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Titel: „Wandel durch Annäherung”. Rede Egon Bahrs bei der Evangelischen Akademie Tutzing [Tutzinger Rede], 15. Juli 1963
Datum: 27. Januar 2024 um 10:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, SPD
Verantwortlich: Albrecht Müller
Vor Kurzem hatte ich schon einmal auf die Formel Wandel durch Annäherung und die Rede von Egon Bahr hingewiesen. Heute kommen wir auf diesen Vorgang und zudem auf das Umfeld zurück. Zunächst ein wichtiger Auszug aus dem Text.
Es ist in den letzten Tagen schon eine ganze Menge über das Thema der Wiedervereinigung gesagt worden. Ich möchte kein Korreferat dazu halten, sondern nur einige Bemerkungen machen. Sie sind zur Anregung der Diskussion gedacht und entspringen dem Zweifel, ob wir mit der Fortsetzung unserer bisherigen Haltung das absolut negative Ergebnis der Wiedervereinigungspolitik ändern können, und der Überzeugung, daß es an der Zeit ist und daß es unsere Pflicht ist, sie möglichst unvoreingenommen neu zu durchdenken. Natürlich muß man dabei davon ausgehen, daß nicht nur das Berlin-Problem nicht isoliert gelöst werden kann, sondern auch das Deutschland-Problem eben Teil des Ost/West-Konfliktes ist.
…
Die Bundesregierung hat in ihrer letzten Regierungserklärung gesagt, sie sei bereit, „über vieles mit sich reden zu lassen, wenn unsere Brüder in der Zone sich einrichten können, wie sie wollen. Überlegungen der Menschlichkeit spielen hier für uns eine größere Rolle als nationale Überlegungen“. Als einen Diskussionsbeitrag in diesem Rahmen möchte ich meine Ausführungen verstanden wissen. Wir haben gesagt, daß die Mauer ein Zeichen der Schwäche ist. Man könnte auch sagen, sie war ein Zeichen der Angst und des Selbsterhaltungstriebes des kommunistischen Regimes. Die Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell so weit zu nehmen, daß auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir Selbstbewußtsein genug haben können, um eine solche Politik ohne Illusionen zu verfolgen, die sich außerdem nahtlos in das westliche Konzept der Strategie des Friedens einpaßt, denn sonst müßten wir auf Wunder warten, und das ist keine Politik.
Verwirrendes zur Entstehungsgeschichte von „Wandel durch Annäherung“
Erstmals formuliert wurde es 1963 in einer Rede Egon Bahrs vor der Evangelischen Akademie Tutzing. Bahr äußerte sich später in einer „Rück-Sicht“ über die Entstehungsgeschichte und den Leitgedanken:
„Die Rede war das Produkt langer und sorgfältiger Arbeit. Die Manuskripte gingen zwischen Brandt und mir hin und her. [… Ich] hatte den Einfall, einen Punkt aus der Rede Brandts zu nehmen und ihn für die Konsequenzen des Verhältnisses zwischen den beiden deutschen Staaten zu exemplifizieren.“
In den Erinnerungen von Willy Brandt wird der Hinweis auf die gemeinsame Erarbeitung noch etwas deutlicher formuliert:
(Auszug/Kopie aus Willy Brandt: Erinnerungen. Seite 73)
Wie dann weiterhin verfälschend mit diesem Vorgang umgegangen wurde, kann man beispielhaft an diesem Beitrag der Welt vom 28. Juli 2020 sehen: Dort ist zum Beispiel über die Rolle Egon Bahrs zu lesen:
„Der SPD-Politiker entwarf nicht weniger als eine neue Deutschlandpolitik, an der sich entscheidende weltanschauliche Schlachten der kommenden Jahrzehnte entzünden sollten.“
Nachbemerkung:
Ich will die große Bedeutung von Egon Bahr nicht in Zweifel ziehen. Aber die Behauptung, er habe die neue Deutschlandpolitik (und Ostpolitik) entworfen, ist einfach zu viel der Geschichtsfälschung. Ich hatte auf den NachDenkSeiten schon einmal darauf hingewiesen, dass mir ein anderer Beteiligter an den Beratungen über eine neue Ostpolitik, der spätere Chef des Bundeskanzleramtes Horst Grabert, davon berichtet hat, dass schon Ende der Fünfzigerjahre und damit vor dem Mauerbau am 13. August 1961 in einem kleinen Kreis um den damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin Willy Brandt die neue Ostpolitik angedacht worden war. Damals gehörte Egon Bahr noch nicht zu den Mitarbeitern Willy Brandts.
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