NachDenkSeiten – Die kritische Website

Titel: Die Krise in der Eurozone

Datum: 14. November 2011 um 19:31 Uhr
Rubrik: Banken, Börse, Spekulation, Euro und Eurokrise, Finanzkrise, Schulden - Sparen
Verantwortlich:

Nach Auffassung des US-Ökonomen James K. Galbraith ist der europäische Kontinent dabei, die Schwachen zum Schutz der Starken zu zerstören. “Der Diskurs wird vor frischen Ideen verschlossen und das politische Überleben hängt davon ab, Problemlösungen nach hinten zu verlagern.“

Am 3. und 4. November hielt Professor James K. Galbraith an der Universität von Texas in Austin eine Konferenz zur Eurokrise. Darauf haben wir am 3. November in den Hinweisen des Tages hingewiesen. Am 5.November haben wir mit Prof. Galbraith ein Interview geführt und in den NachDenkSeiten auf Englisch und auf Deutsch veröffentlicht. Prof. Galbraith hat am 10.11. dazu einen Artikel geschrieben, den Lars Schall freundlicherweise übersetzt und uns zur Verfügung gestellt hat. Von James K. Galbraith übersetzt von Lars Schall

Die Eurokrise ist eine Bankenkrise, die sich als eine Reihe von nationalen Schuldenkrisen darstellt und durch reaktionäre ökonomische Ideen, eine defekte Finanzarchitektur und ein giftiges politisches Umfeld, insbesondere in Deutschland, in Frankreich, in Italien und in Griechenland, verkompliziert wird.

Wie unsere eigene, ist die europäische Bankenkrise das Produkt der übermäßigen Kreditvergabe an schwache Schuldner, darunter für den Wohnungsbau in Spanien, gewerbliche Immobilien in Irland und den öffentlichen Sektor (teilweise für die Infrastruktur) in Griechenland. Die europäischen Banken kauften mit hoher Fremdfinanzierung toxische amerikanische Hypotheken auf, und als diese zusammenbrachen, begannen sie ihre schwachen Staatsanleihen zu verkaufen, um starke zu kaufen, trieben Renditen hoch und zwangen schließlich die gesamte europäische Peripherie in die Krise. Griechenland war nur der erste Dominostein in der Reihe.

In all diesen Krisen besteht die erste Verteidigungshaltung der Banken darin, auf überrascht zu plädieren – “niemand hätte wissen können!” – und ihren Kunden die Schuld für Rücksichtslosigkeit und Betrug zu geben. Das ist wahr, verschleiert aber die Tatsache, dass die Banker die Kreditvergabe forcierten, während die Gebühren üppig waren. Die Verteidigung funktioniert in Europa besser als in den USA, weil die nationalen Grenzen Gläubiger von Schuldnern trennen, die politischen Führungen in Deutschland und Frankreich an ihre Banker binden, und die Narration eines nationalen Rassismus begünstigen (“faule Griechen”, “nichtsnutzige Italiener”), dessen Entsprechung im Amerika der Post-Bürgerrechtszeit weitgehend unterdrückt wurde.

Die Banker-Macht im Gläubiger-Europa wird von einer calvinistischen Sensibilität untermauert, die Überschüsse in ein Zeichen der Tugend und Defizite in ein Mal des Lasters verwandelt hat, während sie Deregulierung, Privatisierung und marktgerechte Anpassung zu Fetischen erhob. Die Nordeuropäer haben vergessen, dass die wirtschaftliche Integration immerzu die Industrie (und selbst die Landwirtschaft) in den reicheren Regionen konzentriert.

Indem sich dieser Prozess entfaltet, ernten die Deutschen die Mieten und belehren ihre neu verschuldeten Kunden, die Löhne zu senken, Vermögenswerte zu verkaufen und ihre Renten, Schulen, Universitäten und Gesundheitswesen aufzugeben – von denen viele von Beginn an zweitklassig waren. Vor kurzem sind aus den Belehrungen Befehle geworden, geliefert durch den IWF und die EZB, dadurch den neuen Schulden-Tagelöhnern Europas demonstrierend, dass sie nicht mehr in demokratischen Staaten leben.

