NachDenkSeiten – Die kritische Website

Titel: „Gangster“ für einen demokratischen Humanismus – das Buch „Machtwahn“ und der Film „Inside Man“ als Deutungsbeistand im neoliberalen Alltagsleben

Datum: 1. Juni 2006 um 14:39 Uhr
Rubrik: Rezensionen
Verantwortlich:

Ein Text, der Lesestoff sein soll, der Menschen in Kontakt mit ihrer noch vorhandenen Lebendigkeit bringen will, so beschreibt Brigitta Huhnke ihre als Feature über den realen Neoliberalismus des Alltags verschränkten Rezensionen über Albrecht Müllers Buch „Machtwahn“ und Spike Lees „Gangster“- Film „Inside Man“. Die Autorin verknüpft die beiden so unterschiedlichen Werke über ihre gedanklichen Ausflüge in die kleinen Dinge des Alltags von Brooklyn bis zum Hamburger Dammtor und entwickelt daraus den Mut zum Aufbegehren gegen die neoliberalen Verhältnisse, gegen ihre Leitfiguren und ihre Leitkultur.

„Gangster“ für einen demokratischen Humanismus

Von Brigitta Huhnke

Koinzidenzen, die sich in Gedanken umgarnen, gehen manchmal ungewöhnliche Gespinste ein. Meistens reicht das nur für kurze Tagträume, bisweilen liegt in den geheimen Verbindungen aber doch tieferer Sinn. Neulich, an einem frühen Nachmittag, passierte so etwas mit dem Buch „Machtwahn“ von dem Nationalökonomen Albrecht Müller und dem Film „Inside Man“ von Spike Lee. An einem ganz normalen Tag, mitten im neoliberalen Alltagsleben spendeten beide Deutungsbeistand, sogar ein bisschen Freude. Der eine analysiert für die Bundesrepublik, „Wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet“ und hält in unserem Land nicht nur makroökonomische Vernunft hoch sondern auch die soziale Verpflichtung des Staates, genau so, wie das deutsche Grundgesetz diese vorschreibt. Der andere mischt nach einem Drehbuch von Russell Gewirtzs das Gangster Genre komödiantisch auf, um der Welt subtil in eigenwilligen Bildern über die Tragödie seines Landes zu erzählen, das nicht nur im Sumpf von Rassismus und sozialer Ungerechtigkeit, sondern zudem durch Korruption, staatliche Verbrechen und völkerrechtswidrige Kriege auch von innen heraus immer weiter zu verfallen droht. Beide sind exzellent in ihrem Fach, Heißsporne, unverbesserliche Moralisten, die dabei dennoch so schön altmodisch die Hoffnung hochhalten, das also, was Lebenskraft ausmacht. Müller treiben die Menschen um, die unter den neoliberalen Zerstörungsorgien leiden und ihre Würde verlieren. Deshalb setzt er unermüdlich auf Aufklärung, auf bei uns noch vorhandene demokratische Strukturen und die Kraft des kollektiven politischen Handelns. Lee, als Angehöriger einer ehemals versklavten und bis heute verachteten Minderheit seines Landes, ist normalerweise rigoroser, oft zynisch, vor allem auch gegen die eigenen Leute. Doch dieser Film strahlt dagegen etwas liebenswürdig Gelassenes aus. Lee setzt auf die Moral des Einzelnen und hofft, daraus könne neue Solidarität entstehen. Er erzählt, wie trotz allgegenwärtiger Repression Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, trotz aller Ressentiments wieder zueinander finden und so im Prinzip fähig sein könnten, die wirklichen Gangster zu vertreiben. Nun ist ein rasant gemachter Film schneller zu konsumieren, als eine ökonomische Analyse. Doch letztere liest sich fast so atemlos wie ein Krimi, auch wenn Müller darin nichts als die Wirklichkeit beschreibt. Eine weitere Koinzidenz: am ersten Wochenende nach Anlauf des Films toppte sich Lee mit „Inside Man“ selbst an den US-Kinokassen. Mit Müllers „Machtwahn“ geschah ähnliches, er katapultierte sich gleichzeitig sofort in die deutschen Bestsellerlisten und übertraf damit glatt seine eigene „Reformlüge“.

Um die frühe Nachmittagszeit war „Machtwahn“ mit der Post angekommen. Mehr als eine Woche hatte die Post (oder war es der DHL?) laut Poststempel gebraucht, um das Buch von München in den Norden zu schaffen. Nun, in Relation gesehen war das noch ziemlich schnell. Ein Brief, der nur ein paar Stadtteile weiter im Osten eingesteckt worden war, hatte drei ganze Tage hinter sich. „Deregulierung“, „Privatisierung“, „Modernisierung“, „Bürokratieabbau“, „mehr Kundenfreundlichkeit“.
Was waren das noch für Zeiten, diese „ewiggestrigen“, als der Postbote, Herr M., über viele Jahre hinweg, immer verlässlich und pünktlich, am Vormittag die Post brachte, manchmal zum kleinen Schnack über die Weltläufe auf dem Treppenabsatz aufgelegt war oder sich nach der alten Frau A. und deren kranker Hüfte erkundigte, ab und zu auch einfach nur muffelte. Mittlerweile nerven bis zu vier Personen täglich, immer andere. Die Post kommt jetzt irgendwann am Nachmittag, ausgetragen von immer andern Aushilfskräften, die per Anweisung auch verpflichtet sind, die Briefkästen mit allem nur möglichen unerbetenem Müll voll zustopfen. Früher war es nur der unsägliche Ikea Katalog für die McDonald Wohnkultur, eines Konzerns mit den ersten richtig miesen Löhnen in bundesdeutschen Filialen eines Multis. Heue findet sich alles: Blättchen von Versicherungen, Deutsche Bank und andere Banken, Postillen zum Kreuzzug für Christus, BMW, Aldi, Media Markt, Financial Times, Telekom. Alles unerwünscht. Neoliberalismus ist distanzlos, dringt ins Private ein, belästigt. Über Monate liegen fast täglich mindestens 8 unansehnliche Billigdruck-Seiten „Tägliche Frische braucht das Land! Kaufland kommt!“ im Kasten, versehen mit der Aufforderung, sich als „Austräger“ zu bewerben. Davor, danach klingeln sich verschiedene Post- und Paketdienste sowie Verteiler für Reklame durchs Mietshaus, bis in den Abend hinein. Allesamt Gehetzte, in prekären Arbeitsverhältnissen, ärmlich, unsicher, ohne Stolz einer Berufsidentität.

Etwas mehr als eine Stunde noch bis zur Nachmittagsvorstellung von „Inside Man“. Vorher noch schnell für eine Fahrkarte am Bahnhof vorbei: 10 Minuten Fußweg dahin, dann 5 Minuten mit dem Bus zum Kino. Müsste also klappen, „Machtwahn“ kommt mit. Übliche Nagelprobe: Besonders ein Fachbuch muss gerade auch beim Lesen im Trubel, vor der Uni-Bibliothek, in der U-Bahn oder eben gehend auf der Straße sofort prickeln. Also, fast so ähnlich, wie erste Filmszenen gleich reinziehen oder nicht. „Viele Reformen waren angezettelt worden, keine hatte die versprochene Wirkung gebracht“, schreibt Müller. „Politische Entscheidungen halten nicht, was mit ihnen versprochen worden ist. Pannen, Fehlentscheidungen und Misserfolge häufen sich. Die depressive Grundstimmung überträgt sich auf das politische Bewusstsein der Menschen. Sie wenden sich ab von der Politik. Sie fühlen sich ohnmächtig und unzufrieden.“ Diese kurze Zusammenfassung im Vorwort lässt keinen Zweifel darüber, wen Müller hier vertritt: die Menschen, nicht den „Markt“. Wie die intensive Lektüre dann zeigt, belegt er klein, klein, auf insgesamt 364 Seiten mit Fakten, Tabellen und Zahlen aber auch mit präzisen Analysen, wie eine tumbe Truppe, die sich in den ersten Reihen von Wirtschaft und Politik tummelt, nichts weniger treibt, als unser Land zugrunde zu richten und dabei tüchtig für sich abgreift. „Statt eine eigenständige Wirtschaftspolitik zu betreiben, buhlen sie um die Sympathie der Wirtschaft, bei der sich immer beliebt macht, wer verkündet, man wolle den ‚kleinen Leuten’ ans Leder.“ Ganz exakt, aus der Perspektive des gelernten Nationalökonomen, der auch die geschichtlichen Verläufe und internationalen Verhältnisse stets im Blick hat, dokumentiert Müller, wie sich die Bundesrepublik bereits jetzt zum Steuerparadies für Unternehmen entwickelt hat und andererseits Armut systematisch produziert wird. Aber dabei bleibt er nicht stehen.

