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Titel: Wem gehört die Ukraine? Der Kampf um die Schwarzerde-Böden

Datum: 31. Januar 2024 um 12:52 Uhr
Rubrik: Länderberichte, Lobbyismus und politische Korruption, Privatisierung
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Der Brief aus Sofia mag die EU-Kommission überrascht haben, denn er kam von der proeuropäischen Regierung des Ministerpräsidenten Nikolaj Denkow und drückte ihre Sorge um die „Ernährungssicherheit“ in Bulgarien aus. Hintergrund des Schreibens ist die geplante Verlängerung einer Ausnahmeregelung, mit der die Ukraine zollfrei Agrargüter in die Europäische Union einführen darf. Mit den Billigimporten können die bulgarischen Bauern nicht mithalten. Der aktuelle Mindestlohn in der Ukraine beträgt 160 Euro monatlich und ist damit um das Fünffache niedriger als in Bulgarien; zudem müssen sich ukrainische Produzenten nicht an EU-weit gültige grüne Vorgaben halten. Von Hannes Hofbauer.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Am 16. September 2023 hatte Denkow auf heftige Bauernproteste im Lande, die ein Importverbot von Agrarprodukten aus der Ukraine forderten, noch anders reagiert. „Ich verhandle nicht mit Terroristen“[1], schleuderte der erst jüngst installierte Ministerpräsident damals den Bauern entgegen. Nun hat der Unmut über diese Art der Brüsseler Ukraine-Hilfe – neben Polen und Ungarn – auch Bulgarien erfasst.

Kornkammer Europas

Fette, schwarze Erde. Der aus kalkreichen Sedimenten gebildete Bodentyp macht große Teile der Ukraine zur fruchtbarsten Region Europas. Um diese Schwarzerde nutzen zu können, marschierte schon die Wehrmacht gen Osten. Kleinbauern im strukturschwachen Waldviertel, einem Landstrich nordwestlich von Wien, wurden mitten im Zweiten Weltkrieg Verwaltungsposten auf Agrargütern in der Ukraine versprochen. Dafür hatte man in den Jahren 1941/42 sogar schwarze Erde waggonweise in die „Ostmark“ transportiert, damit die zukünftigen „deutschen Herren“ mit den ukrainischen Bodenverhältnissen vertraut werden. Der Plan ging mächtig schief, und die Enkel der Waldviertler Bauern sitzen heute noch auf kleinen Ackerparzellen in ihrer Heimat.

Die agrarisch nutzbare Fläche der Ukraine umfasst 33 Millionen Hektar, das entspricht in etwa der Größe Deutschlands. Gut drei Viertel davon sind hochfruchtbare Schwarzerde-Böden. Die Phase der wilden Akkumulation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war von chaotisch verfassten Privatisierungsgesetzen und blankem Diebstahl geprägt. Das „Landgesetzbuch“ von 1992 unter Leonid Krawtschuk gilt als erster Schritt in Richtung einer Privatisierung von Grund und Boden. Die dabei geformten „Kollektiven Landwirtschaftsunternehmen“ waren der Schlüssel für private Landanteile, die über staatliche Zertifikate vergeben wurden. Auf diese Weise erhielten sechs Millionen Ukrainer Bescheinigungen, einen bestimmten Acker ihr Eigen nennen zu können.[2] Der Rat bzw. der Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF), diese noch an gemeinschaftlich-sowjetische Strukturen erinnernden „Kollektiven Landwirtschaftsunternehmen“ für Investoren zu öffnen, bildeten schnurstracks eine Oligarchenklasse heraus. Plötzlich befand sich Agrarland – meist über Pachtverträge – in der Hand weniger Superreicher, die damit zu spekulieren begannen. Um den kompletten Ausverkauf des Landes zu stoppen, verabschiedete die Werchowna Rada – das ukrainische Parlament – im Jahre 2001 den Bodenkodex 2768-III, de facto ein Moratorium, das den weiteren Verkauf von Grund und Boden stoppte. Das ursprünglich für eine Legislaturperiode geltende Gesetz wurde mehrmals verlängert und erst 2020 aufgehoben. Wieder waren es ausländische Einsager vom IWF, die eine Liberalisierung erzwangen.

