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Titel: Zum Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und zu Kaufmann in der SZ
Datum: 16. März 2006 um 11:33 Uhr
Rubrik: Demografische Entwicklung, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Lobbyorganisationen und interessengebundene Wissenschaft
Verantwortlich: Albrecht Müller
Eine neue Volksverblödungswelle überschwemmt das Land. Ausgelöst wurde sie vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Von FAZ bis Handelsblatt, von der Stuttgarter Zeitung bis zum heute-journal wird ein neuer Demographie-Tsunamie beschworen. Siehe auch Tagebucheintrag vom 15.3.. Die Studie ist und enthält Wertungen jenseits jeder Wissenschaftlichkeit. – Ähnliches gilt für ein Interview der Süddeutschen Zeitung mit dem Soziologen Franz-Xaver Kaufmann. Nach Lektüre dieses Interviews habe ich den Eindruck, wir sind am Ende des Zeitalters der Aufklärung angekommen.
1. Hier zunächst der Link zur Studie des Berlin-Instituts, damit Sie sich selbst ein Bild machen können: Die demografische Lage der Nation [PDF – 3.3 MB]
Was ist der Zweck der darauf aufbauenden Agitation? Schlagzeile von “Bild”: “Weniger Rente für Kinderlose”. Und in der Stuttgarter Zeitung heißt es: “Der Bevölkerungswissenschaftler Reiner Klingholz sagte bei der Vorstellung einer Studie zur demografischen Lage in Deutschland, der Start in die Rente sollte freigestellt werden. Nur so sei ein Kollaps der sozialen Sicherungssysteme zu vermeiden…Es gebe genügend Menschen, die auch noch mit 70 fit seien”.
Wer ist das Berlin-Institut überhaupt und wie wissenschaftlich fundiert sind dessen Studien, dass ein solches Medienecho gerechtfertigt ist?
Der von der “Stuttgarter Zeitung” als “Bevölkerungswissenschaftler” ausgewiesene Dr. Reiner Klingholz ist dies mitnichten. Der 52-jährige ist studierter Chemiker und promovierte über makromolekulare DNS-Strukturen. Später arbeitete er als Wissenschaftsredakteur der “Zeit” und Redaktionsleiter von Geo-Wissen.
Lediglich der einzige (!) wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts, Steffen Kröhnert, befasste sich nach seiner mehrjährigen Berufstätigkeit als Tischler während eines Studiums der Sozialwissenschaften mit dem Thema Bevölkerungswissenschaft.
Offenbar ist das genug wissenschaftliche Reputation, um in den Medien als Kronzeuge für weitere massive Einschnitte in die Rentenversicherung zitiert zu werden.
Das Startkapital des Berlin-Instituts stammt von der weithin unbekannten Falk- und Marlene-Reichenbach-Stiftung. Von Beginn an wird das Institut von der Hewlett Foundation institutionell gefördert. Die William and Flora Hewlett Foundation wurde 1966 von dem schwerreichen US-Unternehmer William Hewlett und seiner Frau Flora gegründet. Die Stiftung gilt mit einem Kapital 6,7 Milliarden Dollar als eine der größten Privatstiftungen der USA.
Mein Eindruck ist: beim Berlin-Institut handelt es sich nicht um eine wissenschaftliche sondern um eine Publicrelations-Einrichtung.
Das Projekt „Die demografische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen?“, auf dessen Ergebnissen die aufgeregte Debatte basierte, wurde unterstützt von der Robert Bosch Stiftung , der DKV Deutsche Krankenversicherung und der Software AG Stiftung.
2. Zum Interview der Süddeutschen Zeitung mit Franz-Xaver Kaufmann:
Abwärts
“Wir müssen die ökonomischen Vorteile der Kinderlosigkeit abbauen”: Der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann über den deutschen Bevölkerungsschwund. Ein Interview von Alex Rühle.
…und einige kurze Anmerkungen:
Vorweg: Kaufmann sagt einige vernünftige Sachen zur mangelnden Aufmerksamkeit für die Integration der Kinder von Zuwanderern und zum beruflichen Karriereknick qualifizierter Frauen in Deutschland zum Beispiel.
Die Dramatisierung ansonsten ist nicht zu begreifen. Interviewer und Interviewter meinen allen Ernstes, die demographische Lage sei hierzulande schlimmer als nach dem dreißigjährigen Krieg.
Kaufmann würdigt nicht ausreichend, dass die niedrige Geburtenrate heute etwas mit der wirtschaftlichen Lage und vor allem mit der beruflichen Perspektive und den Arbeitsverhältnissen junger Leute zu tun hat.
Kaufmann redet von der Sogwirkung leerer Räume in Europa auf die Bevölkerung in Afrika und tut so als ließe sich das mit der Zeit der Goten und Franken und Römer vergleichen. Schon der Blick auf die Bevölkerungsdichte europäischer Staaten hätte ihn davor warnen müssen, mit solchen Theorien zu hantieren. Die folgende Tabelle enthält die Bevölkerungsdichte für einige ausgewählte Staaten. Wenn Kaufmanns Theorie des Sogs heute noch stimmen würde, dann müsste Frankreich, Österreich, Spanien und Dänemark zum Beispiel schon lange Opfer eines solchen Sogs geworden sein. Vermutlich ist das eine Vorstellung, die der heutigen Zeit nicht gerecht wird. Sie wird aber gerade in der letzten Zeit immer mehr für die verbreitete Demagogie genutzt.
Tabelle
Einwohner pro km² im Jahre 2003 | |
---|---|
Niederlande | 477 |
Großbritannien | 243 |
Deutschland | 231 |
Italien | 191 |
Tschechische Republik | 130 |
Dänemark | 124 |
Polen | 123 |
Frankreich | 111 |
Österreich | 97 |
Spanien | 81 |
USA | 31 |
Quelle: Die Reformlüge, Seite 107
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