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Titel: „Alle externen Akteure haben versagt!“ – Armenien nach dem Sturm (I)
Datum: 13. Februar 2024 um 12:00 Uhr
Rubrik: Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
Nahezu alle Armenier flüchteten im September letzten Jahres vor den vorrückenden aserbaidschanischen Soldaten aus der Region Berg-Karabach in die benachbarte Republik Armenien. Unser Autor führte Interviews in Jerewan. In einer dreiteiligen Serie ordnen armenische Politologen die Ereignisse vom letzten Herbst und die aktuelle Situation in Armenien genauer ein. Von Leo Ensel mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.
Irgendwann, wenn sich die stärksten Wogen etwas geglättet haben, wird man ihre Geschichten schreiben. Die Geschichten der 120.000 Armenier der seit dem 1. Januar dieses Jahres nicht mehr existierenden demokratischen „Republik Arzach“, die ihre Heimat Berg-Karabach im September 2023 Hals über Kopf und wohl für immer verlassen mussten.
Es ist die Geschichte von Karine, Mutter dreier kleiner Jungen, die während der Flucht durch den völlig verstopften Latschin-Korridor – eine 37-stündige Stop-and-Go-Odyssee über 70 Kilometer – nachts das Auto verließ, um etwas aus dem Kofferraum zu holen. In diesem Augenblick versagten im dahinterstehenden LKW die Bremsen und Karine wurde beim Aufprall zerquetscht. Der Vater legte die Leiche seiner Frau ins Auto und beruhigte die Kleinen, die Mutter würde schlafen. Beerdigt wurde Karine in der Republik Armenien.
Es ist die Geschichte von Alla, einer alleinerziehenden Mutter, die 18 Jahre in der Karabacher Armee diente, während des Krieges 2020 aus ihrem kleinen Dorf Madaghis im Zentrum Karabachs vertrieben und in die nahegelegene Stadt Martakert fliehen musste. Und die drei Jahre später, am 19. und 20. September, als Aserbaidschan der Republik Arzach den Todesstoß versetzte, ihre beiden Söhne, die als Berufssoldaten ihr Land verteidigten, verlor.
Die Geschichte Sewaks, Vater von zwei Söhnen und einer zweijährigen Tochter, der am 25. September, als er für Benzin anstand, bei der gewaltigen Explosion eines Treibstoffdepots bei Askeranin, nahe der Hauptstadt Stepanakert, zusammen mit seinem 13-jährigen Sohn Samwel ums Leben kam, und seiner Frau, die sich als Witwe mit den beiden verbliebenen Kindern allein nach Armenien durchschlagen musste. Geschichten, die für ungezählte ähnliche Schicksale stehen.
Die Schande des erzwungenen Massenexodus aus Berg-Karabach ist längst wieder aus den Schlagzeilen verschwunden, die Kämpfe in Gaza und der Ukraine haben sie verdrängt. Besonders groß hatte man sich hierzulande für diese Gegend im Südkaukasus – eine der Ursprungsregionen der Armenier überhaupt, in der sie 3.000 Jahre lang gelebt und großartige Kulturdenkmäler hinterlassen hatten – nie interessiert. Und die Gefahr des Vergessens ist groß.