Der US-Vorteil

Die Architektur der Eurozone macht in zweierlei Hinsicht alles noch schlimmer. Während die EU seit langem einen gewissen Ausgleich an ihre ärmeren Regionen zahlte, waren diese Strukturmittel nie ausreichend und werden jetzt von nicht zu erfüllenden Eigenbeitragsanforderungen blockiert. Und der Zone fehlen die interregionalen Umverteilungskanäle an Haushalte, die die USA unter anderem durch Social Security, Medicare, Medicaid, Bundesregierungsgehälter und militärische Auftragsvergaben entwickelt hat. Auch setzen sich deutsche Rentner nicht in Griechenland oder Portugal in großer Anzahl zur Ruhe, so wie es die New Yorker in Florida oder die Menschen aus Michigan in Texas tun.

Zweitens lehnt die EZB es ab, die Krise mit einem Schlag zu lösen, was sie durch den Aufkauf und die Refinanzierung der Anleihen der schwachen Länder tun könnte. Das Argument dagegen wird “subjektives Risiko“ (“moral hazard”) genannt, gestützt von altmodischen Inflationsängste, aber das wirkliche Problem besteht darin, dass dies zu tun bedeuten würde, den Verlust der Kontrolle durch die Gläubiger über die Zentralbank zuzulassen. Aktionen parallel zu denen, die von der Federal Reserve unternommen wurden – die Verstaatlichung des gesamten Markts für kurzfristige Anleihen (Commercial Paper) beispielsweise -, würde die EZB zurückweisen, auch wenn sie Staatsanleihen aufkauft, wenn sie muss. Stattdessen schafft die Zone also eine gigantische toxische CDO (Collateralized Debt Obligation = besicherte Schuldverschreibung) namens Europäische Finanz-Stabilisierungs-Fazilität, die sich in Kürze möglicherweise in eine noch gigantischere toxische CDS (Credit Default Swap = Kreditausfallversicherung) verwandeln wird (wie bei AIG werden sie es “Versicherung” nennen). Dies vermag Panik höchstens für eine kurze Weile zu verschieben.

Technische Lösungen existieren. Die am meisten entwickelte ist der “Bescheidene Vorschlag“ (“Modest Proposal”) von Yanis Varoufakis und Stuart Holland, der von den älteren politischen Führern in Europa weitgehend unterstützt wird. Er würde 1.) die ersten 60 Prozent des BIP eines jeden verschuldeten Landes der Eurozone in eine gemeinsame europäische Anleihe konvertieren, die von der EZB herausgegebenen wird, 2.) das Bankensystem rekapitalisieren und europäisieren, womit die Vorrangstellung der nationalen Banken für nationale Politiker aufgebrochen werden würde, und 3.) ein New Deal-ähnliches Programm von Investitionsprojekten durch die Europäische Investitionsbank finanzieren.
Zahlreiche Vorschläge beinhalten die Forderung von Kunibert Raffer nach einer souveränen Insolvenzregelung, die nach dem Konkursgesetz der US-Kommunen modelliert ist, Thomas Palleys Vorschlag für einen neuen “Regierungsbankier” und Jan Toporowskis Vorschlag für eine Steuer auf die Bankenbilanzen, um überschüssige Staatsverschuldungen aufzugeben.

Dies sind die besten Ideen und keine von ihnen wird umgesetzt werden. Europas politische Klassen befinden sich dieser Tage in einem Schraubstock, der von verzweifelten Bankern und wütenden Wähler geschmiedet ist, in Deutschland und Frankreich nicht weniger als in Griechenland oder Italien. Der Diskurs wird vor frischen Ideen verschlossen und das politische Überleben hängt davon ab, Problemlösungen nach hinten zu verlagern, so dass die Tatsache, dass dies eine Bankenkrise ist, nicht angegangen werden muss. Das Schicksal der Schwachen ist bestenfalls zweitrangig. So kann jedes Treffen der Finanzminister und Premierminister tückische Halbheiten und juristische Ausflüchte erzielen.

