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Titel: Situation in Gaza und die zu wenig genutzten Instrumente der formalen Diplomatie
Datum: 12. Februar 2024 um 11:03 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
Alle Menschen fordern eine Verbesserung der humanitären Situation im Gazastreifen, und die Politiker in den USA und vor allem auch in Europa überbieten sich in ihren Aussagen über die katastrophale Lage der im Süden des Gazastreifens zusammengepferchten Palästinenser. Überzeugende Anstrengungen, einen Waffenstillstand zu erreichen, hat es bislang jedoch nicht gegeben und auch kaum formale diplomatische Maßnahmen im Rahmen des Wiener Übereinkommens. Stellt sich die Frage: Warum? Von Jürgen Hübschen.
Das Wiener Übereinkommen
Wesentliche Inhalte:
Das Wiener Übereinkommen vom 18. April 1961 über diplomatische Beziehungen trat 1964 in Kraft und wurde bislang von 193 Staaten unterzeichnet. Das Abkommen ist ein völkerrechtlicher Vertrag und regelt unter anderem den Ablauf der Ernennung von Botschafterinnen und Botschaftern, den Schutz des diplomatischen Kuriers, die Unverletzlichkeit der diplomatischen Mission, sowie die Immunität und die Vorrechte von Diplomaten und Diplomatinnen. Das Gastland kann Angehörige einer ausländischen Botschaft jederzeit zu „unerwünschten Personen“ (Persona non grata) erklären und diese ohne weitere Begründung des Landes verweisen. Ein akkreditierter Botschafter darf sich nicht in die „inneren Angelegenheiten“ des jeweiligen Gastlandes einmischen. Im diplomatischen Verkehr zwischen dem Gastland und einer Botschaft gibt es im Falle von Differenzen neben der Ausweisung von Personal weitere verschiedene diplomatische Möglichkeiten informeller oder aber auch formaler Art, um diese zum Ausdruck zu bringen.
Dazu gehören im Wesentlichen:
Einladung an einen akkreditierten Boschafter, das Außenministerium des Gastlandes aufzusuchen
Bei einem solchen Gespräch wird dem Botschafter z. B. informell erklärt, warum man in einem bestimmten Fall mit seinem Verhalten/seinen Äußerungen nicht einverstanden ist oder, warum das Gastland über bestimmte Vorkommnisse im Heimatland des Botschafters besorgt ist. In der Regel ist das Problem nach einem solchen Gespräch aus der Welt
Einbestellung des Botschafters
Sollte das nicht der Fall sein oder es sich um ein schwerwiegenderes Problem handeln, wird der Boschafter in das Außenministerium des Gastlandes einbestellt. Einbestellung bedeutet im Diplomatensprech eine untere Stufe im Set der diplomatischen Sanktionsmöglichkeiten in Bezug auf ein Ereignis oder eine Aussage in dem Staat oder der Regierung, die der Botschafter vertritt. Diese Sanktionierung, zwischen formloser Einladung und Abgabe einer Protestnote, ist laut dem Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen möglich, gilt aber unter Staaten mit freundschaftlichen Beziehungen als eher unüblich.
Die Protestnote
Die nächste Eskalationsstufe in den diplomatischen Beziehungen von Ländern ist die Protestnote. Dazu heißt es im „Jura Forum“: Die Protestnote ist ein förmliches und schriftliches Dokument, das von einem Staat an einen anderen Staat gerichtet ist, um eine Verletzung oder einen Verstoß gegen das Völkerrecht oder gegen internationale Verpflichtungen zu rügen und den Protest gegen das betreffende Verhalten auszudrücken… Sie ermöglicht es, Meinungsverschiedenheiten, Missbilligungen oder Beschwerden auf diplomatischer Ebene auszudrücken, ohne in direkte Auseinandersetzungen einzutreten. Eine Protestnote kann somit als Instrument der Diplomatie und deeskalierenden Kommunikation angesehen werden. Sie bietet den beteiligten Parteien die Möglichkeit, ihre Standpunkte darzulegen, mögliche Missverständnisse zu klären und eventuell einen Weg zur Beilegung des Konflikts zu finden.
Als Beispiele für die Anwendung einer Protestnote nennt das „Jura Forum“ u.a. ganz konkret die Verletzung von Normen oder Prinzipien des Völkerrechts. Dazu heißt es: Ein Staat macht auf mutmaßliche Verstöße gegen die Grundsätze der Souveränität, der territorialen Integrität oder der Gleichheit der Staaten aufmerksam. Als ein weiteres Beispiel für das Verfassen einer Protestnote werden Menschenrechtsverletzungen durch das jeweilige Gastland genannt.
Rückruf eines Botschafters zur Berichterstattung
Ein weiteres Signal, diplomatische Differenzen aufzuzeigen, ist die Rückrufung des Boschafters aus dem Gastland in die Hauptstadt des Entsendestaates. Damit macht man dem Gastland deutlich, dass es Vorkommnisse und/oder Entwicklungen gibt, die kritisch gesehen werden und zu denen man eine direkte Information durch den eigenen Botschafter für erforderlich hält. So ein Rückruf kann unterschiedlich lange dauern. Während dieser Zeit nimm der jeweilige Vertreter die Amtsgeschäfte wahr.
Abbruch der diplomatischen Beziehungen
Die schärfste diplomatische Maßnahme ist die Abberufung des Botschafters und die Beendigung der diplomatischen Beziehungen zwischen den jeweiligen Ländern.
