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Titel: Die nicht gewollte Friedenschance von Istanbul im Frühjahr 2022 – Teil 2
Datum: 14. Februar 2024 um 9:10 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
Der Krieg in der Ukraine hält an. Eine Verhandlungslösung scheint in weiter Ferne, vor allem, seit der Kiewer Präsident Wolodymyr Selenskyj im Herbst 2022 Verhandlungen mit Russlands Präsident Wladimir Putin per Dekret verboten hat. Dabei hat es Berichten nach bereits im März 2022 eine echte Chance auf ein Ende der Kampfhandlungen gegeben. Zahlreiche Beiträge beschäftigen sich inzwischen damit. Eine „profunde Analyse“ des Historikers Klaus Bachmann hat unlängst versucht zu zeigen, dass hinter den ukrainisch-russischen Verhandlungen Ende März 2022 in Istanbul weniger steckte, als viele hineindeuten würden. Das gelte auch für das Scheitern der Verhandlungen und dessen Gründe. Um es vorwegzunehmen: Von der „profunden Analyse“ bleibt am Ende der Eindruck, dass sie – wenn überhaupt – nicht mehr ist als eine „kleine Nachforschung“, wie er sie selbst nennt. Hier die Fortsetzung einer Entgegnung aufgrund umfangreicher Recherchen von Tilo Gräser. Den ersten Teil können sie hier nachlesen.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Im ersten Teil konnte nur ein Ausschnitt des historischen Kontextes wiedergegeben werden. Der Historiker Klaus Bachmann wirft in seinem Beitrag in der Berliner Zeitung anderen vor, was er selbst macht. Das trifft auch für die Passage seines Texts zu, in dem er sich über die Sicherheitsgarantien für die Ukraine auslässt, um die es bei den Verhandlungen in Istanbul unter anderem ging. Es ist fast nicht zu glauben, dass er es nicht besser weiß als er da beschreibt:
„Warum sollte die Ukraine also im März 2022 über Sicherheitsgarantien verhandeln, wenn sie die seit dem Budapester Memorandum schon längst hatte – von den USA, Frankreich, Großbritannien und Russland? Und warum sollte sie so etwas wollen, wenn es ihr zweimal – 2014 und im Februar 2022 – nicht das Geringste geholfen hat? …“
Die Frage haben die ukrainischen Verhandler schon bei den Verhandlungen im März 2022 selbst beantwortet, indem sie diese Sicherheitsgarantien mit den unterschiedlichen Garantiemächten, einschließlich Russland, vorschlugen. Das kam mitnichten aus der „Giftküche“ des russischen Außenministers Sergej Lawrow, den Bachmann als Urheber sieht und dem er Kontrollgelüste unterstellt. Dagegen hat unter anderem das Kiewer Präsidialamt am 29. März 2022 erklärt[1], was es mit den Sicherheitsgarantien auf sich hat. Die sollten danach Teil eines „neuen Systems von Sicherheitsgarantien für die Ukraine“ sein, welches es vorher so nicht gab. „Wir bestehen darauf, dass dies ein internationaler Vertrag sein muss, der von allen Ländern unterzeichnet wurde – Garanten der Sicherheit –, der ratifiziert wird, um den Fehler, der einmal im Budapester Memorandum [von 1994] enthalten war, nicht zu wiederholen“, so Delegationsleiter Arachamyia damals. Der vorgeschlagene Mechanismus, auf den hier nicht weiter eingegangen werden und der nachgelesen werden kann, sollte „noch klarer“ als die Beistandsgarantie in Artikel 5 des NATO-Gründungsvertrages von 1949 sein.
