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Titel: Stimmen aus Ungarn: 2023 war das Jahr Russlands
Datum: 15. Januar 2024 um 10:00 Uhr
Rubrik: Länderberichte, Militäreinsätze/Kriege, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Redaktion
Nach der Unsicherheit im ersten Kriegsjahr hat sich Russland in der zweiten Jahreshälfte 2023 erholt. Es hat sich gut an die neuen Realitäten angepasst, wie die Verlängerung des Krieges und die Sanktionen. Der Kreml kann nun zuversichtlich auf das Jahr 2024 blicken, das wahrscheinlich immer noch vom Krieg geprägt wird, aber das wird die Wiederwahl von Wladimir Putin in keiner Weise beeinträchtigen. Von Gábor Stier, Übersetzung von Éva Péli.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der ungarischen Wochenzeitung Demokrata.
„Die ukrainische Gegenoffensive ist gescheitert, der Westen ist durch diese Situation entmutigt und sucht nach einer neuen Strategie, Russland wird gewinnen und es gibt keinen Grund für eine weitere Mobilisierung, und Odessa ist eine russische Stadt!”
Das sagte der russische Präsident in seiner üblichen Pressekonferenz zum Jahresende. Diese Halbsätze Wladimir Putins zeigen, dass das Selbstbewusstsein Russlands seit 2022 deutlich gestiegen ist. Während Russland am Ende des ersten Jahres des Krieges durch den Zusammenbruch seiner ursprünglichen Pläne unsicher war, hat es sich inzwischen an die neuen Realitäten angepasst. Die Lage hat sich sowohl an der Front als auch im Hinterland stabilisiert, und es ist Moskau gelungen, den Krieg im Wesentlichen von der russischen Gesellschaft fernzuhalten. Russland spürt seine Stärke, und das macht das Land selbstsicher. In dieser Hinsicht ist es sehr wichtig, dass es entgegen den Zielen des Westens nicht gelungen ist, die russische Gesellschaft und die Elite gegen die Macht aufzubringen. Die Russen mögen den Krieg selbst nicht, aber wenn es schon so gekommen ist, würde die große Mehrheit als Sieger aus ihm hervorgehen.
Seit mehr als einem Jahr liegt das Vertrauen der Russen in den russischen Präsidenten Wladimir Putin bei rund 80 Prozent, was einem Anstieg von 10 bis 15 Prozentpunkten im Vergleich zu 2021 entspricht. Nach kürzlich veröffentlichten Daten des staatlichen Allrussischen Meinungsforschungszentrums (VCIOM) haben 76,3 Prozent eine positive Sicht auf die Leistung des Staatschefs.
Seine Zuversicht wird noch dadurch gestärkt, dass gleichzeitig das Selbstvertrauen der Ukraine verflogen ist, die Armee Anzeichen von Erschöpfung zeigt und das Ausbleiben von Erfolgen und Durchbrüchen auch die Spannungen innerhalb der Elite verschärft hat. Die Enttäuschung über das Ausbleiben eines schnellen Sieges, die wachsende Kriegsmüdigkeit der Gesellschaften und die unerwarteten Wendungen in der Weltpolitik haben auch den Westen verunsichert. Alles in allem kann man Ende 2023 sagen: Die Russen halten durch, die Ukrainer schwächeln, die US-Amerikaner wanken und fürchten um ihr Geld. Der Trend hat sich umgekehrt. Wie Russland 2022, so wurden 2023 die Ukraine und der sie unterstützende westliche Mainstream mit der schockierenden Realität konfrontiert.
Russland zeigt sich heute als gefestigter Staat im Krieg, der sich mit den neuen Realitäten arrangiert hat, die Phase der militärischen Unsicherheit überwunden hat, zu einer Kriegswirtschaft übergegangen ist, sich so weit wie möglich an die Sanktionen angepasst hat, kurzum, der sich gesammelt hat.
Trotz aller Bemühungen ist Moskau nicht isoliert worden, mehr noch, die Herausbildung des sogenannten Globalen Südens wurde durch die Zuspitzung der Konfrontation zwischen West und Ost nur beschleunigt. Damit hat sich das globale Kräfteverhältnis nicht zugunsten des Westens verändert, was in der aktuellen Situation die Position des Kremls stärkt. Russland fühlt sich daher der Ukraine militärisch und dem Westen moralisch und geopolitisch überlegen. Damit hat Putin das neue, selbstbewusste und unter Umständen verhandlungsbereite Gesicht Russlands gezeigt, Ruhe und Stärke ausgestrahlt und wartet auf ein passendes Angebot aus dem Westen, sonst wird er die Erreichung seiner Ziele an der Front erzwingen und die zermürbende Strategie bis zum vollständigen Sieg fortsetzen.