Nun aber das Buch erst mal zuklappen und einen Gang schneller einlegen. Innere Unruhe steigt auf, das nächste Desaster neoliberaler Zumutungen könnte sich anbahnen. Ach, lieber doch noch nicht daran denken, die Sonne scheint. Stattdessen die innere Flucht antreten, in Vorfreude auf den Film. Wie viele wichtige Bücher ich schon in Spike Lee’s geliebtem Brooklyn gelesen habe. Ganz besonders gern auch im D oder Q train, runter nach Brighton Beach. Da, wo Lee die ersten Bilder auch für seinen neuesten Film wie nebenbei eingefangen hat, mit der Achterbahn von Coney Island am Horizont. Hier hat Lee einen Teil seiner Power her, hier entspringt eine wichtige Quelle der Lebensenergie für die gesamte Stadt. Noch trägt dieser alte Vergnügungsboulevard am Meer Spuren der frühen Tage: die Anfänge der Massenkultur, wie sie sich gerade in den USA auch im aus Europa übernommenen Art Deco Stil verkörperte, wovon noch heute einige Karussell-Ruinen, Buden, aber auch Badehäuser zeugen. Im Art Deco mischen sich alle nur erdenkliche Einflüsse, neben vielen europäischen Motiven aber auch Spuren aus dem Nahen Osten, der griechischen und der alten ägyptischen Kunst, sowie der Maya. Auch Momente der russischen Avantgarde blitzen durch viele Motive, afrikanische Kultur fand erstmals im Art Deco ohne Abwertung in die Moderne Eingang. Somit wird Art Deco die erste europäische bzw. westliche Kunstrichtung, die für Toleranz und Akzeptanz, den Wert auch sehr alter und fremder Kulturen warb und sich zugleich modernen Welten öffnete. So finden wir in diesem bis heute einzigartigen multikulturellen Kunststil der Moderne, faszinierende Ansammlungen, in denen Maschinenteile, Räder und Automobile ebenso auftauchen, wie Naturelemente, pralle Sonnenaufgänge und Blumenmotive. Während in Europa mit dem Faschismus diese Richtung relativ abrupt zum Stillstand kam, hatte Art Deco besonders in New York, zu dem architektonisch auch das Empire State und das Chrysler Building gehören, eine sehr viel längere Tradition. Bis in die neunziger Jahre hinein zeugten hier noch viele kleine Dinge in der Alltagskultur davon: Schriftzüge an kleinen Geschäften, Einrichtungen kleiner Cafes und Bars, bis heute Teile des Grand Central Terminal – und – wie wir noch sehen werden – auch Schalterhallen von Banken.

Lassen wir uns zunächst noch ein Weilchen weiter in Brighton Beach treiben. Hier leben traditionell Angehörige unterer Schichten, Menschen, die nicht nur wochentags dazu beitragen, die Räder auch in Manhattan immer am Laufen zu halten. Ins Getümmel am Meer stürzten sich schon Stan Laurel und Oliver Hardy in den dreißiger Jahren. Unvergessen der kleine Film, in dem sie am Sonntag ihre verbeulten Hosen gegen halbwegs gebügelte eintauschen, sorgfältig mit Spucke das Haar glätten, um sich dann tapsig auf die Freierfüße zu machen. Zwei anziehende aber auch sehr schlagfertige junge Damen aus Brooklyn Downtown hatten ihnen nämlich über Wochen hinweg die Köpfe verdreht und sie erst mal ordentlich an der langen Angel rumgeführt. Dann endlich, nach viel Gezicke, dürfen Stan und Oli ihre Angebeteten ausführen, hinein ins Remmidemmi von Coney Island. Im Ambiente der mit Art Deco Motiven bemalten Buden und Karussells, verheddern sich die beiden Tölpel mitten im Trubel natürlich in ihrem anrührenden Liebesschmachten und lösen dabei so allerlei Missgeschicke aus. Auch heute noch gilt, egal wie verpönt der Ort bei Weißen in Manhattan oder auch in deutschen Zeitungsredaktionen ist, was beides ebenfalls Tradition hat: Wer noch nie an einem Sonntagnachmittag in das pralle Leben auf der Promenade in Brighton Beach/Coney Island eingetaucht ist und dabei nicht Schmetterlinge im Bauch hatte, wird New York nie nahe kommen. Bilder, Gerüche und Klänge, die auch Lee in sich trägt und die sich reichhaltig im Rap der Bilder vieler seiner Filme brechen: Grell geschminkte, alte jüdische Russinnen sitzen sonntags auf den Bänken, schwarze Frauen in knappsten Oberteilen oder langen, wallenden afrikanischen Gewändern, mit Turban oder anderem kunstvollen Kopfschmuck schlendern auf den Planken, züchtig bedeckte orthodoxe Jüdinnen mit Perücke und Kinderschar, wunderschöne fragile asiatische Frauen im Sari, schicke Russinnen, dazwischen viele hormongetriebene Jungmänner aller Ethnien, gern im Mussleshirt, mit und ohne Musikrekorder, voll cool in der Gruppe, lammfromm, wenn die Angebetene neben ihnen geht. Steel Drums, überhaupt Musik aller Art, Skateboards, Familienväter mit und ohne Bäuche, eine Menge einsamer Herzen, riesige Kühlboxen und Badeutensilien für den Strand, freundliche ältere Männer, die mit frisch gefangenem Fisch vom Steg kommen. Fahrräder flitzen, Rollstühle bahnen sich den Weg, viele, viele Kinder, Himmelskomiker, kleine Menschentrauben um Jungs aus den „Projects“ in der Nachbarschaft, die zu ihren Raps die mageren Körper im Breakdance durch die Luft wirbeln, um ein paar Dollar für das Abendessen der Familie zu verdienen. Manchmal mischt sich auch ein Latino mit lebensgroßer Stoffpuppe und Rekorder in die Menge und tanzt dann mit der stillen Braut eine Marenga, so wie er dies normalerweise für die Touristen in den großen Subway Bahnhöfen von Midtwon tut. Manche flanieren langsam, andere gestikulieren heftig. Je nach Stand des Windes vermengen sich unterschiedlich stark Meeresgeruch, die unterschiedlichen Düfte der Menschen oder auch fettiger Ölgeruch von Pommes und Pfannkuchen, der aus den vielen Buden strömt. Einarmige Banditen klingeln, kleine Jungs und Mädchen ziehen ihre Eltern zum Aquarium, in dem sich Walrösser, Delphine und Baby Beluga Wale tummeln. Jederzeit lässt sich der Blick mit einer kurzen Kopfdrehung auf den breiten, weißen Strand und die betörende Weite des Meeres wenden. Der schönste, wahrscheinlich auch längste Laufsteg der Welt!

Das ist aber vielleicht alles bald vorbei. Denn die Gier global agierender Immobilienfirmen richtet sich nun zunehmend auch auf die bisher in weißen Mittelschichten, besonders in Manhattan, so verpönten Nachbarschaften in Brooklyn, wie Brighton Beach, deren Wohnungsbestand (noch) zum Teil staatlich geschützt ist. Nun plötzlich entdecken moderne Couponabschneider aus aller Welt, was für ein Super-Schnäppchen das wäre: In New York City ein geräumiges Appartement in guter Bausubstanz mit Blick aufs Meer zu erwerben! In New York heißt das verbrämt „Gentrification“ und treibt derzeit auch den Menschen in Brooklyn Green Point und Williamsburg den Schrecken in die Knochen, so wie es oben in Harlem schon länger der Fall ist. Seit der erste „Starbucks“ dort auf der „125“ aufmachte und dann wie ein Rattenfänger Filialen anderer großer Ketten nach sich zog, steigen die Mieten unaufhörlich, die Hauptstraße von Harlem wird immer langweiliger. Kulturell veröden zunehmend auch das East und das West Village unten in Manhattan. Überall, zu Dutzenden die entsetzlichen für blanke Ausbeutung ihrer Beschäftigten stehenden Filialen von Starbucks, mit mindestens Gap, Banana Republic und McDonald im Schlepptau. Neoliberalismus ist purer Anschlag auf die Sinne, zerstört jede Ästhetik, jede Lebendigkeit.

