Krieg ist nicht vom Himmel gefallen.“ Es gälte, die Sicherheitsinteressen Russlands ernst zu nehmen. „Deswegen ist die Idee einer kontinentalen, föderalen europäischen Friedensordnung mit Russland so wichtig.“ Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Frau Guérot, immer offener wird in den Medien von einem Krieg mit Russland gesprochen. Was passiert hier gerade?

Man kann durchaus von einer Eskalation sprechen, einem Herbeireden des Krieges. Das lässt sich semantisch festmachen, wenn davon gesprochen wird, dass „der Krieg nach Russland getragen werden muss“, dass „Deutschland kriegstüchtig werden muss“ oder Macron von der Notwendigkeit von Bodentruppen spricht.

Letzten Endes steht dann eine direkte militärische Beteiligung von NATO-Staaten am Krieg im Raum.

Und das wird inzwischen offen artikuliert, wie auch in dem abgehörten Gespräch der deutschen Generäle über den Einsatz der Taurus-Raketen. Es gibt auch einschlägige Berichte darüber, dass westliche Truppen längst schon in der Ukraine unterwegs sind, ganz so, als ob die direkte NATO-Russland-Konfrontation von einigen provoziert bzw. gesucht wird, koste es, was es wolle, und offenbar ohne realistische Einschätzung der militärischen Lage.

Es gibt aber durchaus auch Stimmen von hochrangigen Persönlichkeiten, die nicht die Kriegstrommeln schlagen und warnen.

Einerseits ist da der Papst, der kürzlich den Begriff „weiße Flagge“ gebraucht und damit auch signalisiert hat, dass der Krieg eigentlich für die Ukraine schon verloren scheint oder Ralf Mützenich mit seiner umstrittenen Äußerung von „Einfrieren“ des Krieges, damit das Sterben endlich aufhört, der eine ehrliche Debatte über Auswege aus dem Krieg angemahnt hat.

Dreht sich die Debatte gerade?

Das ist zu beobachten – wohl auch weil rund zwei Drittel der Deutschen diesen Krieg nicht wollen und die Taurus-Lieferungen ablehnen. Das ist eine gute Nachricht. Trotz fast permanenter Kriegstreiberei in Nachrichten und Talkshows scheint die deutsche Bevölkerung bedächtiger als die Medien. Inzwischen wird sogar von Korrespondenten im ÖRR oder in den Leitmedien nicht mehr verheimlicht, dass die Ukraine nicht nur kriegsmüde ist, sondern die Front offenbar kurz vor dem Zusammenbruch steht – oder, wie jüngst in der Frankfurter Rundschau, dass es vielleicht weniger um die Verteidigung hehrer westlicher Werte, sondern z.B. um das Verscherbeln der Agrarflächen der Ukraine an westliche Großinvestoren geht. Die Mitverantwortung des Westens durch die NATO-Osterweiterung wird auch inzwischen breit diskutiert.

Auch durch diese kritischen Beiträge muss die Frage aufgeworfen werden: Warum wurde und wird nicht zielgerichtet an einer diplomatischen Lösung gearbeitet?

Das Problem ist, dass eine diplomatische Lösung bei einigen wie eine Niederlage empfunden würde und die Ukraine, aber auch der Westen eine gesichtswahrende Lösung bzw. Erzählung dafür bräuchte, die nicht da ist.

Jedenfalls gilt: Das Narrativ des „imperialistischen Putins“, der allein für alles verantwortlich ist, bröckelt und man sieht an diesen beiden Tendenzen, dem Pushen für eine direkte Beteiligung einerseits, und den vermehrt kritischen Stimmen, dass wir inmitten eines öffentlichen Tauziehens über die Verlängerung dieses Krieges bzw. dessen Sinnlosigkeit sind. Die Chancen, dass sich diejenigen durchsetzen, die jetzt vehement für „Einfrieren“ bzw. Verhandlungen plädieren, stehen m.E. nicht so schlecht.