Moskau kann mit Recht auf das Jahr 2023 als Wendepunkt im Krieg gegen die Ukraine zurückblicken. Der Ukraine fehlt die Kraft für eine weitere Gegenoffensive, ihre Reserven gehen zur Neige, vor allem an Personal und Munition, und die Dynamik der westlichen Unterstützung ist ins Stocken geraten. Die Situation wird noch verschärft durch die sich vertiefenden Bruchlinien innerhalb der Elite und die spürbare Verunsicherung der Gesellschaft. Der Kreml geht davon aus, dass die westliche Unterstützung für die Ukraine nachlässt und sich die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des westlichen Blocks vertiefen werden.
Schon allein deshalb, weil die Stimme der Kräfte in den westlichen Ländern lauter wird, die die Priorisierung nationaler Interessen statt blinder Unterstützung der Ukraine fordern. Entscheidend wird die Europawahl in dieser Hinsicht sein, vor allem aber der Ausgang des Rennens um die US-Präsidentschaft zwischen Donald Trump und Joseph Biden. Moskau geht davon aus, dass die Souveränisten mit einer Stärkung der Souveränität in Europa an Stärke gewinnen werden, während der republikanische Kandidat in Washington der Spitzenreiter sein wird. In Erwartung einer solchen Entwicklung der Situation ist es unwahrscheinlich, dass Moskau die Verhandlungen überstürzen wird, da seine Positionen auch dann gestärkt werden könnten, wenn die Fronten verhärten und der derzeitige Positionskrieg weitergeht.
Die Zuversicht Russlands wurde nicht nur durch die Situation, die sich bis heute an der Front entwickelt hat, begründet, sondern auch durch den guten Zustand der russischen Wirtschaft, der über die Erwartungen hinausgeht.
Auf der erwähnten Jahrespressekonferenz konnte sich Wladimir Putin zu Recht mit der Leistung der Wirtschaft brüsten. Russlands Wirtschaft ist trotz der westlichen Sanktionen nicht zusammengebrochen. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wächst in diesem Jahr um 3,5 Prozent, nachdem es im vergangenen Jahr um 2,1 Prozent gesunken war. Das verarbeitende Gewerbe ist um 18 Prozent gestiegen, die Arbeitslosigkeit liegt bei 2,9 Prozent und war noch nie in der Geschichte Russlands so niedrig. Mittelfristig ist eine nachhaltige Entwicklung Russlands gewährleistet.
Eine gewisse Sorge bereitet die immer noch hohe Inflation, die im Jahresdurchschnitt bei 7,5 bis 8 Prozent liegen dürfte. Im Oktober und November betrug der Preisanstieg auf das Jahr hochgerechnet zehn Prozent, aber das war ein Rückgang gegenüber 12,2 Prozent im dritten Quartal. Daher hat die russische Nationalbank ihre jährliche Inflationsprognose von 7 bis 7,5 Prozent nicht revidiert und für 2024 ein Inflationsziel von 4 bis 4,5 Prozent festgelegt. Um die Inflation abzumildern und einen Höhenflug zu verhindern, hat die Nationalbank ihren Leitzins zum Jahresende um ein Prozent auf 16 Prozent angehoben.
Ein stärker als erwartet ausfallendes Wirtschaftswachstum ist ebenfalls problematisch, da es die Inflation anheizen und die Einkommen der Menschen aufbrauchen kann. Längerfristig könnte dies zu einem Zusammenbruch der wirtschaftlichen und natürlich auch der sozialen Stabilität führen. Die Zinserhöhung war nach Ansicht von Analytikern durch die Beschleunigung des Kreditwachstums, die Inflationserwartungen der Bevölkerung und die Tatsache gerechtfertigt, dass die Exporte viel stärker zurückgegangen sind als die Importe. Um die immer noch ungünstige Entwicklung der Inflation auszugleichen, wird der Mindestlohn ab dem 1. Januar um 18 Prozent erhöht, und die Reallöhne sollen um durchschnittlich 8 Prozent steigen, zumindest sprach Putin davon.
Der aktuelle Stand der Dinge zeigt sich auch darin, dass die Goldreserven des Landes aufgrund des gestiegenen Goldpreises ein Rekordhoch von 151,9 Milliarden US-Dollar erreicht haben und sich auch in physischer Hinsicht auf einem bemerkenswerten Niveau von 2.315 Tonnen befinden. Darüber hinaus sind die internationalen Reserven des Landes auf 529,4 Milliarden Dollar gestiegen.
Wenn man dann noch bedenkt, dass etwa 300 Milliarden US-Dollar der Reserven der russischen Zentralbank nach Kriegsbeginn im Westen eingefroren wurden, ist das eine gute Leistung. Bemerkenswert ist auch, dass es einen Indikator gibt – gemessen an der Kaufkraftparität und dem erwirtschafteten Wirtschaftswert –, nach dem Russland nach Angaben der Weltbank Deutschland überholt hat und zusammen mit China, den Vereinigten Staaten, Indien und Japan zu den fünf führenden Wirtschaftsmächten der Welt geworden ist.
