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Titel: Buchbesprechung: Daniel Cohen, Die Globalisierung zum Friedensprojekt machen

Datum: 7. September 2005 um 17:02 Uhr
Rubrik: Friedenspolitik, Globalisierung, Rezensionen, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Der sich selbst überlassene Kapitalismus führe ohne bewusste Steuerung durch die Politik nicht zu einem störungsfreien Wirtschaftswachstum und bringe auch keine sozialstaatlichen Strukturen und keine befriedigenden Ergebnisse im internationalen Warenaustausch hervor. Dieser These geht Daniel Cohen in einem historischen Rückblick von der frühen Phase der Globalisierung bis heute nach. Im Ergebnis fordert er die Politik dazu auf, unter Zugrundelegung von Menschenrechten und Demokratie über die UNO einen internationalen politischen Rahmen verbindlicher Standards zu entwickeln, der geeignet ist, dem Bedrohungsszenario Globalisierung eine gerechtere globale Wirtschaftsentwicklung als langfristiges Friedensprojekt entgegenzusetzen.
Gerhard Kilper hat für uns das bisher nur auf Französisch erschienene Buch “La mondialisation et ses ennemis” besprochen.

Daniel Cohen, La mondialisation et ses ennemis (Grasset-Verlag, Paris 2004, 263 Seiten)
Die Globalisierung zum Friedensprojekt machen
Politische Rahmenbedingungen für eine gerechtere globale Wirtschaftsentwicklung

Immanuel Kant formulierte als einziger Philosoph der Aufklärung in seiner Abhandlung Zum ewigen Frieden [1] die unabdingbar erforderlichen staatlich-institutionellen Voraussetzungen einer zugleich pazifizierten und gerechten Gesellschaft, sowie die notwendige Bedingungen für eine dauerhafte friedliche Koexistenz der Einzelstaaten.

In den Vier Mechanismen als Anhang seiner Schrift hob Kant die friedenssichernde Funktion eines den ganzen Globus umfassenden, internationalen Warenaustauschs hervor. Er verwies darauf, dass internationaler Warenaustausch grundsätzlich stabile Interdependenzen zwischen Staaten, Gesellschaften und Kulturen bewirken könne, die als wünschenswertes Komplement zum Grundrecht der Reise- und Handelsfreiheit anzusehen seien. Die wirtschaftlichen Verflechtungen könnten einen breiten Schub internationaler Kommunikation zwischen vielen Menschen unterschiedlicher Kulturen und Staaten auslösen, der friedenspolitisch als vertrauensbildende Maßnahme mit Multiplikator- und Langzeitwirkung anzusehen sei.

Ganz im Sinne dieses friedenspolitischen Grundansatzes diskutiert der Pariser Wirtschaftswissenschaftler Daniel Cohen in seinem Buch La mondialisation et ses ennemis, Paris 2004, inner- und zwischenstaatliche Bedingungen, sowie notwendige Inhalte der Satzungen supranationaler UNO-Organisationen, die heute notwendig erscheinen, um aus der verstärkten Globalisierung des beginnenden 21. Jahrhunderts ein nachhaltiges internationales Friedensprojekt zu machen.