Sie haben 2022 in Ihrem zusammen mit Hauke Ritz veröffentlichten Buch „Endspiel Europa“ vor den Gefahren des Krieges in der Ukraine gewarnt und immer wieder darauf verwiesen, wie wichtig das „Friedensprojekt Europa“ ist. Was ist von diesem Projekt auf der politischen Ebene noch übrig?

Genau das meine ich mit einer zugleich gesichtswahrenden, aber auch interessengeleiteten Erzählung für Europa, die aus dem Krieg herausführen könnte! Denn dieser Krieg ist nicht in europäischem Interesse, und schon gar nicht, wenn er möglicherweise zu einem dritten Weltkrieg entgleist. Hauke Ritz und ich haben in unserem Buch darauf verwiesen, dass Europa als Friedensprojekt die politische Essenz dieses Kontinents ist, zusammen mit der Tatsache, dass es das Ziel in Europa war, durch eine alle Staaten überragende, föderale Ordnung die nationalen oder auch regionalen Grenzen unsichtbar und durchlässig, wenn nicht gar überflüssig zu machen.

Eine europäische Sicherheitsarchitektur mit Russland, die geteilten Frieden und nicht Frieden voreinander anstrebt, war das Ziel nach dem Mauerfall. Europa sollte sich, bevor dieser Kontinent zu seinem eigenen Nachteil weiter zerrissen und gespalten wird, darauf zurückbesinnen. Meines Erachtens hat Europa nicht nur allergrößtes Interesse, sondern eine historische Verpflichtung, auf Friedensverhandlungen zu drängen, die eine gemeinsame, föderale europäische Sicherheitsarchitektur wieder in den Mittelpunkt des Nachdenkens stellen, in der alle Regionen Europas jenseits von nationalen Zuordnungen ihren Frieden und ihre Sicherheit finden.

Das sollte doch eine Lehre aus dem Schrecken des 2. Weltkrieges sein, oder?

Eigentlich sollte das die Lehre des 2. Weltkrieges sein, als man um die nationale Zuordnung von Regionen wie dem Elsass oder Schlesien gekämpft hat. Die Lösung lag letztlich in einem föderalen Europa, in dem die Grenzen fluide sind. Ich glaube, das gilt analog für die vielen Gebiete in Osteuropa, oft „frozen conflicts“ genannt, die Autonomiebestrebungen haben und deren eindeutige „nationale Zuordnung“ einfach schwierig ist, ganz egal, ob es sich dabei um Süd-Ossetien, Transnistrien oder die Krim handelt. Hier klare nationale Grenzen ziehen zu wollen, die auch noch militärisch verteidigt werden müssen, entspricht nicht dem Geist der europäischen Geschichte. Europa ist in seinem Wesenskern ein organisches Ganzes.

Auch mit harten Grenzen, wie etwa der jetzt neu gezogenen harten NATO-Grenze von Finnland bis herunter zur Türkei, kann ein fragiles, multiethnisches und regional ausdifferenziertes Gebilde wie Europa wenig anfangen. Mit Hauke Ritz teile ich die große Sorge, dass sich Europa mit einer Politik, die auf die Teilung des europäischen Kontinentes, auf harte Grenzen und scharfe nationale Konturen hinausläuft, total verrennt und sein historisches Erbe verrät.

Was kann die Zukunft Europas sein?

Die Zukunft Europas als „Zukunft seiner Geschichte“ zu denken, hieße auch, sich daran zu erinnern, dass Europa aus den letzten Jahrhunderten die Erfahrung mitbringt, wie ein Gleichgewicht der Mächte aussieht und wie es austariert werden muss. Das ist ein wichtiges Gut und ein unschätzbarer Erinnerungsort, wenn es jetzt darum geht, eine multipolare Welt vorzubereiten und Europa in dieser Welt als politische Einheit einen Platz zu verschaffen. Europa könnte in dieser multipolaren Welt, möglichst als neutrale Einheit, genau diese Funktion übernehmen, nämlich als zentraler Akteur an einem globalen Gleichgewicht der Mächte arbeiten.