Rückblende
Am 19. September letzten Jahres startete Aserbaidschan eine großangelegte Militäroffensive gegen die nach dem Karabachkrieg vom Herbst 2020 noch übriggebliebenen Gebiete der von Armeniern bewohnten Republik Arzach, nachdem Baku seit dem 12. Dezember 2022 die einzige Landverbindung zur Republik Armenien, den Latschin-Korridor, blockiert und damit rund 120.000 Menschen als Geiseln genommen und von der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern wie Nahrungsmitteln, Medikamenten, Treibstoff und Strom abgeschnitten hatte. (Bereits im August hatte der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, von „Genozid durch Aushungern“ gesprochen.) Innerhalb von 24 Stunden kapitulierten die seit neun Monaten durch Hunger und Kälte stark geschwächten und von niemandem, auch nicht von der Republik Armenien, militärisch unterstützten Karabach-Armenier. Die 1.960 Soldaten der russischen Friedenstruppe, deren Aufgabe es war, die Einhaltung des am 9. November 2020 von Wladimir Putin mit dem Präsidenten Aserbaidschans und dem Ministerpräsidenten Armeniens, Ilham Alijew und Nikol Paschinyan, ausgehandelten Waffenstillstandsabkommens zu kontrollieren, hatten schon seit Blockadebeginn tatenlos zugeschaut. Angesichts der von den vorrückenden aserbaidschanischen Kämpfern an der Zivilbevölkerung verübten Gräueltaten und in panischer Angst vor einem erneuten Genozid durch die ‚Türken‘, wie sie die Aserbaidschaner nennen, flüchteten nahezu alle Armenier Karabachs aus ihrer jahrtausendealten Heimat in die benachbarte Republik Armenien. Selbst im Falle des Überlebens hätten sie nun unter dem aserbaidschanischen Diktator Alijew noch weniger Rechte gehabt als damals unter Stalin.
Das Versagen des russischen Friedenskontingents
„Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, haben wir verstanden, dass die neue Weltlage für uns neue Gefahren bringen wird. Dass bestimmte Spielregeln, an die sich der Westen und Russland früher gehalten hatten, nun nicht mehr gelten würden und dass dies zweifellos auch Auswirkungen auf die Arzachfrage haben würde. Ich spreche hier nicht nur über die Garantien Russlands, sondern auch über die der Weltgemeinschaft“, erklärt der ehemalige Ombudsmann für Menschenrechte der Republik Arzach, Artak Beglaryan, der im Alter von 10 Jahren beim Spielen vor dem Haus seiner Familie durch die Explosion einer Landmine sein Augenlicht verlor. „Seitdem gab es immer wieder kleinere Angriffe Aserbaidschans auf verschiedene Orte, außerdem wurden sowohl bei uns in Arzach (zum Beispiel das Dorf Paruch zusammen mit dem Berg Qaragluch) als auch in der Republik Armenien (in den Regionen Gegharkunik, Syunik und Wayoz Dsor) immer wieder kleinere Ortschaften eingenommen. Aber die russischen Friedenstruppen griffen nicht ein und beschützten das Dorf nicht, obwohl das ihre Pflicht gewesen wäre! Und so flohen die Bewohner mit ihren Kindern.
Während der Blockade kamen sowohl die Russen als auch der UN-Sicherheitsrat, der keine Erklärung zur Menschenrechtslage in Arzach abgab, ihren Verpflichtungen nicht nach. Alle externen Akteure haben versagt. Hatten die Russen zuvor ihren Job noch irgendwie, wenn auch schlecht gemacht, so haben sie während der Blockade total versagt. Sie standen einfach tatenlos rum und machten ‚Business‘ mit der hungernden Bevölkerung. So verkauften sie zum Beispiel Eier für mehr als das Zehnfache des üblichen Preises. Alle Karabach-Armenier wissen, dass es da viel Korruption gab. Dabei hatte Russland den Armeniern Garantien gegeben, sie zu beschützen!“ Auf die offiziellen Gründe für die Passivität des russischen Friedenskontingents angesprochen, meint Beglaryan: „Die Russen argumentieren, sie hätten für ein aktives Eingreifen entweder ein Mandat vom UN-Sicherheitsrat oder von Aserbaidschan erhalten müssen, was formal völkerrechtlich auch zutrifft. Ich halte das aber für vorgeschoben. Es hätte unbedingt ein Nachfolgepapier zum Waffenstillstandsabkommen vom 9. November 2020 geben müssen, in dem die Bedingungen eines Eingreifens der russischen Friedenstruppen genau geklärt worden wären! Dieses Dokument soll aber nach monatelangen Verhandlungen auf Druck Aserbaidschans nicht unterzeichnet worden sein.“
„Friedenstruppe“ ohne „friedenserhaltenden Status“?