Die bisherige Anwendung der Instrumente der formalen Diplomatie im Nahostkrieg
Bislang hat die formale Diplomatie im Nahostkrieg nur wenig Anwendung gefunden. Einige bekannt gewordene Beispiele für formale diplomatische Maßnahmen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Kolumbiens Präsident Gustavo Petro schrieb dazu auf der Nachrichtenplattform X, ehemals Twitter:
„Ich habe mich dazu entschieden, unsere Botschafterin in Israel zu einer Besprechung zurückzubeordern. Wenn Israel das Massaker am palästinensischen Volk nicht beendet, können wir nicht mehr dort sein.“
Mit dem Schritt wollte die vom Afrikanischen Nationalkongress (ANC) geführte Regierung gegen die Bombardierung des Gazastreifens protestieren, die sie als »Kollektivbestrafung« ansieht. Bereits 2018 hatte Südafrika seinen Botschafter in Israel aus Protest gegen die Siedlungspolitik im Westjordanland abgezogen.
Die zu wenig genutzten Instrumente der formalen Diplomatie
Jedem Beobachter des Nahostkrieges müsste eigentlich klar sein, dass die Instrumente der formalen Diplomatie bislang viel zu wenig genutzt wurden. Die dargestellten Beispiele für die Anwendung dieser Form der Diplomatie zeigen, dass es seitens der USA und der Europäischen Union überhaupt keine Aktivitäten auf diesem Gebiet gegeben hat. Lediglich Israel hat sich gegenüber einem EU-Mitgliedsland, nämlich Spanien, dieses Instrumentariums bedient.
Man konnte deshalb den Eindruck gewinnen, dass es zwischen allgemeinen Aufforderungen an Premierminister Netanjahu, die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen zu stoppen, die Menschenrechte und das Völkerrecht zu beachten und der rückhaltlosen militärischen Unterstützung Israels, wie die USA sie praktizieren, überhaupt keinen Zwischenschritt bzw. keine Alternative gäbe. Dabei ist das wirklich nicht der Fall, und daraus hätte man schon lange die Konsequenzen ziehen müssen. Alle Aufrufe an Netanjahu, seine Politik und seine Vorgehensweise gegen die Hamas im Gazastreifen zu ändern und die palästinensische Bevölkerung zu schützen, haben bislang beim israelischen Premier ebenso wenig Wirkung gezeigt, wie die Reisediplomatie von US-Außenminister Blinken oder auch von Annalena Baerbock, um zwei Beispiele zu nennen. Ignoriert hat Netanjahu auch alle Bemühungen der Vereinten Nationen und verschiedener Staaten in der Region, einen Waffenstillstand zu erreichen.
Wenn das alles Fakt ist, stellt sich die Frage, warum die USA und auch Europa bislang nicht zu den Instrumenten der formalen Diplomatie gegriffen haben. Für Washington könnte die Erklärung – nicht eine Entschuldigung! – darin liegen, dass die israelische – nicht die jüdische! – Lobby in den USA zu stark ist und Präsident Biden sich in Wahlkampfzeiten vor einer Konfrontation mit ihr scheut. Ein weiterer Grund in den USA könnten die Neokonservativen um Viktoria Nuland und auch der „Military-Industrial-Complex“ sein, dem an einem Fortgang des Krieges aus naheliegenden Gründen durchaus gelegen ist.
Für Europa und besonders auch für Deutschland fällt es mir schwer, nachvollziehbare Gründe für diese Zurückhaltung, um nicht zu sagen für dieses Versagen, zu finden. In Deutschland wird es wohl die erklärte uneingeschränkte Solidarität mit Israel sein, die es den Politikern offensichtlich nicht möglich macht, zwischen der israelischen Bevölkerung und der verfehlten und menschenverachtenden Politik ihres Premierministers zu unterscheiden.
Aber warum reagiert auch die EU nicht mit den Instrumenten der formalen Diplomatie? Es gibt ja schließlich auch eine EU-Botschaft in Israel, deren Leiter im israelischen Außenministerium vorstellig werden könnte. Auch in Brüssel könnte man den israelischen Botschafter erst einmal zu einem Gespräch einladen und bei Bedarf im Anschluss daran formal einbestellen. Skeptiker sagen vielleicht, dass die formalen Maßnahmen der aufgeführten Staaten ja auch keine Wirkung gezeigt haben, und das mag stimmen. Ich glaube aber, dass z.B. ein Rückruf des amerikanischen Botschafters in Israel zur Berichterstattung im State Department in der israelischen Regierung wie eine Bombe einschlagen würde, und ich bin auch davon überzeugt, dass eine solche Maßnahme seitens der EU ihre Wirkung nicht verfehlen würde. Außerdem gäbe es ja auch noch die Möglichkeit einer bilateralen konzertierten Aktion aller EU-Staaten.
Jeder Politiker, der wirklich daran interessiert ist, das Leid der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen zu lindern, die Befreiung der Geiseln zu erreichen und auch den Israelis, die aus ihren Wohngebieten evakuiert wurden, eine Rückkehr in ihr Zuhause zu ermöglichen, muss die Eskalationsleiter der formalen Diplomatie nutzen, um nicht seine Glaubwürdigkeit endgültig zu verlieren. Dabei darf man auch eine Protestnote wegen Verletzung des Völkerrechts und der Menschenrechte nicht ausschließen.
Ehe mir das Gegenteil nicht bewiesen wird, bin ich davon überzeugt, dass die genannten Instrumente der formalen Diplomatie ihre Wirkung auf Netanjahu nicht verfehlen würden, und zwar auch, weil diese in der gesamten Welt zur Kenntnis genommen würden.
Titelbild: Shutterstock / Serdarkeskiin
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