Die Angst vor Privatisierung bzw. Weiterverkauf von bezahlbarem Wohnraum geht nun vermehrt auch in der Bundesrepublik um: „Wir stehen gerade am Anfang einer gigantischen Verramschung dieser gemeinnützigen Wohneinheiten an dubiose Geldanlagekonsortien“, stellt Müller fest und nennt die Namen dieser neuen Gierigen, die der Bundesfinanzminister geradezu ermutigt, ohne sich um arme Familien oder die neuen Wohnungslosen auch nur irgendeinen Kopf zu machen. Berlin, Dresden, Freiburg, überall werden zurzeit staatliche Wohnungen verscherbelt. Müller beschreibt die Schamlosigkeit, mit der Politiker das von BürgerInnen erarbeitete Staatsvermögen einfach verschleudern, ohne jegliches Unrechtsbewusstsein. Neoliberale Vereinheitlichungen von Wohnquartieren können wir auch schon in Hamburg beobachten: überall die gleiche Öde, Entleerung und Verelendung.
Noch kommen aus der Mitte des quirligen Lebens in Teilen von Brooklyn oder auch Queens und Harlem die vielen Arbeiter und kleinen Büroangestellte für die Stadt. Doch viele, gerade Nicht-Weiße, leben bereits unter erbärmlichsten Bedingungen, in schlechten, kleinen Wohnungen, die sie kaum noch bezahlen können. Am 911 verloren viele einfache Menschen aus Brooklyn oder auch Queens ihr Leben im World Trade Center. Wahrscheinlich waren sie sogar in der Überzahl, wovon die vielen Bilder auf den kleinen privaten Gedenkschreinen in den Monaten danach sowie die Namenslisten zeugten. Doch das Leid ihrer Familien passt nicht in evangelikale Propagandaschlachten des „War on Terror“. Vielmehr tobt seit dem Paranoia gegen Minderheiten in der Stadt. Rollkommandos aus FBI, Polizei und Einwanderungsbehörde holen nachts wahllos vorrangig Asiaten und Araber aus den Wohnungen in Brooklyn und Queens. Tausende mussten seit dem in US-Knästen einsitzen, werden dort „mit Hunden bewegt“, malträtiert, misshandelt, viele in Nacht- und Nebelaktionen deportiert. Keiner zählt sie genau. All das treibt auch Spike Lee um, all das kommt auch im Film vor, wenn auch mit einer unerwarteten Leichtigkeit im Subtext, oft ästhetisch sehr verschlüsselt. Im Interview mit Die Zeit sagte er zu seinem neuen Film: „Man kann auch vom New York nach dem 11.September erzählen, ohne es in jeder Szene herauszuschreien. Ich liebe diese Stadt, ich habe immer Stolz für ihr kosmopolitisches Wesen empfunden. Trotzdem kann ich ihre Intoleranz, ihre ethnische und soziale Ungleichheit anprangern, die sich noch mehr zugespitzt haben.“

Spike Lee, geboren Ende der fünfziger Jahre in Atlanta, doch aufgewachsen in Bed-Stuy in Brooklyn, bekommt noch als kleiner Junge den blanken, gesetzlich sanktionierten Rassismus mit, aber dann auch, wie AmerikanerInnen afrikanischer Herkunft anfangen, sich gegen Rassismus, Segregation und soziale Diskriminierung zu wehren: Rosa Parks, Martin Luther King, Malcolm X, Angela Davis, das sind seine Vorbilder. Und Lee weiß, obwohl er aus der schwarzen, gebildeten Mittelschicht stammt, heute finanziell völlig unabhängig ist, immer noch, wie Armut aussieht, wie sie riecht, was sie anrichtet, wie sie sich derzeit verschärft und was ihn besonders umtreibt, wie Kinder seelisch und physisch darin verelenden. Vom Filmfest in Venedig im Herbst 2005 hat Lee kaum etwas mitbekommen, weil er rund um die Uhr fassungslos die Bilder von New Orleans verfolgte. In den USA leben bereits viele Millionen afrikanische Amerikaner und Latinos in absoluter Armut, insgesamt liegt das Einkommen von zwölf Prozent der Amerikaner unter dem Existenzminimum.

In der Bundesrepublik sind wir „erst“ in den Anfänge einer vergleichbaren Massenverelendung, die jedoch neoliberale Eliten auch hier systematisch mit aller Brutalität fördern. Albrecht Müller liebt im Lee’schen Sinne sein Land, mit einer ähnlichen inneren Kraft. Kurz vor Ausbruch des Krieges geboren, erfährt er als Kind und Jugendlicher die Folgen des NS Regimes, die Zerstörungen, den Hunger, kennt Entbehrungen noch bis in die fünfziger Jahre hinein. Im manisch betriebenen Wiederaufbau entsteht Wohlstand, doch die noch junge Demokratie droht wieder zu kippen. Kaum ein höherer SS Mann brauchte sich nach ein paar Jahren noch ernsthaft zu fürchten, von deutschen Gerichten zur Verantwortung gezogen zu werden. Dafür sorgten CDU und Regierung, unter Konrad Adenauer und Ludwig Erhardt, mit ihren Seilschaften bis in die Gerichte hinein. Viele alte Nazis setzten sich auch im neuen Staat in Wirtschaft und Politik fest, über den Steigbügelhalter CDU und die Vertriebenenverbände. Als diese alten Kameraden gegen den Willen der Bevölkerung die Debatten über Wiederbewaffnung anzetteln, die sie schließlich auch durchsetzen, sucht der junge Albrecht Müller verstärkt nach politischem und moralischem Halt. Den findet er in der Gesamtdeutschen Volkspartei von Gustav Heinemann, mit dem er dann später, wie auch Johannes Rau, in die SPD übertritt. Von Heinemann lernt er praktisch-politische Verantwortung für die Geschichte zu übernehmen und unbedingte soziale Gerechtigkeit als Hauptnerv einer gelebten Demokratie schätzen. Später hat er das Glück, für Willy Brandt Wahlkampf machen zu können. Hautnah erlebt er, wie den aktiven Hitler-Gegner und Emigranten alte Nazis, von denen sich auch Anfang der siebziger Jahre noch Hunderte für die CDU in den Parlamenten tummeln, diffamieren und anfeinden, während Brandt als erster Regierungschef nach 1945 auch im Ausland Hoffnungen weckt. Für viele junge Menschen, zu der Zeit häufig noch in den eigenen, vom NS geprägten Familien malträtiert und missachtet, wird Willy Brandt die erste positive, öffentliche Vaterfigur, wahrscheinlich auch die einzige, die dieses Land je hervorgebracht hat. In diesen wenigen Jahren unter Brandt war die Bundesrepublik ein offenes Land, Kunst und Kultur blühen, der Mensch, nicht der Markt, wird in der Politik zum Maß. Diese Erfahrungen sitzen tief, sind Motor auch für Müllers Analyse „Machtwahn“. Sie schaffen die Lebendigkeit seiner Sprache, konterkarieren geradezu den grotesken Blähstil neoliberaler Mantren.

Doch zurück zum realen Neoliberalismus im Alltag der zweitgrößten bundesdeutschen Stadt im Frühjahr 2006: Fahrkartenkauf bei der Deutschen Bahn, im „Service Point“. Früher wäre das alles kein Ding gewesen. Ein Telefonanruf während der üblichen Geschäftszeiten, zum Ortstarif, manchmal zwar besetzt, aber immer ohne Stimme vom Band und vor allem ohne nervige Musik in der Warteschleife, stattdessen nach kurzem Freizeichen auf Fragen nach Fahrplan und Preisen: exakte Antworten. Dann eine viertel Stunde vor Abfahrt des Zuges einfach zum Schalter, Strecke angeben: von A nach D über C und retour, kurzes Nachschlagen im Kursbuch, Fahrkarte ausgestellt, bezahlt, fertig. Wo und wann die Strecke unterbrochen wurde, juckte niemanden. Alles ein Preis. Dann Zeitung kaufen, gemütlich oben auf den Zug warten. Heute muss, wer sich nicht doppelte und dreifache Preise leisten kann, die ganze Sache schon viele Wochen vorher strategisch angehen und sich auf Casino-/Klingel-/Schnäppchen- Kapitalismus, wie Bahn-Kontingente einlassen.