Andere Berechnungen kommen zu schwächeren Ergebnissen. So prognostiziert das Centre for Economics and Business Research (CEBR), eine in London ansässige Analyse-Firma, dass die Sanktionen gegen Russland wegen seines Einmarsches in der Ukraine und seiner Kriegswirtschaft dazu führen werden, dass die russische Wirtschaft in der Weltrangliste der größten Volkswirtschaften von Platz 8 im vergangenen Jahr auf Platz 11 in diesem Jahr und bis 2038 auf Platz 14 abrutschen wird.
Kurz- bis mittelfristig befindet sich Russland also auf einem nachhaltigen Weg und ist in der Lage, dem Krieg standzuhalten, aber langfristig könnte sich die Tatsache rächen, dass ein Drittel des Haushalts die Militär- und Verteidigungsausgaben verschlucken. Auf lange Sicht entspricht dies den Vorstellungen der USA, die darauf beruhen, dass die Sowjetunion am Ende des Kalten Krieges auf diese Weise in die Knie gezwungen wurde. Im Kreml wird das gesehen, also wird Moskau vermutlich alles tun, um zu verhindern, dass es so weit kommt.
Das Jahr 2023 zeigte aber auch ein anderes Gesicht Russlands, des russischen Systems. Die psychologische Wende im Krieg trat erst in der zweiten Sommerhälfte ein. In den ersten Monaten des Jahres hing die angekündigte ukrainische Gegenoffensive noch in der Luft, und Moskau konnte trotz des Baus der Surovikin-Linie nicht sicher sein, dass Kiews Schwung auf dieser Verteidigungslinie gebrochen werden würde. Unterdessen sorgte die spektakuläre Zurschaustellung der politischen Ambitionen Jewgeni Prigoschins für zunehmende innenpolitische Spannungen.
Paradoxerweise war es trotz der immer offensichtlicher werdenden Schwäche der ukrainischen Armee die Niederschlagung der Wagner-Rebellion und der seltsame Tod von Jewgenij Prigoschin, die Moskau zuversichtlich machten, nicht nur die Initiative an der Front zu ergreifen, sondern auch das politische System zu stabilisieren, das sich in den ersten Stunden des Aufstands als ziemlich zerbrechlich erwies.
Wenn wir also davon sprechen, dass 2023 das Jahr Russlands war, dürfen wir nicht vergessen, dass die russische Überlegenheit im materiellen Krieg zwar immer deutlicher wird, die Wirtschaft nicht erschüttert, das Land nicht isoliert wurde und sich die Gesellschaft hinter Wladimir Putin gestellt hat, die Stabilisierung aber oft nur von Nuancen abhing. Vor allem hat die bereits erwähnte Rebellion von Prigoschin die Schwächen des Systems offengelegt: Die Gefahren, die von Herausforderungen von außerhalb des Systems ausgehen, sowie die Tatsache, wie leicht das Gleichgewicht zwischen den Bastionen der Macht gestört werden kann, das im Wesentlichen die Stabilität des Systems gewährleistet. Inzwischen ist klar, dass hinter den Wagner-Truppen auch ein Teil der Machtelite stand. So, wie die russische Armee nicht so stark ist, wie viele glaubten, aber viel stärker, als viele nach den ersten Monaten des Krieges dachten, zeigt auch das politische System diese Dualität. Dennoch hat das Jahr 2023 auch gezeigt, dass Russland zwar manchmal ins Straucheln gerät, aber bei Weitem nicht so leicht in die Knie zu zwingen ist, wie viele hoffen. „Russland hat in diesem Jahr wieder einmal gezeigt, dass es sich von den schwierigsten Situationen erholen kann, dass es sich nicht isolieren lässt und sehr widerstandsfähig ist.”
Diese Qualitäten wird das Land auch 2024 brauchen, denn der Stellungskrieg zermürbt und schwächt es auf Dauer. Mit dem Zusammenbruch der ukrainischen Armee kann Moskau vorerst nicht rechnen, da der Westen Kiew trotz der Schwierigkeiten wohl genug unterstützen wird, um dies zu verhindern. Die von vielen Russen erhoffte Einnahme von Charkiw oder Odessa scheint daher vorerst in weiter Ferne zu liegen. Inzwischen setzt die Zeit auch Moskau unter Druck, wenn auch nicht annähernd so sehr wie Kiew.
Unter anderem, weil die westliche Rüstungsindustrie bis 2025 angekurbelt sein könnte, sodass Russland 2024 über die wichtigsten Fragen entscheiden sollte. Derweil muss der Kreml mit einer gewissen zeitversetzten Wirkung der Sanktionen rechnen, darf aber angesichts der Stabilität des Systems nicht zulassen, dass die soziale Sicherheit geschwächt wird. Eines scheint in dieser unsicheren Welt sehr sicher zu sein, nämlich, dass Wladimir Putin keine Alternative hat und zum fünften Mal zum Präsidenten gewählt werden wird.
Der Artikel wurde ursprünglich in der ungarischen Wochenzeitung Demokrata veröffentlicht und kann hier nachgelesen werden.
Titelbild: Éva Péli
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