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Titel: Gegen den Mainstream deutscher Reformitis

Datum: 3. September 2004 um 12:33 Uhr
Rubrik: Globalisierung, Rezensionen, Wettbewerbsfähigkeit
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Handelsblatt, 03.09.2004, S.9, von Peter Thelen, Berlin.

Für Albrecht Müller, einst Planungschef unter Willy Brandt, ist Globalisierung ein altbekanntes Phänomen.
Spätestens seit der Wiedervereinigung gehört zum Common Sense, dass die deutsche Wirtschaft vor ganz neuen Herausforderungen steht. Die Globalisierung der Märkte und die Überalterung der Gesellschaft erzwängen einen radikalen Umbau des Sozialstaats, wenn Deutschland weiter in der ersten Liga der Weltwirtschaft mitspielen wolle, postulierte erst diese Woche erneut Bundeskanzler Gerhard Schröder im ARD-Interview.

In seinem Buch „Die Reformlüge” wagt Albrecht Müller (66), heute Unternehmensberater, aber immer noch in der Wolle gefärbter Sozialdemokrat, die Gegenthese. Die Globalisierung ist nach Ansicht des Diplom-Volkswirts alles andere als neu. Müller war Leiter der Planungsabteilung des Kanzleramtes unter Willy Brandt und Helmut Schmidt. In seinem Buch steigt er tief ein in das Geflecht internationaler Wirtschaftsbeziehungen. Dieses Geflecht sei immer engmaschiger geworden, doch ohne dass daraus eine neue Qualität der Globalisierung oder gar eine generelle Bedrohung erwachsen wäre.

Nüchtern und im Großen und Ganzen auch für den ökonomischen Laien nachvollziehbar, versucht er, die Drohkulisse einer vergreisenden Gesellschaft und einer schwindenden Wettbewerbsfähigkeit zu entzaubern. Vierzig solcher „Denkfehler, Mythen und Legenden” hat er ausgemacht und beschert vor allem dem mit den gängigen neoliberalen Theorien vertrauten Leser so manches Aha-Erlebnis.

Genauso spannend ist Albrechts Buch in den Passagen, in denen er die typisch deutsche Reformhysterie anprangert. Reformen funktionieren hier zu Lande nach dem Schema: Ein Problem wird ausgemacht, und ihm folgt dann umgehend ein Gesetz, das es vorgeblich löst. Ob es auch wirkt, spielt dann im öffentlichen Meinungspoker meist keine Rolle mehr.

Fragezeichen hinter der Angebotstheorie

So hat die Abschaffung des Rabattgesetzes genauso wenig wie die Liberalisierung des Ladenschlusses die erhoffte Belebung der Inlandsnachfrage gebracht. Als unwirksames Betäubungsmittel entpuppte sich die Green Card, mit der der deutsche Arbeitsmarkt für internationale Spitzenkräfte vor allem im IT-Bereich geöffnet werden sollte.

Welche Probleme wir haben, darüber entscheidet, folgt man Müllers Analyse, eine Riege neoliberaler Meinungsmacher. Sie habe im Zusammenspiel mit der Wirtschaft und von ihr finanzierten Einrichtungen wie der Bertelsmann-Stiftung und der Stiftung soziale Marktwirtschaft das Zerrbild der „German Disease” entworfen und halte die Reformkaskade in Gang. Wenn er es nicht ausdrücklich dementieren würde, müsste man glauben: Hier ist eine Verschwörung der Wissenschafts- und Wirtschaftseliten am Werk, die vor allem ein Ziel hat: Die Armen ärmer und die Reichen reicher zu machen.

Den geschlossenen Gegenentwurf zur heutigen Politik des Sozialab- und -umbaus und der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte um fast jeden Preis wagt Müller nicht. Dass er sich hier nur mit Anmerkungen begnügt, ist eine Schwäche. Doch sie schmälert nicht Müllers Verdienst, die gängigen Lehren der Angebotstheorie mit etlichen zum Nachdenken anregenden Fragezeichen versehen zu haben.

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