Noch 45 Minuten an diesem Nachmittag bis zum Filmanfang von „Inside Man“. An allen fünf Schaltern werden Fahrgäste bedient, vor mir in der Reihe stehen nur zwei weitere. Heute also alles stressfrei? Buch raus? Für einen Besuch am Sonntag zuvor im „Service Point“ war eine Stunde Lebenszeit dabei draufgegangen, für eine sehr einfache Anfrage. Kurz zuvor hatte jemand erzählt, McDonald würde im März vier Fahrkarten – egal wohin – für 100 Euro verkaufen. Kaum zu glauben, oder? Das noch Volkseigentum paktiert mit der berüchtigtsten Fast Food Kette der Welt. Also rein in so einen McDonald. Unerträglich der Gestank. Vielleicht ist das Zufall, Folge einer besonders schlampigen Filialleitung, außerdem ist ein Kanal in der Nähe und die Stadt erlebt ganz plötzlich ihren ersten warmen Frühlingstag. Eine Küchenhilfe klärt schnell auf: ja die Fahrkarten wurden verkauft, waren aber schon nach ein paar Tagen weg. Am Bahnhof ist noch ein McDonald: der gleiche aufdringliche Gestank, der gleiche Würgreiz, die gleiche Antwort. Bei der dann erfolgten Erstrecherche im „Service Point“ hatte allein die Computerabfrage für die Strecke von A nach D über C und zurück auch über C, aber mit einer Nacht Aufenthalt, 20 Minuten gedauert. Ein „Grund“: D liege im Ausland, das ließe sich nicht in eine gesammelte Abfrage unterbringen. An der Beamtin, ja, richtig gelesen, sie hat noch das große Glück eines solchen festen Arbeitsplatzes, liegt es nicht. Früher hat sie schnell und präzise mit dem alten System, mit Kursbuch und Preistabelle gearbeitet. Zusätzliches Schnäppchen kann im Frühjahr 2006 machen, wer die WM Bahn Card 25 für 19 Euro hat, die bis Ende Juli gilt, aber erst im April gekauft werden kann. „Wenn wir Weltmeister werden gilt die WM Card sogar bis Ende des Jahres“, sagt die Beamtin, mit sichtlich betretenem Blick. Neoliberalismus entwürdigt alle Menschen.

Dieser ganze Klimbim muss erst mal sortiert werden, also zurück nach Hause und nachgeschaut, ob der Flug nicht vielleicht doch besser ist. Schneller und billiger ist er nach D alle Mal. Der Zug braucht 12 Stunden. Aber genau das könnte eigentlich auch Luxus für die Seele bedeuten: Einen ganzen Tag im Zug: endlich einmal sich in einen dicken Roman über Stunden hineinwerfen können und zwischendurch die Gedanken schweifen lassen, während Wälder und Felder draußen vorbeiziehen. Das ist aber nur noch mit Glück möglich, da uns gerade im Zug überall Mobiltelefone die Leere banaler Alltagsgespräche aufzwingen. Außerdem muss spätestens nach 150 Kilometern ernsthaft darum gebangt werden, ob der Anschlusszug in C auch wirklich erreicht wird. Sonst heißt es in C übernachten, auf eigene Kosten natürlich. Alles schon erlebt. Vor den neoliberalen Attacken auf das Volkseigentum Bahn haben die Züge selbstverständlich aufeinander gewartet. Aber was haben harte Fachqualifikationen wie „Logistik“ auf dem Börsengang der Bahn noch zu suchen? Nun, fürs Beherrschen mathematischer Berechnungen auf allen Ebenen, wären hochgradige Denkleistungen gerade auch im Management notwendig.

Zwischen C und D gibt es leider keine Flugverbindung. Man müsse sich beeilen, hatte die Beamtin bei der Bahn an dem Sonntag noch gesagt, allenfalls zwei bis drei Tage würde dieser herausgesuchte Preis Bestand haben. Nun also, zwei Tage später, der zweite Anlauf, diesmal Kauf der Karte angestrebt. Gerade hat ein Kunde einen der Schalter verlassen. Die nächste Kundin geht erleichtert auf den Tresen zu. Flugs schiebt die Bahnangestellte ein Schildchen auf den Tresen „Sie werden am nächsten Counter bedient“. „Counter“?! „Auch noch die letzte Belanglosigkeit wird auf Englisch ausgedrückt“, lesen wir irgendwann bei Müller. Ja, und dann auch in der Regel noch peinlich falsch. Wenig später das gleiche Schauspiel an einem zweiten Schalter: Er wird endlich frei, doch erneut macht der „Counter“ zu. Durch die Wartenden geht jetzt leichtes Raunen. Hinter mir haben sich mittlerweile schon zehn weitere Leute in die Schlange gestellt. Genervte Blicke, Flüche, dazwischen leitkulturelles Geklingel der Mobiltelefone (für die Kanzlerin bekanntlich Ausdruck vom „Land der Ideen“). Werde nun auch langsam innerlich flattrig. Das Lesen im „Machtwahn“ klappt nicht mehr. Ruhe bewahren: Die wirklich Leidtragenden sind die Frauen hinter den Schaltern. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer Dienststellenleiterin, das etwa zwei Jahre zurück liegt, bei der ich mich ursprünglich über verspätete Züge, verpasste Anschlüsse beschwert und meine Belege dafür vorgelegt hatte. Dies sei Schwerstarbeit für die Frauen, für die Männer in der Regel nicht geeignet sind, hatte sie damals erklärt. Die Computerprogramme sind langsam, umständlich programmiert, oft bricht alles zusammen. Die Fahrgäste sind innerlich geladen, ungeduldig, manche patzig. In der Schlange 1 ½ Stunden anstehen, das übersteht kein Nervenkostüm völlig unbeschadet. Alles für die unsinnige Suche nach Schnäppchen, bei immer schlechterem Service der Bahn. Um Ruhe dennoch bewahren zu können, auf die Aggressionen nicht einzusteigen, müssten die Frauen einfach häufiger Pause machen, hatte die Dienststellenleiterin erklärt.

Endlich komme ich ran, noch 30 Minuten bis zum Kinobeginn. Ich gebe der Frau am Schalter die Unterlagen der Erstrecherche. In den letzten Tagen haben sich die Kontingente verändert, nicht die Fahrt von C nach D auch nicht die Rückfahrt von D nach C nicht, weil die Strecke im Ausland liegt. Also wieder langes Gesuche im Computer. Bemühe mich, ruhig zu bleiben. Die Frau – sie ist wahrscheinlich keine Beamtin mehr, also bereits lohngespreizt – bemüht sich auch, aber es dauert eben. Auf die Uhr schauen, tief durchatmen. Hier war es in den letzten Jahren ja noch nie anders. Am Hauptbahnhof wäre es noch schlimmer. Da spotten die Verhältnisse jeglicher Beschreibung. Extra Bahnangestellte stehen im „Service Point“ an der Bande, um die Menschen in den Schlangen zur Ruhe zu bringen oder sie zu den Automaten zu bewegen, um dort in die Schnäppchenwelt abzutauchen. Sage der Bahnangestellten, die immer noch sucht, ich hätte eben das Kino, in das ich wollte schon aufgegeben, wäre schon in Ordnung. Ach, beruhigt sie, das wäre noch zu schaffen, ich hätte noch zehn Minuten in Petto, weil vor jedem Film doch noch Werbung laufe. Ich frage sie, während der Computer wieder lange nicht reagiert, ob es noch schlimmer werden wird, wenn Mehdorn das Volkseigentum Bahn endgültig gegen den Willen der BürgerInnen am Markt für ein Schnäppchen verkloppen wird. Sie sagt: „Ja, aber noch haben wir auch die Gewerkschaften“. So redet sie uns beiden Mut ein. Endlich haben wir es, ich stecke den ganzen Packen ein, merke erst später: Die WM Bahn Card (nicht etwa „Bahn Karte“) ist nicht dabei, obwohl sie in den Preis eingerechnet ist. Werde deshalb zwei Tage später noch mal zurück müssen: mindestens eine weitere Stunde Lebenszeit wird dabei drauf gehen, dafür werde ich dann aber eine Liste der WM Spiele gratis bekommen! Nun wollte ich eigentlich nur noch wissen, ob es auch einen Nachtzug von A nach F gibt. F liegt in einem anderen Ausland. Weitere 10 Minuten Suche. Nein gibt es nicht. Später finde ich im Netz raus: es gibt ihn doch. Noch nicht einmal in den USA wäre ein solches Chaos im Zugverkehr möglich, obwohl dort die Auflösung der Gesellschaft und die Gier des Kapitals insgesamt noch um einiges weiter fortgeschritten sind. Doch wer sich beispielsweise in New York im Grand Central Terminal, im größten Zugabahnhof der Welt am Schalter anstellt, wird selten, auch in der rush hour, länger als 20 Minuten inklusive Kartenkauf brauchen, ohne Belästigungen der Schnäppchenkultur.