Darin die Aufgabe und Zukunft Europas im 21. Jahrhundert zu sehen, würde das Prisma, unter dem man aktuell auf diesen Krieg schaut, fundamental verändern. Es würde aus dem Ost-West-Gegensatz herausführen und damit m.E. einen hoffnungsfrohen Weg aus dem Krieg heraus ebnen, der das europäische Erbe in eine plausible europäische Zukunft verwandelt. Die Ukraine könnte Mittelpunkt einer solchen Ordnung, nicht militarisiertes Grenzland werden.

Gerade sagte der Präsident des EU-Rats in einem Gastbeitrag für den Spiegel die folgenden Worte: „Wenn wir Frieden wollen, müssen wir uns auf Krieg vorbereiten.“ Und: „Russland wird nicht in der Ukraine haltmachen. Um der Bedrohung zu begegnen, benötigt Europa einen neuen Geist der Sicherheit und Verteidigung.“ Woher kommen solche Worte?

Sie kommen – ich glaube oder hoffe zumindest, das hat inzwischen jeder begriffen – aus einer hemmungslosen Kriegspropaganda-Maschinerie und feuchten Träumen von geostrategischen amerikanischen Falken in den USA wie Zbigniew Brzeziński oder, in jüngerer Zeit, George Friedman, die letztlich intellektuell im 20. Jahrhundert steckengeblieben sind. Ich empfehle das Buch von Jonas Tögel über die neuro-psychologische Kriegsführung der NATO, die Reden von Putin im Wortlaut, die Texte von John Mearsheimer, die YouTube-Clips von Jeffrey Sachs oder vor allem die Schriften von George Kennan, der seit den 1990er Jahren vor einer NATO-Osterweiterung gewarnt und den Krieg in der Ukraine vorausgesagt hat. Die wichtigsten Diplomaten und Strategen der USA wussten seit zwanzig Jahren, dass die Ukraine der tipping point ist. Dieser Krieg ist nicht vom Himmel gefallen.

Dieser Krieg ist nicht vom Himmel gefallen“, sagen Sie. Aber genau so wird immer wieder von Politikern und Journalisten getan. Der Eindruck entsteht, der Krieg sei aus einer Art Putin‘scher Selbstzeugung hervorgegangen. Wer auf die Vorgeschichte des Krieges aufmerksam macht, wird so hingestellt, als würde er den Überfall Russlands auf die Ukraine legitimieren. Sie haben das ja selbst erlebt.

Ja, wer Kontexte, Motive und Interessen des Krieges heute nüchtern und analytisch beleuchten oder gar Vergleiche zu anderen Kriegen ziehen möchte, gilt fast schon als Verräter. Dann kommt auch gerne das Wort „Whataboutism“. Das habe ich ja in einer fast legendären Lanz-Sendung vom Juni 2022 erleben müssen. Ich finde es inzwischen auffällig, wie sich der normalerweise als Hort der Vernunft rühmende, vermeintlich aufgeklärte Westen ideologisch in diesem Krieg verrennt und weder die eigene Mitverantwortung noch den eigenen kolossalen Schaden für Europa als Ganzes zu thematisieren in der Lage ist. So kann der Frieden nicht gedacht werden.

Wir sollten uns auch fragen, wohin unsere Gesellschaft eigentlich steuert, wenn wir politische Debatten zunehmend mit emotional nudging und Bildersprache unter dem Imperativ eines immer absolut gesetzten Handlungszwangs („mehr Waffen“) diskutieren.

Der SPD-Politiker Mützenich gebrauchte die Tage den Begriff „Einfrieren“ im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Sofort haben Politiker und Journalisten ein Sperrfeuer gegen ihn eröffnet.

Der Begriff „Einfrieren“ trifft es gut: cool down.

Warum?