Der erwähnte ukrainische Diplomat Chalyi sagte damals laut Kiewer Präsidialamt, mit diesen Garantien „wird die Ukraine in der Lage sein, den gegenwärtigen Status eines bündnisfreien und atomwaffenfreien Staates der ständigen Neutralität tatsächlich zu festigen. Dies ist bereits historisch in unserer am 16. Juli 1990 verabschiedeten Erklärung zur staatlichen Souveränität verankert.“ Die Ukraine werde sich verpflichten, „keine ausländischen Militärstützpunkte und keine ausländischen Militärkontingente auf ihrem Territorium zu stationieren, keinen militärisch-politischen Bündnissen beizutreten und militärische Übungen auf dem Territorium der Ukraine nur mit der Zustimmung der Garantiegeberländer durchzuführen“. Kiew hatte demnach bereits Kontakt mit allen gewünschten Garantiestaaten aufgenommen, die zu multilateralen Verhandlungen eingeladen werden sollten. Auch Bachmanns Fragen zu dem vorgeschlagenen Procedere für einen solchen internationalen Sicherheitsvertrag, einschließlich eines Referendums in der Ukraine, muss er der ukrainischen Seite stellen – oder in den damaligen Erklärungen der Kiewer Verhandler nachlesen, anstatt irgendwelche kruden Vermutungen zu verkünden wie jene: Auf die Idee, das Abstimmungsergebnis eines solchen Referendums kontrollieren zu wollen, „kann nur ein Politiker kommen, in dessen Land die Regierung seit jeher Entscheidungsprozesse so manipulieren kann, dass das Ergebnis schon vorher feststeht – wie bei russischen Referenden, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen“.
Wie sich die Kiewer Seite das konkret vorgestellt hatte, hatte Präsidentenberater Michailo Podolyak am 29. März 2022 beschrieben.[2] Podolyak erklärte[3] damals auch den Vorschlag der ukrainischen Führung, die Regelungen zur Krim und zum Donbass durch bilaterale Gespräche über mehrere Jahre zu klären. Bei der Krim wurde von 15 Jahren gesprochen und davon, „dass die Ukraine und Russland in diesem Zeitraum keine militärischen oder bewaffneten Kräfte zur Lösung der Krim-Frage einsetzen werden“. Bachmann sieht heute darin nur eine „Einladung dazu, militärisch Fakten zu schaffen“. Warum sollte Kiew das damals gewollt haben? Der Historiker führt vor, wovon er selbst schreibt: „Sehr viel hängt davon ab, welche Absichten man den Beteiligten dabei unterstellt.“ Und: „Was der vorgefassten Interpretation widerspricht oder keinen Sinn ergibt, fällt unter den Tisch.“ Gehört der Historiker, der an einer polnischen Universität arbeitet, zu jenen, die partout nicht glauben können, dass die Russen Frieden wollten und wollen?
Wollte die Ukraine gar nicht in die NATO?
Bachmann behauptet in seinem Text auch: „Der am heftigsten debattierte Aspekt, der in allen Versionen des Entwurfs vorkommt, ist gleichzeitig der am wenigsten relevante. Er betrifft eine Art Tauschgeschäft: Die Ukraine verzichtet auf eine Nato-Mitgliedschaft, wird neutral und erhält dafür Garantien von mehreren westlichen Atom- und Nichtatomwaffenstaaten, einschließlich Russlands. Mit anderen Worten: Im Austausch für etwas, was sie bis dahin gar nicht wollte (Nato-Mitgliedschaft), hätte die Ukraine etwas bekommen, was sie schon lange hatte (Sicherheitsgarantien), was ihr aber seit 2014 keinerlei Nutzen gebracht hat.“ Dass die Ukraine gar nicht NATO-Mitglied werden wollte, diese Behauptung des Historikers widerspricht allen historischen Tatsachen. Das Angebot auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 an Kiew, dem westlichen Militärbündnis beizutreten, ist bekannt. Es kam vor allem aus den USA und wurde den Berichten nach durch den Einspruch aus Paris und Berlin nicht konkret, sondern nur allgemein für die Zukunft formuliert[4]. 15 Jahre später wurde das der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Vorwurf gemacht[5].