Endlich an der Kinokasse: Der Film „Inside Man“, nur hier in Originalfassung zu sehen, spielt seit sieben Minuten. Geht nicht, denn die ersten Szenen, genau die in Brooklyn, sind dann schon vorbei. Gut, nächste Vorstellung und zwischendurch Einkäufe tätigen. Immerhin ist das Uni-Viertel nicht weit. Dann vielleicht noch in ein Cafe und gemütlich weiter in Müllers „Machtwahn“ lesen. Runter die große, breite Strasse, an deren Anfang der nach 1945 erste moderne, heute ziemlich runtergekommene Hochhauskomplex der Bundesrepublik steht. Seit ein paar Wochen leuchtet auf einem der Dächer eines dieser neonblauen Fußballtore! Schön war die Straße – früher einmal Hauptstraße des jüdischen Viertels- nach 1945 noch nie, sondern wirkte immer schon gesichts- und geschichtslos. Doch jetzt rechts und links fast nur noch Schnäppchenläden und ein paar Restaurants, die oft nach ein paar Monaten wieder ein anderes, immer trostloseres Erscheinungsbild haben. Das Uni Gelände ist von außen geradezu von Ramschläden und „Coffee to Go“ Filialen umzingelt, darunter auch eine der unsäglichen Balzac- Kette, deren Kaffe mindestens genauso übel schmeckt wie der von Starbucks, die geschmacklose Einrichtung ist allemal detailgetreu nachempfunden, wahrscheinlich auch die miesen Löhne von Starbucks. Neoliberalismus verachtet die Individualität aber auch kollektive Bedürfnisse von Menschen.

Die anderen, ebenso gesichtslosen „Shops“ verkaufen neben der modischen „Coffee Latte (!)“ zum Teil auch noch „Club Sandwich“ und „Bagels“. Die Heferinge außerhalb von New York oder Boston offensiv als frische „Bagel“ zu verkaufen, ist mindestens schrecklich peinlich. Drinnen sitzen adrette junge Menschen, wie geklont, mit FAZ, Die Welt, taz oder Handelsblatt, reißen affig die Mäulchen auf, wenn sie in ihre Mobiltelefone flöten, ganz so wie in den billigen US-Serien, die im deutschen Reklamefernsehen laufen. „Popper“ nannten wir die Vorgänger solcher Typen früher, die identitätslos der Anpassung schon als ganz junge Leute verfielen. In der einstmals ersten subkulturellen Filmkneipe der Republik, neben dem ersten „Underground“ Kino, mit dem ersten berühmten deutschen Popart Gemälde an den Außenwänden, sieht es mittlerweile aus wie im Restaurant einer Shopping Mall bei den Mormonen in Salt Lake City. Auf den Tischen zeitweise weiße Decken, statt des festangestellten Kellners mit langer Haarpracht und ausgefallener Kleidung oder quirligen, selbstbewussten Studentinnen, die damals sozusagen zum unverwechselbaren „Inventar“ gehörten, nun ständig wechselnde Billigjobber, artige, fade Buben und Frauen, oft mit langen Schürzen. Der linke Buchladen, ein paar Minuten entfernt, einst ebenfalls in der ganzen Republik bekannt, ist heute nur noch ein Schatten seiner selbst. Die heute lieblose Schaufensterdekoration ist auch mit geistigem Müll der Eliten bestückt, die Müller im Kapitel „Der Fisch stinkt vom Kopf“ schön heftig in ihrer ganzen Erbärmlichkeit vorführt, neben dem Bundespräsidenten, dem Exkanzler auch Großdichter sowie wie viele Gestalten aus Medien und Wissenschaft. In diesem Universitätsviertel ist der kulturelle Kontext der künftigen Elite zu besichtigen. Genau von hier kommt bereits ein Teil des neoliberalen Bodensatzes von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD, die „Generation Reform“, wie Müller sie nennt, die heute so dreist über „Generationengerechtigkeit“, „Demographie“ und „private Rentenversicherung“ schwadroniert. Kritische Lehrinhalte waren an dieser Universität, wo quirlige Studierende einst die Metapher „tausendjährige Muff unter den Talaren“ prägten, bereits in den achtziger Jahren fast unmerklich eliminiert worden, ganze Fachbereiche bluteten dann in den neunziger Jahren aus, während solche unsinnigen Einrichtungen wie der Fachbereich Journalistik entstanden, gegründet von Nicht-Journalisten, darunter einem Germanisten, von dem in der Seminarbibliothek keine fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen zu finden sind. Aber mit einem solchen Studiengang, ließen sich im Rausch der Deregulierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Drittmittel an Land ziehen, z.B. von Bertelsmann, deren Drückerkolonnen für Trivialliteratur in den Nachkriegsjahrzehnten eigentlich noch viele Westdeutsche als Albtraum erinnern müssten.

Studierende wurden hier in den Sozialwissenschaften dieser Universität schon Anfang der neunziger Jahre verstärkt in den Sprachverhau der Systemtheorie gejagt. Hier entstanden auch erste Netze neoliberaler Kameradschaftsbünde, ohne die heute Kampftruppen wie INSM und Bertelmann-Stiftung ihre Kampagnen zur Gehirnwäsche so nicht hätten entwickeln können. In diesem Sumpf entstanden auch schon früh „rechtswissenschaftliche“ Vorarbeiten zur „Reform“ des Grundgesetzes. In dieser Stadt züchteten ab Mitte der achtziger Jahre auch Journalistenschulen der Verlagshäuser ihre „Edelfedern“. Solche Plappermäulchen des Neoliberalismus, sitzen heute in den einschlägigen Redaktionen, wo sie ohne Unterlass Wahnvorstellungen über „Reformen“, „Eigenverantwortung“ und „Sozialschmarotzer“ anfüttern, sich dabei einen Deut um journalistische Moral oder auch nur das Handwerk der Recherche kümmern. Einer der beflissensten Steigbügelhalter ist Gabor Steingart, auch er Absolvent einer „Journalistenschule“. Unermüdlich plappert er im „Wirtschafts“-Teil der Nachrichtenillustrierte Der Spiegel in Schlips und Kragen die Schlachtrufe der neoliberalen Kampftruppen nach – oder lässt sie plappern –. Unlängst, anlässlich der Vermarktung seiner Phrasen in Buchform, bedankte sich Steingart artig beim Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter für dessen „unbestechlichen ökonomischen Rat“, lesen wir bei Müller. Wie weit kann deutscher Journalismus eigentlich noch sinken? Von der Gleichschaltung der Medien geht in der Tat eine reale Bedrohung für die Gesellschaft aus: „Rich Media, Poor Democracy“, was Robert McChesney in seinem Besteller 2000 für die USA beschrieben hat, gilt mittlerweile uneingeschränkt auch hier in der Bundesrepublik: Neoliberalismus braucht gleichgeschaltete Medien. Und dies ist in diesem Land ebenso wie in den USA bereits weitgehend der Fall, wie auch Müller dokumentiert. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zocken private Produktionsfirmen, die ganz offen mit neoliberalen Kampfbünden paktieren, für sogenannte politische Talkshows ab. Müller nennt diese Form der Korruption treffend „Drittmittelfernsehen“.
Die bisher dreisteste Form von Manipulation, Korruption und Veruntreuung öffentlicher Gebühren, stellt die von Unternehmerverbänden und Reklameindustrie inszenierte Medienkampagne „Du bist Deutschland“ dar.