Cohen geht vom gegebenen Sachverhalt aus, dass sich weltweit ein am effizienten betriebswirtschaftlichen Ressourceneinsatz orientiertes Wirtschaften nach dem Modell des westlichen Kapitalismus durchgesetzt hat. Er legt aber an Beispielen dar, dass – so wie der sich selbst überlassene Kapitalismus ohne bewusste Steuerung durch die Politik nicht zu einem störungsfreien Wirtschaftswachstums führe – der Kapitalismus ohne den aktiv eingreifenden Staat aus sich heraus auch keine sozialstaatlichen Strukturen und keine befriedigenden Ergebnisse im internationalen Warenaustausch hervorbringe. Er verweist darauf, dass es nach fast 100-jährigem Warenaustausch zwischen den privatisierten Volkswirtschaften Großbritanniens und Indiens dem Durchschnitts-Inder im Jahr 1913 nicht besser ging als zu Beginn dieses Freihandelsexperiments im Jahr 1820. Ein rigoros nach dem Ricardoschen Schema organisierter Freihandel des komparativen Vorteils, der keine Rücksicht auf fehlende demokratischen Standards und den Entwicklungsstand Indiens nahm, sowie die herrschende „öffentliche Meinung“ der indischen Eliten, Löhne könnten als „lästige Kosten“ nur Niedriglöhne sein – eine solche Wirtschafts- und Außenwirtschaftspolitik brachte den Indern auch nach fast 100 Jahren intensivem Warenaustausch mit der höchst entwickelten Volkswirtschaft der damaligen Welt überhaupt keine Verbesserungen ihres Lebensstandards.

Eine wesentliche wirtschaftspolitische Erkenntnis der Untersuchungen Cohens ist, dass nur ein an Menschenrechten und Demokratie orientierter innergesellschaftlicher Wertekonsens, der für angemessene Löhne entsprechend dem Wirtschaftswachstum sorgt, geeignet ist, nicht nur Motivation und Energien der Arbeitnehmer zu mobilisieren, sondern – über die Interdependenzen der Wirtschaftskreisläufe – auch die wirtschaftliche Dynamik einer ganzen Volkswirtschaft zu entfachen. Cohen verweist auf das klassische Kreislaufargument Henry Fords für hohe Löhne, der Lohnsteigerungen durch den technischen Fortschritt nicht nur nicht als echte Kostenbelastung für die Industrie-Unternehmen ansah, sondern – über die induzierte Verstetigung von Nachfrage und Absatz – als stabilisierenden Faktor der industriellen Produktion.

Cohen untermauert seine These unter Hinweis auf die säkulare Unterentwicklung der britischen Kolonie Südafrika, in der schwarzen Arbeitern von britischen Unternehmen wenn überhaupt, dann ganz geringe Lohnentgelte bezahlt wurden. Die wirtschaftliche Entwicklung Südafrikas misslang trotz kaum ins Gewicht fallender Lohnkosten, die Renditen britischer Unternehmen lagen aufgrund extrem niedriger Arbeitsproduktivität eher unter denen des Mutterlandes. Bei vergleichbarer wirtschaftlicher Ausgangssituation konnten dagegen andere ehemals britische Kolonien wie die USA, Australien, Kanada und Neuseeland über den Lohnhebel und seine psychologischen und materiellen Konsequenzen allgemeinen Wohlstand und Reichtum entwickeln. In diesen Ländern sorgten Gewerkschaften der zugewanderten Europäer, demokratischer Wertekonsens und öffentliche Meinung dafür, dass der Lohn nicht nur „seinen Mann ernährt“, sondern mit zunehmendem allgemeinem Wohlstand auch steigt. Trotz teilweise dominierender Agrar-Produktion erreichten die ehemals britischen Kolonien USA, Australien, Kanada und Neuseeland seither immer mit den höchsten Lebensstandard auf der Welt.

Starke Gewerkschaften in Verbindung mit dem Lohnhebel und dem von ihm induzierten Entwicklungsschub der Arbeitsproduktivität waren nach Cohen auch der Schlüssel für das rasche Wirtschaftswachstum europäischer Länder wie Schweden, Norwegen, Dänemark und Finnland, die als reine Agrar- und Rohstoffländer begannen und ihre spezifische Form eines industriellen Kapitalismus entwickelten. Konstitutiv für einen sozialverträglichen Kapitalismus sei neben einer steuernden Konjunkturpolitik die Einrichtung öffentlicher Institutionen des Bildungs- und Sozialwesens. Dieser Sektor müsse dem privaten Erwerbsstreben entzogen und dem Gemeinwohl verpflichtet werden.