Zumindest letzteres hat der russische Präsident durchaus bestätigt. Auf der internationalen Valdai-Konferenz erklärte Wladimir Putin am 5. Oktober 2023 zu diesem Thema: „Der rechtliche Status unserer Friedenstruppen basierte ausschließlich auf dieser Erklärung vom November 2020. Ein friedenserhaltender Status war damit nie verbunden. Ich werde jetzt nicht über die Gründe sprechen. Aserbaidschan war der Ansicht, dass es dafür keinen Bedarf gab, und eine Unterzeichnung ohne Aserbaidschan machte keinen Sinn. Der Status basierte also, ich wiederhole, ausschließlich auf der Erklärung vom November 2020, und das einzige Recht, das die Friedenstruppen hatten, war die Überwachung des Waffenstillstands – und nichts anderes.“
Diese Erklärung provoziert natürlich zwingend die Frage, was eine „Friedenstruppe“ denn eigentlich soll, mit der, wie der russische Präsident es formuliert, angeblich „ein friedenserhaltender Status nie verbunden“ war. Hatten die Unterzeichner des Waffenstillstandsabkommens etwa für das in Karabach stationierte russische Friedenskontingent von Anfang an ein Mandat wie das der UN-Blauhelme in Bosnien im Sinn, die damals den ‚ethnischen Säuberungen‘ und Massakern an der Zivilbevölkerung, siehe Srebrenica, tatenlos zusahen, mit dem Ergebnis, dass die Buchstaben UN seitdem in dieser Region mit „United Nothing“ übersetzt werden? Ein Blick auf den russischen Wortlaut des Abkommens bringt jedenfalls keine Klarheit. Hier ist in Punkt 3 von einem „миротворческий контингент“ (Friedenssicherungskontingent) entlang der damaligen Frontlinie und des Latschin-Korridors die Rede. Das Gleiche gilt für Punkt 5, der festlegt, „zur Verbesserung der Wirksamkeit der Kontrolle“ (russisch: „в целях повышения эффективности контроля“) ein „Friedenszentrum zur Überwachung des Waffenstillstands“ (russisch: „миротворческий центр по контролю за прекращением огня“) einzurichten. (Die Übersetzung der letzten Formulierung auf der deutschen Wikipedia-Seite mit „Zentrale des Friedenskontingents zur Durchsetzung des Waffenstillstands“ [Hervorhebung L.E.] ist falsch! Man sieht, wie sehr es hier, wie in allen juristischen Texten, auf den genauen Wortlaut ankommt.)
Fest steht jedenfalls, dass die Formulierung „Überwachung (bzw. Kontrolle) des Waffenstillstands“ eine genaue Definition unbedingt verlangt hätte – anders formuliert: dass dem Waffenstillstandsabkommen zwingend präzise Ausführungsbestimmungen hätten folgen müssen –, was jedoch unterblieb. Man versteht die maßlose Enttäuschung und Wut der Menschen in Karabach und Armenien, die sich von dem russischen Friedenskontingent fraglos Schutz versprochen hatten, in diesem Glauben nach dem Waffenstillstand im November 2020 zum Teil wieder nach Karabach zurückkehrten, sich dort zum zweiten Mal eine Existenz aufbauten – und nun ihrer Heimat für immer beraubt sind!
Artak Beglaryan ergänzt: „Ich betone das in jedem Interview: Russland hätte nicht nur mit Waffen, sondern auch mit anderen Mitteln eingreifen können! Sie haben sich lediglich als Beobachter verhalten. Aufgabe einer Friedenstruppe wäre es gewesen, auch den kleinsten Angriff – und sei es auf einen einzelnen Traktoristen – genauestens zu untersuchen und der Weltöffentlichkeit mitzuteilen. All dies wurde nicht gemacht.“
Putin: „Was hätten wir tun sollen?“
Noch merkwürdiger wird aber das Bild der Gesamtsituation, wenn man genauer studiert, was Putin anschließend verlauten ließ:
„EU-Ratspräsident Michel, Frankreichs Präsident Macron und der deutsche Bundeskanzler Scholz haben dafür gesorgt, dass die Staats- und Regierungschefs von Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2022 in Prag zusammenkamen und eine Erklärung unterzeichneten, in der Armenien Karabach als Teil der Republik Aserbaidschan anerkannte.