Wir müssen buchstäblich heraus aus der Hitze des Gefechts, dem militärischen Gefecht und den abgenutzten Wortgefechten über den „Imperialisten Putin“.

Es gibt keinen Grund, Russland oder Putin, in dem, was er sagt, in seinen Reden oder in seinem inzwischen berühmten Interview mit Tucker Carlson, nicht ernst zu nehmen: Es geht, auch wenn sich der Krieg inzwischen leider ausgeweitet und verschärft hat, im Kern um die – vom Westen versprochene! – Neutralität der Ukraine und die Akzeptanz von russischen Sicherheitsinteressen. Deswegen ist die Idee einer kontinentalen, föderalen europäischen Friedensordnung mit Russland, wie skizziert, so wichtig.

Krankenhäuser sollen sich auf Krieg vorbereiten, an Schulen soll der „Ernstfall“ geprobt werden. Was passiert in Deutschland? Wie erklären Sie sich das Verhalten?

Es scheint eindeutig so, dass eine Bevölkerung bzw. ein Land – im Übrigen unter horrendem Kostenaufwand – auf einen Krieg vorbereitet werden soll, wirtschaftlich, emotional und logistisch. Und zwar so, dass die Schrecken des Krieges dabei ausgeblendet werden, zum Beispiel die inzwischen rund 500.000 toten Soldaten und Schwerverletzten auf beiden Seiten der Front, viele junge Männer, Söhne, Ehemänner, Väter. Die Verniedlichung des Krieges hat man zum Beispiel an diesem viral gegangenen Video auf dem ZDF-Kinderkanal KiKa gesehen, wo Taurus-Raketen bzw. deren französische und britische Pendants auch noch hübsch als weibliche Wesen verpackt, mit klimpernden Augenlidern, davon säuseln, dass sie jetzt gerne in die Ukraine fliegen möchten. Man kann sich nur noch wundern.

Natürlich ist es besser, auf einen Krieg vorbereitet zu sein, als nicht. Was aber verwundert, ist, dass über die offenbare Kriegsabsicht kaum eine öffentliche Debatte stattfindet und Widerrede oder Protest weitgehend ausbleiben. Die wenigen Friedensdemos waren nicht gut besucht bzw. sind keine Massenbewegung geworden wie etwa die Demos #allegegenrechts. Ganz so, als nehme eine ganze Bevölkerung die Kriegsvorbereitungen ohne Murren und fast wie eine Notwendigkeit hin, weil das jetzt so sein müsse. Es muss aber nicht so sein, denn wir könnten ja anders reden und handeln.

Eigentlich sollte doch in Deutschland und Europa ein Bewusstsein vorherrschen, dass Krieg keine Lösung ist.

Europa hat sich über 70 Jahre den Erinnerungsort „Nie wieder Krieg“ aufgebaut. Bis in die 1980er Jahre hinein war der legendäre Film „Die Brücke“, in dem gezeigt wird, wie kurz vor der Kapitulation im Mai 1945 noch ein Dutzend Halbwüchsige im Krieg verheizt werden, an deutschen Schulen Pflichtprogramm. Jede Sonntagsrede über die Notwendigkeit der europäischen Einigung begann mit einem Verweis auf die Soldatenfriedhöfe in Lothringen oder Eupen-Malmédy und ich kann wirklich nur empfehlen, dort einmal mit dem Auto entlangzufahren: über Kilometer weiße Kreuze. Fast keine Familie in Europa, die nicht eine Kriegs-, Flucht- oder Vertreibungsgeschichte hätte.

Und Ihre Familie? War die auch vom Krieg betroffen?

Mein Großvater väterlicherseits liegt in Riga auf dem Soldatenfriedhof, der so groß ist wie eine Kleinstadt, der andere kam ohne Beine aus dem Krieg zurück. Dass wir in Europa alle „zugleich Opfer und Schlächter“ waren, wie Laurent Gaudet in seinem großartigen Epos „Nous, l’Europe, un Banquet des Peuples“ schreibt, und im letzten Jahrhundert genau daraus das politische Fundament für eine gesamteuropäische Friedensordnung gezimmert haben, scheint niemanden mehr zu interessieren. Ganz so, als hätten wir die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa nur geträumt.