Die endgültige Etablierung globaler Beziehungen begann für Cohen mit der Entdeckung Amerikas und der Eroberung der Welt durch die technologisch überlegenen Europäer seit dem 16. Jahrhundert. Dieser Ersten Globalisierung folgte im 19. Jahrhundert der von der Weltmacht Großbritannien ausgehende zweite Akt der Globalisierung mit Hilfe der neuen Kommunikations- und Transportmittel Telegraph, Telefon, Eisenbahn und Dampfschiff. Die Zweite Globalisierung war mit mehr als 100 Millionen umgesiedelter Menschen gleichzeitig die größte Völkerwanderung aller Zeiten.

Ziel wirtschaftlicher Entwicklung ist nach Cohen die Generierung individueller Freiheiten für alle Bürger einer Gesellschaft. Eine Verzahnung von Freiheit und Gleichheit aus dem kapitalistischen Wirtschaften heraus gebe es aber nicht, dafür habe der Gestaltungswille der Politik zu sorgen. Ganz grundsätzlich könne es materiell-wirtschaftlich Freiheit für jedes Individuum nur bei ausreichender materieller Versorgung geben und nur ausreichende Kaufkraft wiederum ermögliche es den Menschen, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und so leben zu können, wie sie wollen. Wirtschaftswachstum und Verteilungsgerechtigkeit gehörten daher wie der Sozialstaat zu den Fundamenten der Demokratie. Cohen zitiert seinen indischen Kollegen Amartya Sen, der die aktuelle Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU-Staaten scharf kritisiert, weil sie in fahrlässiger Art und Weise den Rückfall eines Teils ihrer Bevölkerung in Armut und damit in gesellschaftliche Unfreiheit in Kauf nehme.

Detailliert beschreibt Cohen Bedingungen und Gegebenheiten der Neuen Ökonomie und belegt mit Beispielen, dass der von Milton Friedman prophezeite Einstieg in die Wunderwelt stetiger wirtschaftlicher Entwicklung durch reine und vollständige Konkurrenz eine Illusion sei, weil sich nach der „Gründerzeit“ auch in diesem Sektor marktbeherrschende Quasimonopolisten herausbildeten und weil auch die Computertechnologie die Zukunft nicht vorhersehbar mache. Die neue Transparenz befördere eher Spekulationsblasen und damit das Auf und Ab der Konjunktur.

Im Kapitel Der Clash aufeinander treffender Zivilisationen belegt Cohen, dass es im Bereich Wirtschaft keinen ideologischen Sonderweg islamischer Länder gibt und dass regionale Gemeinsamkeiten den größten islamischen Staat Indonesien mit den Philippen, Thailand oder Südkorea mehr verbinden, als mit arabischen oder islamisch-schwarzafrikanischen Staaten. In seinen Ausführungen zu den Aufholversuchen der Dritte-Welt-Länder stellt Cohen das von den anderen Ländern kopierte japanische Erfolgsmodell des Lernens von Industrieländern unter Federführung und Mitwirkung des Staates vor und entwickelt seine eigene Theorie kumulativ wirkender Wachstumshebel (allgemeine und berufliche Bildung, Gesundheit und soziales Netz; Kapitalstock; erreichter Stand des technischen Fortschritts). Aus Beispielen des Misserfolgs afrikanischer und asiatischer Entwicklungspolitik schließt Cohen, dass sich diese Hebel nur im Rahmen
a) stabiler rechtsstaatlich-demokratischer Verhältnisse,
b) durch bewussten Gestaltungswillen der Politik,
c) durch simultane Entwicklung aller Wachstumshebel innerhalb jeder Volkswirtschaft
d) durch schnellen weltweiten Ausbau der erneuerbare Energien (angesichts des
Klimawandels bzw. des absehbaren Energieverbrauchs der beiden Neulinge China und Indien) und
e) durch gegenseitige, innovative Anstöße aller Volkswirtschaften über außenwirtschaftliche Kontakten optimal entwickeln können.