Darüber hinaus haben die Leiter der Delegationen und die armenische Führung direkt das Territorium Aserbaidschans in Quadratkilometern angegeben, was natürlich auch Karabach einschließt, und betont, dass sie die Souveränität Aserbaidschans innerhalb der Grenzen der Aserbaidschanischen SSR, die einst Teil der UdSSR war, anerkennen. Und wie Sie wissen, war auch Karabach Teil der Aserbaidschanischen SSR. Damit war die wichtigste Frage gelöst, die absolut entscheidend war: der Status von Karabach. In Prag hat man anerkannt, dass Karabach zu Aserbaidschan gehört. Und dann, Anfang 2023, wiederholten sie dies ein zweites Mal bei einem ähnlichen Treffen in Brüssel.
Was hätten wir tun sollen? Alles, was in der jüngsten Vergangenheit, vor einer Woche, zwei, drei Wochen, passiert ist – die Sperrung des Latschin-Korridors und andere Dinge – all das war nach der Anerkennung der Souveränität Aserbaidschans über Karabach unvermeidlich.
Deshalb hätten Herr Michel und seine Kollegen damals überlegen sollen, als sie offenbar privat, hinter den Kulissen, versucht haben, Premierminister Paschinyan zu diesem Schritt zu überreden. Sie hätten damals gemeinsam über die Zukunft der Armenier in Karabach nachdenken und zumindest skizzieren müssen, was sie in dieser Situation erwartet. Sie hätten eine Form der Integration Karabachs in den aserbaidschanischen Staat und eine Reihe von Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Sicherheit und Rechte skizzieren müssen. Das ist nicht geschehen. Es gibt nur eine Erklärung, dass Karabach Teil Aserbaidschans ist, das ist alles. Was sollen wir also tun, wenn Armenien selbst diese Entscheidung getroffen hat?“
Man mag von Putin halten, was man will und seine Erklärung auf der Valdai-Konferenz wird in den Ohren der Armenier zweifelsfrei scheinheilig und zynisch klingen, eine gewisse Plausibilität kann man ihr allerdings auch bei schlechtestem Willen nicht absprechen – vorausgesetzt, sie trifft in der Sache zu! Das würde nämlich schlicht bedeuten, dass die Armenier in Karabach nicht nur von Russland und vom UN-Sicherheitsrat, sondern auch – womöglich noch gravierender – von der EU verraten wurden…
In diese Richtung geht auch, was der Karabach-Armenier Artak Beglaryan im Interview mit dem Autor dieses Essays bemerkte: „Natürlich hat Russland versagt, aber ich sehe auch eine Tendenz des Westens, die gesamte Schuld auf Russland zu schieben. Ich bin fest davon überzeugt, dass es auch im Westen Kräfte gab, die sowohl die Blockade als auch die Vertreibung der Arzach-Armenier und die Tötung von Zivilisten inkaufgenommen haben. Und zwar, um dem Image Russlands weiter zu schaden.“
Alle Spuren führen daher zu der zentralen Frage: Was genau wurde am 6. Oktober 2022 in Prag – und unter welchen Rahmenbedingungen – von Paschinyan und Alijew unterzeichnet und welchen völkerrechtlichen Stellenwert hat diese Erklärung?
(Fortsetzung folgt)
Titelbild: Über hunderttausend Einwohner der Region Berg-Karabach waren im September 2023 aufgrund des Einmarsches der Aserbaidschaner gezwungen, innerhalb von Stunden ihre Heimat zu verlassen. Die meisten konnten gerade mal mitnehmen, was sie tragen konnten. (Bild Tagesschau)
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