Dass uns als europäische Gesellschaften, im Osten wie im Westen, so schnell die Erinnerungen daran abhandenkommen, an die politischen Versprechungen, all die Nachkriegsliteratur, die Filme, die Jugendwerke zur Völkerverständigung, kurz: an unsere eigene, 70-jährige Geschichte und Erzählung, die bis vorgestern die politische DNA in Europa war, verwundert mich sehr.

In Ihrem Buch sprachen Sie auch von einem „Stellvertreterkrieg“ in der Ukraine. Sehen Sie sich im Hinblick auf die Entwicklungen in den letzten beiden Jahren in den Thesen Ihres Buches bestärkt?

Im Hinblick auf die letzten beiden Jahre? Die Helmut-Schmidt-Biografie von Thomas Karlauf, „Helmut Schmidt. Die späten Jahre.“, birgt mit Blick auf die Gefahren der ‚NATO-Expansion‘ wahre Schätze.

Helmut Schmidt und Helmut Kohl haben sich 2014 Seite an Seite für die Beilegung des NATO-Russland-Konflikts ausgesprochen. Das ist 10 Jahre her (sic!). Die Warnungen von George Kennan, den ich bereits erwähnte, stammen aus den 1990er Jahren. Eher werden Historiker in einigen Jahren wahrscheinlich bestätigen, dass dies der am längsten präzise vorbereitete, in seinen einzelnen Schritten und geostrategischen Dimensionen sorgfältig geplante und „gescripteste“ Krieg – siehe die Bücher von Brzeziński – ist, den die Welt je gesehen hat.

Wie meinen Sie das?

In unserem Endspiel-Buch zeichnen Hauke Ritz und ich en détail nach, wie mit Hilfe von PR-Agenturen seit ca. 2007 Russland – ähnlich wie damals Serbien im Jugoslawienkrieg – in europäischen Medien schlechtgeschrieben wurde oder wie nach dem Maidan von 2014 mithilfe von US-finanzierten NGOs die Erzählung der national geeinten Ukraine mit Millionen Dollar promoviert wurde. Ohne diesen Erzählungsaufbau und das jahrelange Schlechtschreiben Russlands könnten die europäischen Öffentlichkeiten jetzt nicht so in den Krieg gelenkt werden.

Ich habe Anfang der Nuller Jahre beim German Marshall Fund gearbeitet, dort wurden immer die Transatlantic Trends herausgegeben. 2004 war Russland etwa gleichauf mit den USA als „sympathischstes Partnerland“ in den Augen der Deutschen. Auch die Rede Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007 zeugt eher davon, dass die russische Hand ausgestreckt war und vom Westen ausgeschlagen wurde. Die Historiker werden nachzeichnen müssen, ob das eher unter amerikanischem Druck oder auf europäischen Wunsch hin geschah. Kurz: Europa hätte damals auch anders abbiegen können, nämlich in Richtung europäische Friedensordnung.

Was ist Ihre Einschätzung? Was ist richtig? Ein Europa, das sich aus freien Stücken gegen Russland stellt? Oder: Ein Europa, das sich von Geostrategen aus den USA beeinflussen lässt?

Vieles spricht für Letzteres weswegen die Frage der europäischen Emanzipation, Souveränität und Unabhängigkeit Europas für mich die zentrale Frage in diesem Kriegsgeschehen ist. Für Europa ist heute das Problem, dass das Skript, wie oben beschrieben, im letzten Kapitel nicht aufgeht. Das Happy End, der „Sieg“ des Westens, bleibt aus und das Schlusskapitel des Skripts muss dringend im europäischen Sinn umgeschrieben werden. Für Europa geht es buchstäblich um sein Überleben als politische Einheit. Aber nicht in dem Sinne, dass Europa jetzt „im Krieg gegen den gemeinsamen Feind“ geeint wird – was für eine armselige Erzählung!