Ausflüge in den real existierenden Neoliberalismus kosten nicht nur Nerven und Energien. Neoliberale Leitkultur jagt Leere in die Seele, macht traurig, zeitweise schlicht blöd und leer. Geht da überhaupt noch ein anspruchsvoller Film rein? Erst einmal umkehren in Richtung Kino. Kein Cafe ohne „Coffe to Go“ ist in der ganzen Gegend mehr zu finden. Aber in der Bedrängnis kann der Mensch auch Genügsamkeit entwickeln. So verspüren wir an diesem Nachmittag eine gewisse Dankbarkeit: Was wäre, wenn wir jetzt noch zur Post müssten. Dort auch nur eine einfache, echte Briefmarke mit Motiv zu erstehen, kostet mittlerweile unglaubliche Kraft. Schließlich rein in einen ganz ordinären Döner Imbiss. Kein Gestank. Kaffee ist zwar aus, dafür gibt es Tee, der nicht bezahlt werden darf. Und: Ruhe! Ein paar junge Männer vertiefen sich ins Gespräch, die Körper einander zugewandt.
„Machtwahn“ raus. Müller wirft den neoliberalen Abenteurern vor, die für mindestens 7 Millionen Erwerbslose verantwortlich sind, nicht danach zu fragen, „was an seelischem und familiärem Leid und an volkswirtschaftlichen Schäden hinter diesen Ziffern steckt“. Stattdessen werden die Betroffenen verfolgt und „Angst als Steuerungsinstrument“ eingesetzt. Davon ist mittlerweile die ganze Gesellschaft infiziert: „In den Betrieben kommt es zu einer weiteren Folge von Angst: Mobbing. Wer Angst hat, ist schnell Opfer von Mobbing. Wer Angst hat, ist aber auch häufig Täter“, schreibt Müller. Und „wer getreten wird, tritt nach unten weiter“. Gerade in den letzten Monaten warnen Krankenkassen und SozialwissenschaftlerInnen vor den Folgen. „Die Menschen werden seelisch und körperlich krank“, hält Müller fest. Für den Ökonomen ist das glatt auch ein Faktor, der wirtschaftliche Produktivität hemmt: „welcher Wahnsinn hinter dem Konzept steckt, die Standortbedingungen einer Volkswirtschaft durch Vermehrung der Angst zu verbessern. Aber dieser Wahnsinn hat Methode. So ist das Konzept der neoliberalen Ideologie angelegt.“ Wieder einmal drängt sich die verstörende Metapher „Autoimmunisierung“ auf, die Jacques Derrida zur Beschreibung der Destruktion in neoliberalen Gesellschaften gefunden hat. Diese zerstören sich nicht nur von innen heraus sondern auch alle menschlichen und gesellschaftlichen Fähigkeiten, die zum produktiven Schaffen und Denken, zu Humanismus, Menschenrechten und Demokratie geführt haben.
Wir finden überall eine „Wiederbelebung von tagelöhnerähnlichen Verhältnissen“, zeigt Müller. Familien zerfallen, Partnerschaften und andere soziale Bindungen geben wenn überhaupt nur noch zeitweise Halt. Die Grundqualifikation der vorbehaltlosen Empathie scheint längst zerstört, begünstigt auch durch die mediale Verwahrlosung. Auch daran lässt Müller keinen Zweifel: die Einführung des Privatfernsehens hat wie vor 20 Jahren vorausgesagt, zur „Infantilisierung der Gesellschaft“ geführt. Und zu nie gekanntem Frauenhass, möchten wir ergänzen und verweisen auf die menschenunwürdige Zurichtung von Frauenkörpern im gesamten Reklamefernsehen, besonders in der Nacht. Müller zeichnet für das gesellschaftliche Gedächtnis auch noch einmal nach, mit welchen korrupten Energien diese „Deregulierung“ des Rundfunks Mitte der achtziger Jahre von Politikern und Medienkonzernen betrieben worden ist. Wo sind heute die Reportagen und journalistischen Analysen, die aufdecken, wie die Menschen geistig und materiell verelenden, wie korrupte Eliten Volkseigentum verschleudern, die Solidarität der Sozialversicherungssysteme zerstören, Massenentlassungen forcieren. Wo ist journalistische Anwaltschaft, wenn Politiker Erwerbslose als Parasiten beschimpfen, die angeblich „Missbrauch“ betreiben, weil ihnen „der Anreiz zur Arbeit fehlt“. Wo sind die Glossen, wo die Analysen und Kommentare die das dahinterstehende faschistoide Menschenbild sezieren? Das alles würde Arbeit bedeuten: lange Recherchen, viel Lektüre, viel Auseinandersetzung mit realen Menschen sowie das Beherrschen einer von neoliberalen Mantren freien und präzisen Sprache. Doch Nachplappern ist einfacher. Die Menschen arbeiten besser und effektiver als je zuvor, wie Müller nicht nur anhand von Statistiken zeigt. Doch die gegenwärtigen Eliten tun nichts anderes, als das, was die Menschen dieses Landes seit 1945 geschaffen haben, systematisch zu zerstören. Sie schüren Angst und Verachtung. Was ist in diesem Land falsch gelaufen, wenn intellektuelle Leichgewichte wie Bernd Raffelrüschen oder Bert Rürup und wie sie alle heißen im Dienste der Versicherungsindustrie stehen bzw. dubiose Institute als Tarnorganisationen der Unternehmerverbände führen, gleichzeitig aber staatliche Professorengehälter abgreifen? Warum können Beamte der Bundesrepublik Deutschland Reklamesprüche über „das demographische Problem“ und „die Notwendigkeit private Vorsorge“ als „wissenschaftlich“ verbrämt unter die Leute bringen? Wo bleibt hier die wissenschaftliche Qualitätskontrolle? Welcher „Anreiz zur Arbeit“ ist diesen Herrschaften eigentlich mehr wert? Die fetten Nebeneinkommen oder die mindestens 150 Studierenden pro Semester? Letztere würden einzeln intensive Betreuung erfordern. Mindestens eine 60 Stundenwoche wäre also die Folge. Wie gehen diese Herrschaften beispielsweise didaktisch und moralisch mit den Ängsten angehender AkademikerInnen um, angesichts der Hoffnungslosigkeit im Strudel weltweiter Zerstörung. Vermitteln diese und andere Botschafter des Kapitals dem Nachwuchs noch wissenschaftliches Handwerk? Befähigen sie die jungen Menschen dazu, Thesen, Glaubenssätze oder Klischees von Evidenzen zu unterscheiden? Lehren sie wie die gesellschaftlichen Ursachen sozialer und ökonomischer Phänomene zu analysieren sind? Befähigen sie junge Menschen, Biss in der Wissenschaft zu finden, um einmal im Dienste der Mehrheit der Gesellschaft denken, forschen, arbeiten zu können? Oder wird die Lehre nur als lästiges Nebenbei abgewickelt, weil Abzocke dicker Beraterhonorare so lukrativ ist? Wie steht es mit der täglichen Lektüre von Fachliteratur dieser und anderer Herren „Honorar“- Professoren? Keine Anhaltspunkte dafür bieten ihre heruntergeleierten Glaubensbekenntnisse der Versicherungswirtschaft wie „Demographie“ und „privater Vorsorge“, versetzt mit weiteren Chorälen, frei nach der Strophen: „Arbeit braucht Wachstum und Wachstum braucht Freiheit“ oder „Wir senken die Lohnnebenkosten, damit endlich wieder mehr Menschen in Arbeit kommen“ . Was tragen die Medien zur gesellschaftlichen Ächtung solchen Gier und vorsätzlicher Verblödung bei? Derzeit kann die Versicherungsindustrie dank solcher „Professoren“ aber auch korrupter „Talkmaster“ ganz ungestört richtig abzocken. Müller zeigt: wenn es geling, nur 10 Prozent der Beiträge für die staatliche Rente auf private Vorsorge umzulenken erzielt die Versicherungswirtschaft einen Umsatzzuwachs von 15 Milliarden Euro. Wer bezahlt das eigentlich? Warum schreiten hier nicht Rechnungshöfe, Universitätsleitungen und Ministerien ein? Wo versagen hier demokratische Strukturen?
Eine Art „Deregulierung“ findet auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften seit längerem statt, nicht nur durch Ausblutung der Fachbereiche, sondern auch durch nahezu kollektive Verweigerung der Professorenschaft, sich neueren philosophischen und sozialwissenschaftlichen Debatten zu stellen. Wo ist beispielsweise eine Sprachwissenschaft, die das alltägliche Gewäsch dekonstruiert, dabei den Worthülsen, den Neologismen des neoliberalen Wahns samt seiner Metaphern der Verachtung nachspürt? Nach dem katholischen Klerus ist diese beamtete Elite deutscher Professoren noch immer der reinste Männerbund, was in anderen Ländern, die sich demokratisch nennen, einfach undenkbar wäre. Nur in diesem Land ist das kein Skandal. Doch genau das gehört auch zum Wesen des Neoliberalismus: Seine patriarchalen Eliten betreiben Machtmissbrauch, in erster Linie auf Kosten der weiblichen Bevölkerung, national und global.

Die Lektüre von „Machtwahn“ kann gerade auch der Leserin die innere Wut zurückgeben, die Wut darüber, tagtäglich konzertierten Verdummungsoffensiven ausgesetzt zu sein, während um uns herum das soziale und vor allem auch das kulturelle Leben zerfällt. Das ist vielleicht das größte Verdienst von „Machtwahn“: Über diese fachlichen Analyse der Verhältnisse des Verscherbelns und Veruntreuens kann sich die Leserin von der diffusen Melancholie zunächst zurück auf die inneren Barrikaden bringen und so schrittweise ihre Handlungsfähigkeit wiedergewinnen. Somit ist „Machtwahn“ ein klassisch emanzipatorisches Buch alter, sozial verantwortlicher Schule.