Dazu gehört, dass ukrainische Politiker schon seit Ende der 1990er-Jahre das Land in der NATO sehen wollten, auch wenn Umfragen nach eine Bevölkerungsmehrheit lange Zeit dagegen war[6]. Bereits 2002 hatte der ukrainische Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat unter dem damaligen Präsidenten Leonid Kutschma in der Militärdoktrin des Landes das Ziel der NATO-Mitgliedschaft benannt.[7] Eine spätere Korrektur durch Kutschma war Beobachtern zufolge nur innenpolitischen Problemen geschuldet. Ex-General Kujat, von 2002 bis 2005 Vorsitzender der NATO-Ukraine-Kommission, berichtete in einem Gespräch, er sei damals bei jedem Besuch in Kiew von Kutschma gefragt worden: „Wann kommen wir denn jetzt endlich in die NATO? Unsere Armee tut doch alles, was sie sagen.“ Unter dem nächsten Präsidenten Wiktor Juschtschenko (2005 bis 2010 im Amt) wurde der Beitritt zur NATO noch intensiver verfolgt.[8] Das Ziel wurde auch nach dem NATO-Gipfel 2008 weiter beibehalten.[9] Nachfolger Wiktor Janukowitsch galt dagegen als NATO-Gegner[10] – und wurde im Februar 2014 per Staatsstreich aus dem Amt gefegt[11]. Von den so an die Macht gekommenen Kräften wurde das Ziel des NATO-Beitritts wieder neu verfolgt.[12] Im Februar 2019 wurde es sogar in die ukrainische Verfassung aufgenommen.[13]
Von Beginn an hat Moskau vor den Folgen gewarnt und alles versucht, um eine Einbeziehung der Ukraine in die NATO, ob formal oder durch Fakten wie die enge militärische Zusammenarbeit, zu verhindern. Laut Kujat handelt es sich dabei um den Kern der Auseinandersetzung, die zum Krieg ausgeweitet wurde. In einem Interview mit der Luzerner Zeitung, das einen Tag vor dem russischen Einmarsch am 24. Februar 2022 erschien[14], wies der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur darauf hin und sagte: „Eine Nato-Mitgliedschaft würde aus russischer Sicht das strategische Gleichgewicht zum Nachteil Russlands verändern. Wenn die Nato gegenüber Russland schriftlich erklären würde, dass sie nicht die Absicht hat, die Ukraine als Mitglied einzuladen, wäre die Tür für weitere Verhandlungen geöffnet.“
Dabei hätte die Krise um die Ukraine bereits vor dem Übergang in den bewaffneten Konflikt ab 24. Februar 2022 vermieden werden können. Darauf hatte der ehemalige US-Botschafter in der Sowjetunion James Matlock in einem am 15. Februar 2022 veröffentlichten Text hingewiesen[15]: „Nun, da die Hauptforderung von Präsident Putin die Zusicherung ist, dass die NATO keine weiteren Mitglieder aufnehmen wird, insbesondere nicht die Ukraine oder Georgien, hätte es offensichtlich keine Grundlage für die gegenwärtige Krise gegeben, wenn es nach dem Ende des Kalten Krieges keine Erweiterung des Bündnisses gegeben hätte, oder wenn die Erweiterung im Einklang mit dem Aufbau einer Sicherheitsstruktur in Europa erfolgt wäre, die Russland einschließt.“ Matlock hatte 1997 in einer Anhörung vor dem zuständigen Ausschuss des US-Senats vor den Folgen der NATO-Osterweiterung als „größtem strategischen Fehler seit Ende des Kalten Krieges“ gewarnt. In seinem Beitrag beschrieb der ehemalige US-Diplomat, wie führende Kreise in Washington die russischen Sicherheitsinteressen jahrzehntelang ignorierten, bis hin zur Einmischung in Syrien und in der Ukraine.