Nach dem Regimewechsel: Der Privatisierungsdruck nimmt zu

„Seit der Einsetzung einer EU-freundlichen Regierung nach der Maidan-Revolution im Jahr 2014 haben die Weltbank, der IWF und die ‚Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung‘ (EBRD) den Grundstein für eine groß angelegte Privatisierung in der Ukraine durch ein massives Strukturanpassungsprogramm gelegt.“[4] Mit diesen Worten fasst das renommierte Oakland Institute in seiner Studie „War and Theft“ die Folgen des ukrainischen Machtwechsels im Jahr 2014 zusammen. Als Gegenleistung für ein Finanzpaket des IWF in Höhe von 17 Milliarden US-Dollar mussten Löhne im öffentlichen Dienst und Pensionen gekürzt sowie staatliche Subventionen für Wasser- und Energieversorgung gestrichen werden. Innerhalb eines Jahres nach dem Maidan versiebenfachte sich der Preis des Gases, an dem so gut wie alle ukrainischen Haushalte hängen.[5]

Mit dem Inkrafttreten des EU-Assoziierungsvertrages im Jahre 2017 wurde der strukturschwache ukrainische Markt für akkumulationshungrige Investoren aus dem Westen geöffnet. Präsident Wiktor Janukowitsch hatte dieses Freihandelsabkommen im November 2013 auf dem Gipfel von Vilnius noch abgelehnt. Die daraufhin einsetzenden Proteste, die bald von Rechtsradikalen übernommen und von EU- und US-Offiziellen gekapert wurden, jagten den Präsidenten aus dem Amt und mündeten schließlich im ukrainischen Zerfallsprozess. Ganz oben auf der EU-Wunschliste stand die Liberalisierung des Bodenmarktes. Sie war eine der wichtigsten Voraussetzungen für weitere westliche Finanzspritzen. Konkret forderten IWF, Weltbank und EBRD die Aufhebung des bereits seit 19 Jahren bestehenden Moratoriums, das den Verkauf von Ackerland – also westliche Investitionen in die Agrarindustrie – behinderte.

Am 31. März 2020 war es so weit. Das ukrainische Parlament unter Präsident Wolodymyr Selenskyj hob das Moratorium auf und machte den Weg frei für den Ausverkauf der Schwarzerde-Böden. Dafür gab es von Seiten des IWF einen weiteren, acht Milliarden US-Dollar schweren Kredit.[6] In einem ersten Schritt wurde der Privatbesitz von Agrarflächen bis 100 Hektar, ab Juli 2023 bis 10.000 Hektar legalisiert.[7]

Proteste gegen die Liberalisierung des Agrarmarktes wurden von der Regierung im Keim erstickt. Dies gelang auch deshalb, weil zum Zeitpunkt des Gesetzes über die Landreform im März 2020 coronabedingt Ausgehverbote herrschten. Auch die Forderungen nach einem Referendum verhallten ungehört. Laut der Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine würden sich bei so einer Volksbefragung 64 Prozent der Bevölkerung gegen die Privatisierung von Grund und Boden aussprechen, weil sie Angst haben, dass einheimische Oligarchen und ausländische Investoren sich des Landes bemächtigen.[8]

Genau das war allerdings der Sinn und Zweck der Landreform, die mit der Aufhebung des Moratoriums im Jahr 2020 verbunden war. Denn während kleine Bauern als Soldaten im Osten, wo sie – angeblich – um ihr Land kämpfen, zu Zigtausenden in den Schützengräben sterben, bemächtigen sich eine Handvoll Oligarchen mit kräftiger Unterstützung von ausländischem Kapital dieses Landes.

Land in Oligarchenhand

Wer sind nun die Menschen und Unternehmen, die die Schwarzerde-Böden kontrollieren? Aufgrund des nach wie vor eingeschränkten Zugangs zum Eigentum an Grund und Boden ist die Lage kompliziert. Offiziell dürfen landwirtschaftlich nutzbare Flächen nämlich nur bis zu einer Größe von 10.000 Hektar privat erworben werden. Dieses Eigentumsrecht gilt ausschließlich für ukrainische Bürger und ukrainische juristische Personen, also Gesellschaften, in denen wiederum nur Ukrainer vertreten sind.[9] Doch internationale Investoren haben längst einen Weg gefunden, diese Hürde zu nehmen.

Das Oakland Institute, das sich seit 20 Jahren mit Land Grabbing im Globalen Süden – und neuerdings auch in der Ukraine – beschäftigt, schätzt, dass bereits zwei Jahre nach der Landreform neun Millionen Hektar Ackerland, das wären 28 Prozent des bewirtschaftbaren Bodens, von privaten Konzernen kontrolliert werden; windschiefe Eigentumskonstruktionen und Pachtverträge dominieren.