So innerlich aufgetankt und noch eine Flasche Wasser für die Vorführung gekauft, die große Kreuzung rüber, ins Kino. Der riesige Saal ist fast leer, rund ein Dutzend Frauen habe Platz genommen, dann kommen zwei junge Männer, bieder, adrett, setzen sich ausgerechnet neben mich. Bis sich der Vorhang auftut, reden sie mit ernsthafter Miene über „Ranking“, die „Bucerius Law School“ als Karrierestart und verharren noch eine Weile im Jargon des Denglish. In den nächsten zwei Stunden werden diese Jungs keine Miene verziehen. Sie sind im falschen Film, aber wenigstens haben sie dann am Ende zwei Stunden echtes Englisch gehört.

Wie sieht es also bei Spike Lee zu Hause aus? Das Klientel, das Müller noch distinguiert und wirklich fast zu höflich „Eliten“ nennt, heißt drüben schon ganz anders. „Gangster regieren das Land“, so kommentiert der alte Folksänger Pete Seeger im gerade mit einem Ehren-Grammy ausgezeichneten Dokumentarfilm „Isn’t it a time“ die Verhältnisse. Und der international bekannte Publizist Greg Palast nannte kürzlich die Führung des Landes schlicht „Gangster Government“. Der Gangster ist eine amerikanische Ikone, ein „all American icon“, in Mythen, Folklore und Film verklärt. Somit liegt also auch tieferer Sinn darin, wenn sich Lee am Gangster Genre versucht. Und das tut er mit luzider Lust. “Chaiyya Chaiyya“, dieser Bollywood Hit, zu dem Lee die ersten Bilder, natürlich aus Brooklyn, montiert, haut gleich rein, mitten ins Sonnegeflecht.
Wir lernen den von Clive Owen gegebenen Dalton Russell kennen, den Chef der vier „Gangster“, die sich untereinander nur mit Abwandlung von „Steve“ anreden. Dann holen wir mit den drei männlichen „Gangstern“ unten am Hudson die Kollegin ab, fahren im Kastenwagen weiter zum Exchange Place 20/Ecke Hanover, nur ein paar Blocks von Ground Zero entfernt. Im Handumdrehen finden wir uns mit den „Gangstern“ in Maleroveralls in der Schalterhalle der Manhattan Trust Bank wieder. Die Ausstattung: reinstes Art Deco. Und vor den Schaltern steht Brighton Beach in Miniausgabe, inklusive einem Japaner und einem Sikh hinter einem der Schalter, plus einiger Banker, die in der benachbarten Wall Street arbeiten. Das sind Lee’s „Vereinigte Staaten von Amerika“, wie er in Interviews stolz erzählt. Und er greift ins Volle. Mit seinem Kameramann Matthew Libatique hat er die Szenen ins schöne Art Deco gesetzt, was dem Film trotz aller Turbulenzen der Handlung wohlige innere Ruhe gibt.
Lee spielt nicht nur burlesk mit Bildern und Motiven, sondern auch mit Klischees. Wie sehr auch die Zuschauerin darauf reinfällt, merkt sie mit Glück spätestens ganz am Schluss, wenn die schwarze Limousine vorfahren wird. In der Bank haben wir zum Beispiel den Rabbi, typisch weltfremd und etwas derangiert. Dann gestikuliert da die laszive schwarzhaarige Frau, laut und heftig, die Augen rollend am Mobiltelefon, deren voluminöses Dekolleté nicht nur den jungen Japaner tief beeindruckt. Ist das nicht die typisch junge jüdische New Yorkerin der absinkenden Mittelklasse aus Brooklyn? Devot kommt ein schwarzer Sicherheitsmann der Bank auf sie zu, mahnt sie zum Dämpfen ihrer Stimme an. Derweil sind die „Gangster“ bereits in aller Ruhe in Aktion, haben die Kameras abgeschaltet und geben nun die Bankräuber. Als alle ihre neoliberalen Spielzeuge, die Mobiltelefone abgeben müssen, will ein waschechter weißer Banker schlauer sein. Na klar doch, den führt Lee mit Lust als ausgemachten Angsthasen vor. Dann müssen sich alle bis auf die Unterwäsche ausziehen, um bald darauf in weiß-graue Overalls zu schlüpfen und Mundmasken aufzusetzen. Unschwer erkennen wir darin Anspielung auf Abu Ghraib und Guantanamo. Fast alle fügen sich, nur eine ältere jüdische Frau wehrt sich, wie es scheint aus Scham, wird daraufhin abrupt angefasst. Auch sie werden wir ganz am Schluss wiedersehen.

Wer könnte mit dem schwarzen Macho-Kult, dieser klassischen Kompensation sozialer und politischer Erniedrigung, besser spielen und dann auch noch den New Yorker Cop Keith Frazier so brillant geben, wie Denziel Washington? In den ironischen Anspielungen auf die Hypersexualität lässt John Shaft grüßen. Aber Frazier ist auch im System von Korruption und Rassismus verfangen, verwechselt schon mal abschätzig Armenier mit Albanern. Zu Höchstform läuft das Mannsbild auf, wenn er der stahlblonden Madeleine White, vorzüglich von Jodi Foster im Chanel Kostüm und High Heels dargestellt, die von ihm erwartete Unterwürfigkeit verweigert. Ms White, bezahlt vom Besitzer der Bank, Mr. Case, setzt sich dann zwar mit Hilfe des Bürgermeisters über die Polizei hinweg und verhandelt mit dem „Gangster“ Dalton Russell direkt. Die Lobbyistin und Intrigantin tut für Geld alles, vielleicht aber auch nur fast alles. Beiläufig erwähnt sie, nur bei Kapitalverbrechen würde sie nicht mitmachen. Durch sie wird der Zuschauerin bald klar, warum der „Inside Man“, Dalton Russell, den Überfall inszeniert, aber komischerweise überhaupt kein Interesse an den Banknoten zeigt, die irgendwann einfach nur so herumfliegen. Der Ziel der Operation ist ein ganz anderes: das geheime Schließfach von Mr. Case. Mit rücksichtloser Gier hat sich Case nämlich als junger Mann in Nazi Deutschland mit Diamanten und Geld von Juden versorgt, sie dann kaltblütig ihrem Schicksal überlassen: den Gaskammern von Auschwitz. „Wenn Blut auf den Strassen fließt, kaufen sie so viel sie können“, lässt Lee einen alten Spruch von Rothschild zwei Mal zitieren. Dieser Case ist also der eigentliche Gangster. Die Diamanten existieren noch, auch Dokumente über den Deal mit den Mördern. Unschwer ist die historische Anspielung zu erkennen: Auch der Großvater von George W. Bush hat von der Ermordung europäischer Juden profitiert, so das Familienvermögen erheblich vergrößert. Bilder der Bush Familie sind dann auch schemenhaft im Zimmer von Case zu sehen.
Allerlei weitere Verwicklungen folgen, mit vielen weiteren Anspielungen auf das pralle Leben, vieles geradezu liebevoll in spielerische Ironie verwoben. Zwei Nebenfiguren haben Lees vollste Anwaltschaft: Da ist der Sikh, ein Angestellter der Bank. Kurz nachdem ihn die „Gangster“ vor die Tür der Bank setzen, kommt ein Cop italienischer (natürlich!) Abstammung, behandelt ihn brutal, reißt ihm den Turban vom Kopf, schreit ihn mit „Fucking Arab“ an. Das lässt sich der schmächtige Mann nicht gefallen und verlangt auch von Frazier, bevor er überhaupt irgendeine Aussage machen will, ihm den Turban zurück zu bringen. „Erst schlagt ihr mich und dann wollt ihr meine Hilfe. Was ist mit meinen Bürgerrechten?“ Und Spike Lee kann es nicht lassen, als realer Vater durch sein Medium, den „Inside Man“ zu sprechen. Da ist Brian, nach eigenen Angaben „acht drei Viertel“ Jahre alt. Brian muss in keinen Overall schlüpfen und findet das Ganze sowieso tierisch cool, ist voller Neugierde dabei, mampft zwischendurch genüsslich seine Pizza. Der Chef-„Gangster“ begutachtet schließlich seinen Game Boy und ist schlicht entsetzt über das scheußliches Video, was der Kleine drauf hat: „Kill that Nigga“. Im Ton des liebreizenden Mini-Machos mit Babyspeck erklärt er dem „Gangster“, das Leben sei eben so: „wie bei 50 Cent: ‚Get Rich Or Die’“ und drückt auf die Taste, worauf ein „Gangsta“ auf dem kleinen Bildschirm blutüberströmt zusammen bricht. Ein paar strenge Blicke, wenige Worte und der Lütte kapiert, dieses Spiel ist überhaupt nicht sexy. Lee inszeniert hier eine seiner Lieblingsobsessionen: er geißelt den Verrat der schwarzen Musik durch den Gangsta Rap, für Thrill und Gier des weißen Mannes. Diese kleine Szene wird zur Parabel auf den Selbsthass von Teilen der schwarzen Bevölkerung, die sich sogar ihre Kultur enteignen lassen, deren „Idole“ sich dann in den Medien als „Gangsta“ und Sexualobjekte für perverse Begierden vorführen lassen.