Erinnert sei in dem Zusammenhang noch an das von Wikileaks veröffentlichte Telegramm (Cable) vom 1. Februar 2008[16], welches der damalige US-Botschafter in Russland (und heutige CIA-Direktor) William Burns nach Washington schickte. Er informierte darin über das „Njet means Njet“, also das klare Nein der russischen Führung zu den US-Plänen, die Ukraine und Georgien in die NATO zu holen. Russlands Außenminister Sergej Lawrow habe wie andere hochrangige russische Regierungsvertreter klargemacht, dass Moskau das Vorhaben strikt ablehnt. Die NATO-Erweiterung, insbesondere auf die Ukraine, bleibe für Russland ein „emotionales und neuralgisches“ Thema.
Aber auch strategisch-politische Erwägungen würden dem starken Widerstand gegen die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens zugrunde liegen, übermittelte Burns damals. Und aus heutiger Sicht prophetisch: Im Fall der Ukraine werde befürchtet, dass das Thema das Land möglicherweise in zwei Hälften spalten könnte, was zu Gewalt oder sogar aus Sicht einiger zu einem Bürgerkrieg führen könnte, was Russland zwingen würde, über ein Eingreifen zu entscheiden. Das war 2008. Auch dieses Problem sollte 14 Jahre später endlich mit den Vereinbarungen von Istanbul im beiderseitigen Interesse geklärt werden, wie die oben erwähnten Aussagen der Kiewer Verhandlungsführer zeigen – doch das wurde verhindert.
Der US-Politologe Charap von der Rand-Corporation hatte im Juni 2022 nicht nur erklärt[17], dass die Ukraine tatsächlich den Beitritt zur NATO anstrebte. Er beschrieb das von Bachmann als am „wenigsten relevant“ bezeichnete Tauschgeschäft – Verzicht auf NATO-Mitgliedschaft für grundlegend neue Sicherheitsgarantien – als den Kern des Vorschlags aus Kiew. Charap vermutete:
„Vielleicht liegt es an seiner Neuheit, dass die Bedeutung des Istanbuler Vorschlags in vielen westlichen Hauptstädten, in denen Sicherheitsgarantien zum Synonym für Bündnisverträge geworden sind, noch nicht erkannt wurde. Im Gegensatz zu einem Bündnis, das enge Partner zur gemeinsamen Verteidigung, in der Regel gegen einen potenziellen Feind, vereint, sieht der Vorschlag vor, dass geopolitische Rivalen die langfristige Sicherheit der Ukraine gemeinsam und außerhalb einer Bündnisstruktur garantieren – und dies trotz des laufenden Angriffskrieges eines der Rivalen gegen die Ukraine.“ Und er stellte fest: „Wenn die Ukraine die dauerhafte Neutralität akzeptiert, wie es der Plan vorsieht, hätte Russland kein Interesse daran, sie anzugreifen.“
Eine angeblich diffuse und „vollkommen unklare“ Quellenlage
Historiker Bachmann meint, die Quellenlage sei „vollkommen unklar“. Dabei hätte er nur genauer hinsehen müssen. Das gilt auch für seine Aussage: „Der gemeinsame Kern der verschiedenen Versionen des Istanbuler Entwurfs, die in der Öffentlichkeit kursieren, ist zu dünn für ein Waffenstillstandsabkommen, von einem Friedensvertrag gar nicht zu reden.“ Alle Aussagen zu den Verhandlungen, insbesondere die der ukrainischen Teilnehmer, belegen, dass der Kern ziemlich dick war und eine Vereinbarung für einen Weg zum Frieden ziemlich nahe schien. Dazu gehören auch die Aussagen Selenskyjs vom 28. März 2022[18], dass er die mögliche ukrainische Neutralität „gründlich prüfen“ wolle. Im Interview mit unabhängigen russischen Medien hatte er unter anderem erklärt[19]:
„Der vierte Punkt ist eine Sicherheitsgarantie und Neutralität, ein Versprechen, unseren nichtnuklearen Status aufrechtzuerhalten. Wir sind dazu bereit. Das ist der Hauptpunkt. Soweit ich mich erinnere, war es das Hauptproblem der Russischen Föderation.“
Selenskyj sagte dazu auch: „Es ist sehr weit entwickelt, aber es ist mir wichtig, dass es nicht nur ein weiteres Papier wie das Budapester Memorandum oder so wird.“ Entsprechend wurde der Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft und die Neutralität in Istanbul von den Kiewer Vertretern vorgeschlagen[20]. Der erwähnte Ex-Präsidentenberater Arestowytsch hatte schon Mitte März 2022 nach den ersten Verhandlungen erklärt[21]: „Ich denke, wir sollten bis Mai, Anfang Mai, ein Friedensabkommen haben, vielleicht viel früher, wir werden sehen.“
Es bleibt: Damit hätte das Ausweiten der „Militärischen Spezialoperation“ Russlands, um die es sich bis dahin tatsächlich handelte, zu einem veritablen Krieg verhindert werden können. Hunderttausende Soldaten, die seitdem verwundet und getötet wurden, hätten davor bewahrt werden können, ebenso die zivilen Opfer auf beiden Seiten, die Zerstörungen, das angerichtete Leid. Doch was möglich war, war nicht gewollt, siehe oben.
„Kein Kriegsende, bis eine Kriegspartei zusammenbricht“
Ein letzter Punkt in dem Bachmann-Text, auf den hier eingegangen werden soll, ist seine Aussage, eine Friedenslösung gebe es erst, wenn „eine der Kriegsparteien zusammenbricht, etwa so wie das Deutsche Reich 1918“. Er erklärt damit alle die Versuche und Vorschläge, den Krieg in der Ukraine so bald wie möglich zu beenden, für von vornherein ergebnis- und sinnlos. Was ihn dazu bewegt, kann nur vermutet werden, was aber an dieser Stelle nicht geschehen soll.
Es bleibt nur der Hinweis auf einige Aussagen sachkundiger Experten verschiedener Herkunft zum Thema. US-Ökonom Sachs schrieb[22]:
„Die einzige Möglichkeit, die Ukraine zu retten, ist ein Frieden auf dem Verhandlungsweg. Bei einer Verhandlungslösung würden die USA zustimmen, dass die NATO sich nicht auf die Ukraine ausdehnt, während Russland sich bereit erklären würde, seine Truppen abzuziehen. Die verbleibenden Fragen – Krim, Donbass, Sanktionen der USA und Europas, die Zukunft der europäischen Sicherheitsvereinbarungen – würden auf politischem Wege und nicht durch einen endlosen Krieg gelöst.“ Und er fügte hinzu: „Russland hat wiederholt versucht, zu verhandeln: um die Osterweiterung der NATO zu verhindern; um geeignete Sicherheitsvereinbarungen mit den USA und Europa zu finden; um die interethnischen Fragen in der Ukraine nach 2014 zu regeln (die Abkommen Minsk I und Minsk II); um eine Begrenzung der Raketenabwehr aufrechtzuerhalten; und um zu versuchen, den Krieg in der Ukraine 2022 durch direkte Verhandlungen mit der Ukraine zu beenden. In allen Fällen hat die US-Regierung diese Versuche verschmäht, ignoriert oder blockiert und oft die große Lüge verbreitet, dass Russland und nicht die USA Verhandlungen ablehnen.“
Der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur Kujat, der auch Vorsitzender des NATO-Militärausschusses war und die Vorgänge um die NATO-Osterweiterung kennt, hatte im August 2023 gemeinsam mit dem ehemaligen Kanzlerberater Horst Teltschik, dem Historiker Peter Brandt und dem Politikwissenschaftler Hajo Funke einen Vorschlag für einen Verhandlungsfrieden vorgelegt.