Das jüngste Beispiel war die Brezel-Logik, die einen 50-prozentigen Abschlag auf die griechischen Schulden als “freiwillig” erklärte, so dass keine Zahlungsunfähigkeitsklauseln auf die CDS ausgelöst wurden, der insbesondere einige amerikanische Banken ausgesetzt hätten sein können. Als Timothy Geithner die Europäer vor einer potentiellen “Katastrophe” im letzten Monat warnte, könnte man vernünftigerweise folgern, habe er dieses Risiko – und nicht etwa den geringen Einfluss auf unsere bereits katastrophale Arbeitsmarktsituation – im Hinterkopf gehabt. Aber natürlich, wenn der Abschlag als freiwillig deklariert werden kann, dann ist die CDS nicht den Speicherplatz wert, den sie in den Banker-Computern belegt, und ein weiterer Vorschlag für den schnell scheiternden Markt für Staatsschulden fällt zu Boden.

Politische Instabilität erklärt auch die Wut in Frankreich und Deutschland, als Giorgos Papandreou [übrigens der ruhigste Mensch in Europa, der in Minnesota geboren wurde und aufwuchs] versuchte, den Knoten seiner rebellischen Minister, der unverantwortlichen Opposition und wütenden Öffentlichkeit zu lösen, indem er das jüngste Sparpaket zur Abstimmung stellte. Gott helfe den Bankern! Der Schachzug erwies sich binnen kurzer Zeit als fatal für Papandreou, und Griechenland wird nun an eine Junta aus Gläubiger-Abgeordneten übergeben werden, wenn sich solche finden lassen, die bereit sind, den Job anzunehmen. Es wird niemand sein, der hinterher in Griechenland weiterleben möchte.
Griechenland und Irland werden zerstört. Portugal und Spanien sind in der Schwebe, und die Krise verschiebt sich nach Italien – wirklich too big to fail -, das einer vom IWF diktierten Zwangsverwaltung unterstellt wird, während ich dieses schreibe. In der Zwischenzeit versucht Frankreich die (unvermeidliche) Herabstufung seines Triple A-Ratings zu verzögern, indem es jedes Sozial- und Investitionsprogramm kürzt.

Gäbe es einen leichten Ausstieg aus dem Euro, würde Griechenland bereits verschwunden sein. Aber Griechenland ist nicht Argentinien mit Sojabohnen und Öl für den chinesischen Markt, und legal den Euro zu verlassen bedeutet, aus der Europäischen Union auszusteigen. Es ist eine Wahl, die nur Deutschland treffen kann. Für die anderen besteht die Wahl zwischen Krebs und Herzinfarkt, abgesehen von einer Umwandlung in ein Nordeuropa, das nicht einmal durch sozialistische Siege in den nächsten deutschen und französischen Wahlgängen zustande käme.

Somit brodelt der Kessel. Das Schulden-Europa geht in Richtung sozialer Zusammenbruch, finanzielle Panik und schließlich Emigration, wieder einmal, als der Weg heraus, für einige zumindest. Jedoch – und hier ist ein weiterer Unterschied zu den Vereinigten Staaten -, die Menschen dort haben nicht ganz vergessen, sich zu wehren. Märsche, Demonstrationen, Streiks und Generalstreiks sind auf dem Vormarsch. Wir sind an dem Punkt, wo die politischen Strukturen keine Hoffnung bieten und der Gummiknüppel recht bald bereit ist, in die Hand des Widerstands zu wechseln. Er ist vielleicht nicht in der Lage, viel zu erreichen – aber wir werden sehen.


Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/

Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=11287