Überhaupt thematisiert der Film im Subtext, wie immer bei Lee, viel den Umgang mit der eigenen Entwürdigung durch Konsum und Medien, aus denen Gangstersyndikate ebenfalls Profit ziehen. Auch so werden Menschen im mehrfachen Sinne zu Geiseln. Wer nun im Inneren der Bank Geisel und wer „Gangster“ ist, wer gibt, wer spielt, wer leidet, ist bald völlig unklar und egal, immer unschärfer werden die Konturen. Schließlich landen bis auf „Inside Man“, der noch viele Tage im Inneren mit den wertvollen Dokumenten verbleiben wird, alle vor der Bank. Alle werden zu Boden geworfen, alle mit den weißen Plastikbändern gefesselt, die New Yorker Cops seit einigen Jahren bei Demonstrationen im Dutzend an ihren Hosen tragen. Weiß ist zur Farbe brutaler staatlicher Gewalt geworden, in New York und in Guantanamo. Alle werden schließlich entwürdigt in Stadtbussen abtransportiert, ähnlich wie Demonstrierende gegen Bush im Sommer 2004, unter denen, genau wie im Film, ebenfalls auch ältere Menschen waren. Die Bürgerrechte verlieren sie vorübergehend alle, jede Person wird stundenlang in leeren Räumen verhört. Anders als der völlig resignierte Woody Allan, der in „Match Point“ das Verbrechen in Anbetracht der zynischen Macht nicht einmal mehr sühnt, lässt sich Spike Lee die Hoffnung in die Moral der Menschen nicht nehmen. Auch er hat natürlich keinen Zweifel daran, wie sehr nicht nur die 500 Reichsten, die er auch hier nicht unerwähnt lässt, in Form legalisierter Verbrechen zu allem fähig sind: wie Case verdienen sie besonders gut, wenn Blut fließt, – so wie derzeit im Irak.

Eine gute Woche später steht die schwarze Limousine vor der Bank. Drinnen sitzen der Rabbi, die alte Frau, die schrille junge Frau, der eine weibliche „Gangster“, beide offensichtlich Schwestern, alle aus Brooklyn. Innen herrscht normale Geschäftigkeit. Wir sehen wie der „Gangster“ Dalton Russell, der sich in der Bank eingemauert hatte, nun in Freizeitkleidung durch die Menge in der Schalterhalle spaziert, auf den Ausgang zu. Dabei rempelt er noch mal kurz Frazier an, lässt ihm was in die Jackentasche gleiten. Dann steigt er draußen ins Auto, in die „Gangster“ Limousine. Und auf geht es nach Brooklyn. Die Helden dieses Films: eine jüdische Familie, die wahrscheinlich viele Angehörige im Holocaust verloren hat. Nun ist es an Frazier, ob er sich als Cop weiter schmieren lässt, beispielsweise durch die eben erhaltene Beförderung oder ob er weiter ermittelt, nämlich gegen die Kriegsverbrechen von Case. Wie die Stahlblonde reagieren wird, ob sie bei ihrer Geschäftsmoral bleibt, lässt Lee offen.

Zwischen Lee und Müller besteht die Hoffnung betreffend jedoch ein sehr gravierender Unterschied. Für Lee ist die Verfassung der Vereinigten Staaten die Druckerschwärze nicht wert: „Für uns gibt es keine Demokratie. Nur Scheinheiligkeit.“ Demgegenüber bleibt Müller ein in der Wolle gewirkter Verfassungspatriot. Und wir hoffen mit ihm, wirklich noch über mehr Substanz demokratischer Strukturen zu verfügen, obwohl mehr als Zweifel angebracht sind. Auch bei uns droht jegliche geschichtliche und moralische Erdung verloren zu gehen. In einem dreisten Coup wurde beispielsweise Horst Köhler als Bundespräsident in die erste Reihe der tumben Truppe katapultiert. Im Jahr 2000 bereits war er von seinem Gönner Gerhard Schröder als Direktor in den IWF gehievt worden, direkt in die Kommandozentrale des internationalen Kapitals, wo er direkt für die Verelendungsprozesse in den armen Ländern mit verantwortlich war. Zynischer kann die Missachtung der Bevölkerung, die von diesem Herren vor seiner „Wahl“ kaum etwas gehört hatte, nicht ausfallen. Als Dank dafür lobt Köhler unermüdlich bis heute Schröders „Jahrhundertwerk Agenda 2010“ und fordert, wie auf einer Platte mit Sprung „weitere Reformen“, im Sinne des Kapitals natürlich, immer und immer wieder. Mit Ausnahme des Hau-Ruck Mannes, Roman Herzog Mitte der neunziger Jahre, hat kein anderer in diesem Amt Sorgen und Nöte der Menschen derart verhöhnt. Er ist der „höchste Repräsentant der neoliberalen Bewegung in Deutschland“, stellt Müller fest. Selten hat ein Mann die innere Leere neoliberalen Wahns so prominent vertreten. Was für ein Vorbild für unsere Jugend! Kämen jungen Leute doch nur vermehrt auf die Idee, sich auf der webside www.bundespraesident.de dessen Mantren „in einem Guss“ runterzuladen. Sie könnten ihre Empörung über leitkulturellen Sprach- und Denk- und Moralverfall nähren und endlich die gesunde Wut entwickeln, die eine Demokratie als Lebenselixier braucht. Die letzten Reste unserer demokratischen Kultur sind durch solche „Repräsentanten“ in höchstem Maße gefährdet.

Müller fragt schließlich: sind die Eliten „Dumm, arglos oder korrupt?“ Alles trifft zu. Aber in erster Linie sind sie politisch und ethisch völlig verwahrlost. „Es geht darum, den Menschen wieder Mut zu machen und ihnen Sicherheit zu vermitteln … Die Politik ist nicht dazu da, die Menschen zu verunsichern, die Politik ist dazu da, für eine hoffnungsvolle Zukunft der Bürgerinnen und Bürger zu sorgen.“, schreibt Müller. „Der Fisch stinkt vom Kopf“, das war in der Geschichte des Kapitalismus selten anders. Aber nun ist der Gestank weltweit unerträglich geworden. Doch neue Kraft kam in der Geschichte immer und ausschließlich von unten. „Uns trennt nichts vom Paradies als unsere Angst“, sang Rio Reiser in den wilden siebziger Jahren. Hören wir dazu noch mal kurz einem Lee’schen Hoffnungsträger von heute zu: Irgendwann fragt Frazier den kleinen schwarzen Jungen, ob er denn während der ganzen „Geiselnahme“ Angst gehabt habe: „Nee“, antwortet Brian, ohne Nachdenken aber schon allein über die Frage ist er eigentlich ziemlich entrüstet: „Ich bin doch aus Brooklyn!“. Frazier, der auch von dort kommt, antwortet: „Gut Mr. Brooklyn“.
Am Schluss haut Lee noch mal mit “Chaiyya Chaiyya“ rein, diesmal in einer Rap Vision noch mal richtig scharf gemacht, schön voll im Sound, damit der ganze Körper vibriert. Das ist pure Kraft gegen die Angst, könnte sogar dröge Deutsche in ihren Verhältnissen zum Tanzen bringen. Vielleicht auf einer der nächsten Massendemonstrationen gegen unsere korrupten Eliten? Und wir bräuchten einfach auch mehr „Gangster“: Geistes – „Gangster“, Kultur-„Gangster“, Politik-„Gangster“, „Gangster“ für den uneingeschränkten und wieder auszubauenden Sozialstaat, „Gangster“ für einen demokratischen Humanismus. Also kurzum, „Gangster“, die einfach überall den korrupten Eliten und echten Gangstern das Handwerk legen – Geschlecht gern weiblich und möglichst viel davon. Innerlich stark machen können wir uns derweil bei unserem „Inside Man“ und seiner Philippika „Machtwahn“. Und dann nie mehr die Wut runterschlucken! Versprochen? Überall auf der Welt wehren sich Menschen wieder kollektiv und konstruktiv, unter oft sehr viel erbärmlicheren Bedingungen. Sie scheinen mehr Mut zu haben.


Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/

Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=1116