[23] Der basierte auf dem bekannt gewordenen Zehn-Punkte-Plan Kiews für die Verhandlungen in Istanbul im Frühjahr 2022. Sie stellten dabei unter anderem fest: „Je länger der Krieg dauert, desto grösser werden die ukrainischen Verluste und die Zerstörung des Landes, und desto schwieriger wird es, einen gerechten und dauerhaften Verhandlungsfrieden zu erreichen, der auch den Staaten Sicherheit gibt, die an der Seite der Ukraine stehen.“ Sie schrieben, „es wäre vor allem im Interesse der Ukraine, so bald wie möglich einen Waffenstillstand anzustreben, der die Tür für Friedensverhandlungen öffnet. Es liegt gleichermaßen im Interesse der europäischen Staaten, die die Ukraine vorbehaltlos, aber ohne eine erkennbare Strategie unterstützen. Denn aufgrund der zunehmenden Abnutzung der ukrainischen Streitkräfte wächst das Risiko, dass der Krieg in der Ukraine zu einem europäischen Krieg um die Ukraine eskaliert.“ Die vier Persönlichkeiten wiesen auch auf die russische Verhandlungsbereitschaft hin: „Putin war zu Verhandlungen mit der Ukraine bereit und ist es sicherlich noch – dies immer unter der Voraussetzung, dass Verhandlungen auch von der Gegenseite – also der amerikanischen, ukrainischen und westlichen Seite – gewollt werden. Hierzu hat Putin sich mehrfach positiv geäußert.“ Und sie schrieben auch: „Der Krieg hätte verhindert werden können, hätte der Westen einen neutralen Status der Ukraine akzeptiert – wozu Selenskyj anfangs durchaus bereit war –, auf eine Nato-Mitgliedschaft verzichtet und das Minsk-II-Abkommen für Minderheitenrechte der russischsprachigen Bevölkerung durchgesetzt. Der Krieg hätte Anfang April 2022 beendet werden können, hätte der Westen den Abschluss der Istanbul-Verhandlungen zugelassen.“
In einem Interview mit dem Schweizer Magazin Zeitgeschehen im Fokus, veröffentlicht am 22. Dezember 2023[24], sagte Kujat, inzwischen seien die Ziele der Verhandlungen vom Frühjahr 2022 unrealistisch geworden. Das gelte auch für den eigenen Verhandlungsvorschlag. Beide Seiten hätten seitdem die Hürden für eine Verhandlungslösung erhöht. „Deshalb und insbesondere aufgrund der derzeitigen militärischen Lage sind die damaligen Rahmenbedingungen für einen ausgewogenen Interessenausgleich nicht mehr vollständig gegeben.“ Der Ex-Bundeswehr- und NATO-Offizier erklärte ebenso: „Ein Waffenstillstand ohne folgende Friedensverhandlungen bringt weder Frieden und Sicherheit für die Ukraine noch eine stabile europäische Friedens- und Sicherheitsordnung. Dass die Details einer Friedenslösung erst in den Verhandlungen geklärt werden können, versteht sich von selbst.“ Als „entscheidende Leitlinie für eine Friedenslösung und für die Vermeidung erneuter Spannungen um die Ukraine“ sieht Kujat an, was Henry Kissinger 2014 in einem Zeitungsbeitrag schrieb[25]: „Viel zu oft wird die Ukraine-Frage als Showdown dargestellt: ob die Ukraine sich dem Osten oder dem Westen anschließt. Aber wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorposten einer Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden fungieren.“
Doch das schien spätestens seit 2014 von den westlichen Paten der Kiewer Führung nie gewollt, vor allen jenen in Washington. Die ukrainischen Verhandlungsführer in Istanbul im Frühjahr 2022 hatten anscheinend die Rechnung ohne sie gemacht. Das gilt aber auch für die russische Seite. Der Auftritt Johnsons in Kiew am 9. April 2022 war nicht mehr und nicht weniger als eine passende Episode in dem blutigen Drama, in dem Hunderttausende Ukrainer ihr Leben für westliche Interessen lassen – bis heute.