In welchem Sinne meinen Sie genau?

Dass Europa die weitere Kriegstreiberei sofort verlässt, auf Verhandlungen dringt, zum Beispiel Olaf Scholz, Macron und Tusk gemeinsam, und man ggf. die Schweiz um Mediation bittet.

Wie sieht es diesbezüglich mit Russland aus? Wäre Russland dazu überhaupt bereit?

Vor ein paar Tagen habe ich den russischen Botschafter in Zürich bei einem Vortrag entsprechende Signale senden gehört.

Auch andere Länder könnten doch in die Vermittlerrolle treten, oder?

Natürlich. Einige der BRICS-Staaten könnten in die Mediation zugelassen werden, denn auch China, Südafrika oder Indien schauen aufmerksam auf diesen Krieg, der nicht einzeln betrachtet werden kann, sondern der in Zusammenhang mit den anderen heißen oder latenten Kriegen steht, die derzeit stattfinden: in Israel/Gaza, dem Iran (Huthi) und China/Taiwan. Derzeit wird eine neue geostrategische und geoökonomische Weltordnung verhandelt. Dann könnte der Frieden in der Ukraine unter dem Schirm einer auszuhandelnden europäischen Sicherheitsarchitektur, angepasst an die neue globale Situation im 21. Jahrhundert, zur Geburtsstunde eines postatlantischen Europas und gleichzeitig der Einstieg in eine multipolare Welt auf der Basis von gegenseitigem Respekt werden, anstatt den hierzulande im Diskurs gerne gepflegten Nimbus eines stets „guten Westens“, der sich tapfer gegen alle Diktatoren und Unrechtsstaaten der Welt wehrt, weiterzutreiben. Der indisch-pakistanische Autor Pankaij Mishra hat schon vor Jahren geschrieben, „The West is finished“, und das Problem ist, dass die ganze Welt das inzwischen erkennt, nur wir in Europa nicht. Das spricht nicht für eine europäische Selbstreflexivität.

Nur „wir“ in Europa nicht? Mit „wir“ ist wer gemeint?

Nun, etwas plakativ: die Staaten der Europäischen Union.

Jedenfalls: Es wäre m.E. wichtig, dass Europa diesen Moment nicht verpasst, denn diese geostrategische Zäsur findet ohnehin statt, die Frage ist nur, ob mit oder ohne ein politisch geeintes Europa, das allen Staaten der Welt gleichermaßen die Hand zu einer Kooperation auf Augenhöhe anbietet. Ich wäre für mit.

Wie ordnen Sie das abgehörte und veröffentlichte Gespräch hochrangiger Bundeswehroffiziere ein?

Auffällig war, dass die gesamte Diskussion – und auch die öffentliche Empörung – sich darum drehte, wie die Russen die Zugangsdaten zu diesem Online-Gespräch finden konnten, wo das Sicherheitsleak war und ob die Bundeswehroffiziere jetzt dafür bestraft werden müssen. Das entspricht einem geschickten zeitgenössischen Framing, das ich in meinem neuen Buch „Der Ausverkauf der Republik“ einen „Ablenkungsdiskurs“ nenne: vom eigentlichen Sachverhalt wird abgelenkt, man bleibt gleichsam auf der Oberfläche.

Und der eigentliche Skandal wurde so verdeckt?

Der eigentliche Skandal war und bleibt, dass deutsche Offiziere gegen das Friedensgebot des Grundgesetzes, gegen das Verbot von Kriegstreiberei, das Verbot von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, also unter multiplen Rechtsverstößen, tatsächlich einen Angriff auf Russland planten – genauer: auf russische Infrastruktur – und unverhohlen darüber redeten, wie das so gedreht werden könne, dass die deutsche Beteiligung nicht auffiele, weil dies eben einem deutschen Kriegsbeitritt gleichkäme.