Der Freihandel könne allerdings, je nach Lage und Entwicklungsstand der austauschenden Volkswirtschaften oder Wirtschaftsgemeinschaften, durch angemessene Zoll- und Kontigentvereinbarungen eingeschränkt und reguliert werden. Im Bereich der Bildungs- und Gesundheitssysteme weist Cohen an Hand konkreter empirischer Ergebnisse auf den überlegenen Wachstumsimpuls egalitärer Systeme gegenüber hierarchischen Systemen hin. Im europäischen Vergleich sorgten die so konzipierten Bildungssysteme der skandinavischen Ländern, der Niederlande und Irlands mit für den höchsten Pro-Kopf/Lebensstandard dieser Länder. Die Unterschiede in den Bildungs- und Sozialsystemen erklären nach Cohen auch das schnellere Wachstum Chinas im Vergleich zu Indien (mit seinen 50% Analphabeten) und zu den südamerikanischen Ländern. Hierarchische Klassengesellschaften und das Fehlen eines für alle zugänglichen und leistungsfähigen öffentlichen Bildung- und Gesundheitswesens verhinderten speziell in Südamerika die Entwicklung großer menschlicher Potenziale an Können, Fähigkeiten und Fertigkeiten.

Im Vergleich USA – Europa beschreibt Cohen die säkulare Verschiebung des Schumpeterschen Wachstums. Das Europa der EU habe sich schwerpunktmäßig dem Smithschen Wachstum, der Effizienzerhöhung durch Rationalisierung und Sparen verschrieben und werde daher in den Bereichen Produktinnovation, Technikentwicklung und Wirtschaftswachstum auf dem zweiten Platz hinter den USA bleiben. Der von Brüssel dekretierte Haushalts-Sparzwang und die Fixierung der Europäischen Zentralbank bzw. der nationalen Notenbanken auf die Preisstabilität verhinderten in der EU größere Schumpeter-Innovationsschübe. Demgegenüber machten die USA vor, wie durch eine expansive Geldpolitik in Verbindung mit enormen staatlichen Subventionen für Forschungsprojekte der technologische Fortschritt durch die Politik bzw. den Staat planmäßig vorangetrieben werde.

Zur friedenspolitischen Absicherung der Globalisierung plädiert Cohen dafür, die Satzungen der UNO-Organisationen Weltbank, WTO und WHO strikt auf die in der UNO-Charta verankerten Menschenrechte und demokratischen Standards auszurichten. Diese UNO-Organisationen sollten darüber hinaus in die Lage versetzt werden, neutral und unabhängig von wirtschaftlichen und Machtinteressen einzelner Staaten oder Staatengruppen zu agieren. Er unterbreitet konkrete Vorschläge zur besseren Transparenz ihrer Arbeit, zur gegenseitigen Abstimmung bei konkreten Entwicklungs- und Hilfsprojekten und zur regelmäßigen Kontrolle und öffentlichen Diskussion der Ergebnisse ihrer Politik.

Als Ergebnis seiner Arbeit fordert Cohen die Politik dazu auf, unter Zugrundelegung von Menschenrechten und Demokratie über die UNO einen internationalen politischen Rahmen verbindlicher Standards zu entwickeln, der geeignet ist, dem Bedrohungsszenario Globalisierung eine gerechtere globale Wirtschaftsentwicklung als langfristiges Friedensprojekt entgegenzusetzen.


[«1] Hrsg. Höffe, O. „Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden“, Berlin 2004; Kants Entwurf eines inner- und zwischenstaatlichen Friedensvertrages bildete die Basis a) der 1919 beschlossenen Satzung des Völkerbunds b) der 1945 und 1948 verabschiedeten UNO-Charta sowie c) aller EU-Verträge seit 1951


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