Titelbild: Morrowind/shutterstock.com
[«1] president.gov.ua/en/news/na-peregovorah-iz-rosiyeyu-ukrayinska-delegaciya-oficijno-pr-73933
[«2] ukrinform.net/rubric-polytics/3443072-presidents-office-conclusion-of-security-agreement-will-require-referendum.html
[«3] ukrinform.net/rubric-ato/3443041-ukraine-offers-15year-talks-with-russia-on-status-of-crimea.html
[«4] spiegel.de/politik/ausland/gipfel-in-bukarest-nato-verspricht-georgien-und-ukraine-aufnahme-in-ferner-zukunft-russland-wuetend-a-545145.html
[«5] spiegel.de/panorama/ukraine-wie-angela-merkel-2008-den-nato-beitritt-verhinderte-spiegel-rekonstruktion-a-f8c94810-17c8-4533-be5c-7fa08cdd23fc
[«6] dw.com/de/nato-spaltet-ukraine/a-3231758
[«7] kas.de/de/laenderberichte/detail/-/content/aussenpolitischer-kurswechsel-in-der-ukraine-
[«8] phoenix.de/nato-beitritt-fuer-die-uk-a-3186949.html
[«9] sueddeutsche.de/politik/interview-mit-viktor-juschtschenko-in-der-nato-wuerden-wir-uns-sicherer-fuehlen-1.184035
[«10] handelsblatt.com/politik/deutschland/viktor-janukowitsch-nato-gegner-gewinnt-ukrainische-praesidentenwahl/3364372.html
[«11] infosperber.ch/politik/welt/ukraine-chronik-der-westlichen-einmischung/
[«12] zeit.de/politik/ausland/2014-08/ukraine-nato-jazeniuk
[«13] handelsblatt.com/politik/international/russland-konflikt-ukraine-schreibt-beitritt-zur-eu-und-nato-als-ziel-in-die-verfassung/23960650.html
[«14] luzernerzeitung.ch/international/interview-ex-nato-general-setzt-auf-verhandlungen-kein-weg-ist-zu-weit-wenn-es-um-frieden-und-sicherheit-fuer-alle-in-europa-geht-ld.2254805
[«15] usrussiaaccord.org/acura-viewpoint-jack-f-matlock-jr-todays-crisis-over-ukraine/
[«16] wikileaks.org/plusd/cables/08MOSCOW265_a.html
[«17] foreignaffairs.com/articles/ukraine/2022-06-01/ukraines-best-chance-peace
[«18] spiegel.de/ausland/ukraine-krieg-selenskyj-stellt-neutralitaet-der-ukraine-in-aussicht-a-d55bc7af-faa2-4a04-9619-0fb0d4217c4f
[«19] meduza.io/en/feature/2022/03/28/it-s-not-just-a-war-it-s-much-worse
[«20] derstandard.de/story/2000134519730/kiews-angebot-an-moskau-neutralitaet-und-15-jaehrige-pruefpause-fuer
[«21] spiegel.de/ausland/ukraine-krieg-koennte-laut-berater-von-wolodymir-selenskyj-im-mai-vorbei-sein-a-afc4bdfd-1c96-4da5-97bf-9eefa2988c3a
[«22] thekennedybeacon.substack.com/p/the-real-history-of-the-war-in-ukraine?sd=pf
[«23] zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/sonderausgabe-vom-28-august-2023.html
[«24] zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-19-vom-22-dezember-2023.html#article_1615
[«25] ipg-journal.de/kommentar/artikel/henry-a-kissinger-eine-daemonisierung-putins-ist-keine-politik-298/
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
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