Jenseits von Rechtsbrüchen und einer offensichtlichen Missachtung der Autorität des Bundeskanzlers, der sich mehrfach gegen Taurus-Lieferungen ausgesprochen hat – wo doch Autorität gerade in militärischen Strukturen immer so hochgehalten wird – gibt es da noch die Geschichtsvergessenheit der 27 Millionen toten Sowjetbürger durch die deutsche Wehrmacht im 2. Weltkrieg und obendrauf einen offenbar grenzenlosen militärischen Hochmut der Offiziere: als ob man, selbst mit ein paar Taurus-Raketen, Russland letztlich militärisch besiegen könne. Schon Napoleon ist daran gescheitert.

Sie wurden für Ihren friedenspolitischen Standpunkt, aber auch für Ihre Positionierung während der Corona-Krise immer wieder angegriffen. Dann wurden plötzlich Plagiatsvorwürfe erhoben. Sie klagen nun gegen die Universität Bonn. Wie ist der rechtliche Stand der Dinge?

Am 24. April 2024 um 10.30h findet jetzt nach mehrfacher Terminverschiebung die öffentliche Verhandlung vor dem Arbeitsgericht in Bonn statt. Mehr möchte ich dazu an dieser Stelle aufgrund des laufenden Verfahrens nicht sagen, es ist genug darüber geredet worden. Interessierte verweise ich auf das kürzlich bei Westend erschienene Buch „Der Fall Guérot. Versuche einer öffentlichen Hinrichtung“, herausgegeben von Gabriele Gysi.

Die Klage kostet aber Geld. Sie haben gerade öffentlich gemacht, dass Sie mit hohen Kosten rechnen, und um Unterstützung gebeten.

In der Tat ist der Prozess leider zu einer Art juristische Hydra geworden, die arbeitsrechtliche, verwaltungsrechtliche und medienrechtliche Aspekte hat, der in vielerlei Hinsicht sehr zehrend ist und eben auch hohe Anwaltsrechnungen hervorbringt, die zu schultern schwierig ist, wenn man seit nunmehr 14 Monaten de facto arbeitslos ist und kein geregeltes Einkommen mehr hat. Laut Anfrage im Landtag NRW belaufen sich die Anwaltskosten der Universität Bonn bisher auf rund 58.000 Euro, das ist auch die Größenordnung bei mir.

Ich bin Patrik Baab außerordentlich dankbar, an meiner Statt ein Crowdfunding aufgesetzt und zu Solidarität aufgerufen zu haben: Ich habe mich nicht leicht damit getan. Es sind binnen einer Woche auf der Plattform rund 36.000 Euro eingegangen. Für die Aktion hatte ich ein Sonderkonto eingerichtet, auf dem noch einmal knapp 10.000 Euro direkt eingegangen sind. Meine Anwaltskosten sind damit bereits im Wesentlichen gedeckt, vorbehaltlich dessen, was im April passiert, weswegen die Plattform, auch aus technischen Gründen, zunächst offen bleibt bis Ende April.

Ich wünsche mir von Herzen, dass dieses Kapitel meines Lebens bald vorbei ist, denn es ist sehr anstrengend gewesen. Ich bin so dankbar und demütig für diesen Zuspruch und Erfolg des Crowdfunding, dass ich es fast gar nicht in Worte fassen kann! Allen Spendern und Spenderinnen den allergrößten Dank! Es waren sehr viele Kleinspenden von 5 oder 10 Euro darunter. Den allermeisten werde ich allein aufgrund fehlender Kontaktdaten nicht persönlich danken können und ich hoffe, dass sie dieses Interview lesen!

Ich möchte betonen, dass die Kosten in einem arbeitsrechtlichen Verfahren auch dann zu tragen sind, wenn man das Verfahren gewinnt. Über die Verwendung der Unterstützung werde ich selbstverständlich zu gegebener Zeit Rechenschaft ablegen.