Das Unternehmen „UkrLandFarming“ führt die Liste der Agrargiganten an. Es hat 670.000 Hektar unter dem Pflug und ist damit der weltweit achtgrößte Agrarkonzern. Er befindet sich im Eigentum von Oleg Bakhmatyuk, einem 50-jährigen Multimillionär, der mit „Avangardco IPL“ zugleich die meisten Hühnereier in Europa produziert.[10] „UkrLandFarming“ ist in Zypern angemeldet. An zweiter Stelle der ukrainischen Agrarriesen fungiert die „Kernel Holding“ mit 530.000 Hektar Land, aus dem jährlich 3,3 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten herausgepresst werden.[11] Sein Eigentümer, Andrey Verenskyi, gehört zu den zehn reichsten Männern des Landes. Die Firma ist in Luxemburg registriert. Mit „NCH Capital“ und „PIF Saudi” haben sich auch US-amerikanische und saudische Firmen mit jeweils 300.000 Hektar fruchtbarem Boden in Stellung gebracht.

In gewisser Weise fungieren die ukrainischen Agrar-Oligarchen als Strohmänner großer Kapitalgruppen aus den USA, Westeuropa oder Saudi-Arabien. Weil ausländischer Besitz an Grund und Boden nach wie vor nicht erlaubt ist, sichern sich Westkonzerne ihren Einfluss auf die Schwarzerde-Böden über die Kreditschiene. Oligarchen wie Oleg Bakhmatyuk, Andrey Verenskyi und andere sind hoch verschuldet und stehen seit Jahren wegen Korruption und Schlimmerem mit einem Bein im Gefängnis. Über komplizierte Assoziationsverträge findet sich die Crème de la Crème der weltgrößten Kapitaleigener als Kreditgeber der ukrainischen Agrarriesen. Dazu gehören die Vanguard Group, Goldman Sachs, die Banque National de Paris, Kopernik Global Investors, die Norges Bank Investment und eine Reihe anderer.

Als Gläubiger der „Kernel Holding“ sichern sich die dänische Bankengruppe ING Bank, die Landesbank Baden-Württemberg und die österreichische Raiffeisen Einfluss auf die Ernteerträge. Hinter „UkrLandFarming“, das Fremdkredite in geschätzter Höhe von 1,6 Milliarden US-Dollar bedienen muss, stehen wiederum der US-Fonds Gramercy LLC, die Export-Import-Bank der USA und die Deutsche Bank.[12] Die ukrainischen Äcker sind also dem internationalen Geflecht von Kapitalverwaltern über Pachtverträge und Kreditgeber ausgeliefert.

Am Beispiel des US-amerikanischen Private-Equity-Fonds „NCH Capital“ lässt sich die jüngste Geschichte des Ausverkaufs ukrainischer Schwarzerde-Böden eindrucksvoll demonstrieren. Gegründet im Jahr 1993 von George Rohr und Moris Tabacinic, sammelten die beiden kapitalstarke Investoren für ukrainische und russische Agrargüter und profitierten schon frühzeitig vom Privatisierungsrausch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Über Offshore-Gesellschaften floss das Geld in Steueroasen wie Zypern und zu den Kaimaninseln. „NCH Capital“ spielte eine Schlüsselrolle bei der Landreform in der Ukraine, als ihr CEO George Rohr 2015, ein Jahr nach dem Majdan, an hochrangigen Treffen zwischen dem ukrainischen Präsidenten und dem US-Handelsminister teilnahm. Diese führten letztlich dazu, dass Kiew dem IWF-Reformplan zustimmte, der in weiterer Folge zur Liberalisierung des Bodenmarktes führte.[13]

Zur Absicherung ihrer Geschäfte weiß „NCH Capital“ einige der wichtigsten Pensionsfonds der USA hinter sich, die in die Gesellschaft investiert sind. Dazu gehören quer durch die Branchen die Fonds von Dow Chemicals, General Electric, Lockheed Martin, Merseyside, Honeywell International, Harvard University, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und viele andere.[14] Sie alle profitieren von der Fruchtbarkeit des ukrainischen Grund und Bodens.

Bleibt noch von den wirklichen ukrainischen Bauern zu berichten, die auf kleinen oder mittelgroßen Feldern die Grundversorgung der Bevölkerung sichern, während die Agroriesen einzig die Exportmärkte bedienen. Acht Millionen solcher Versorger sollen es im Jahr 2023 sein. Viele von ihnen sind als Soldaten gegen die russische Armee im Einsatz. Was das für die Ukraine und ihre Landwirtschaft bedeutet, fasst Olena Borodina, Professorin an der Akademie der Wissenschaften in Kiew, zusammen: „Heute kämpfen und sterben Tausende von Bauernjungen im Krieg. Sie haben alles verloren. Gleichzeitig schreitet der freie Landverkauf zügig voran. Er bedroht das Recht der Ukrainer auf ihr Land, für das sie gerade ihr Leben geben.“[15]

Titelbild: Andrew Zaikovskyi/shutterstock.com

Von Hannes Hofbauer ist zum Thema erschienen (gemeinsam mit Stefan Kraft): „Kriegsfolgen. Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert“; Promedia Verlag, Wien.



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