Der Erfolg des Crowdfunding scheint indes zu bestätigen, was auch die NachDenkSeiten und viele andere unabhängige, kritische und von Spenden abhängige Medienformate seit Jahren erfahren: Es gibt offenbar nicht nur eine substanzielle, resiliente Zivilgesellschaft oder aufmerksame Bürgerschaft in Deutschland, die sich nach kritischem Denken, nach mutigem Einspruch oder nach politischen Entwürfen und gesellschaftlichen Alternativen, wie etwa auch BSW es sein will, sehnt. Sondern die auch einzelne Personen bzw. Akteure des kritischen Milieus und was mit ihnen passiert – wie in diesem Fall mit mir – aufmerksam verfolgt und diese Stimmen unterstützt.

Bitte machen Sie weiter, Sie sind nicht allein, Ihre Stimme ist so wichtig“, ist eine der häufigsten Nachrichten oder Kommentare unter öffentlichen Einlassungen von mir, die ich in den letzten Monaten erhalten habe. Damit bin ich nicht alleine, geschweige denn die Einzige. Das macht Hoffnung inmitten von fragwürdigen Demokratiefördergesetzen und der eindeutigen Verengung von Meinungskorridoren!

Geht es für Sie um Ihre berufliche Existenz?

Nein. Auch wenn ich nicht an der Universität Bonn bleiben kann oder, zumindest in Deutschland, aufgrund des Labels „umstritten“ keine adäquate Stelle im akademischen Raum mehr bekommen sollte. Es werden andere Türen aufgehen und außerdem gibt es andere Länder als Deutschland, das sich langsam Gedanken über den hier einsetzenden Braindrain machen sollte. Meine finanziellen Einbußen sind natürlich, wie bei jedem Jobverlust, hoch, aber – und darauf lege ich großen Wert! – ich trage nicht nur für mein Verhalten, also meine öffentlichen Äußerungen und Publikationen, selbstverständlich die Konsequenzen. Sondern ich bin wahrlich nicht die Einzige, der so etwas während der Corona-Jahre oder während des Ukrainekrieges passiert ist, sondern bestenfalls ein bekanntes Beispiel.

Das ist eine wichtige Aussage. Eine ganze Reihe von bekannten Persönlichkeiten wurden für kritische Aussagen niedergemacht – aber auch „normale“ Menschen, die es gewagt haben, den Mund aufzumachen.

In dem Buch von Gabriele Gysi wird in einem ersten Kapitel empirisch untersucht, wie viele Entfernungen von Professoren von deutschen Universitäten es aus fadenscheinigen Gründen gegeben hat: ein alarmierender Tatbestand für eine freie Gesellschaft!

Aber wie Sie sagen: Während Corona sind auch andere berufliche Existenzen vernichtet worden: die von Ärzten, die nicht impfen wollten und denen man die Approbation entzogen hat, die von Künstlern, die nicht auftreten durften, ebenso wie diejenige von nicht-geimpften Krankenschwestern, von kleinen Ladenbesitzern oder Kleinunternehmern, die nie die angekündigten Corona-Hilfen bekommen haben. Das alles gehört, zusätzlich zu den viel diskutierten Impfschäden, den unter fragwürdigen Bedingungen geschlossenen Verträgen über die Impfstoffe – gegen Frau von der Leyen wird ja inzwischen geklagt – und den bisher tabuisierten gesellschaftlichen Folgen der Impfung, z.B. dem drastischen Geburtenrückgang, endlich politisch aufgearbeitet und breit diskutiert. Die Stadt New York hat zum Beispiel allen während der Corona-Maßnahmen entlassenen, nicht-geimpften Mitarbeitern rückwirkend die Gehälter nachzahlen müssen. Ähnliche Entscheidungen hätten auch hierzulange eine wichtige politische Signalwirkung und wären sicher ein wichtiger Beitrag zur Befriedung einer leider inzwischen stark polarisierten Gesellschaft.

Titelbild: Screenshot ZDF

Teil 2 des Interviews finden Sie hier.


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