NachDenkSeiten – Die kritische Website

Titel: Gelungene Dressur?

Datum: 26. November 2023 um 13:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Gesundheitspolitik
Verantwortlich:

Wurden viele Menschen durch die Lockdown-Politik auch dauerhaft konditioniert? Zumindest einige Zeitgenossen machen es dieser Tage noch deutlich: Corona lebt! Ein Essay von Michael Freuding.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Angeblich sollen Flöhe das Springen verlernen, wenn man sie in einem Einmachglas hält. Verschließt man das Glas mit einem durchsichtigen Deckel, hüpfen sie so lange dagegen, bis ihnen die Freude an ihren Fluchtversuchen vergeht. Danach passen sie ihre maximale Sprungkraft an die neue Umgebung an. Mit der Zeit verinnerlichen sie den Abstand zwischen Boden und Deckel wie ein Naturgesetz. Befreit man sie dann wieder aus ihrem Gefängnis, leben sie mit gedämpfter Sprungkraft weiter. Schließlich möchten sie sich nicht ständig den Kopf stoßen. Sie hüpfen also nicht mehr weiter, als es ihnen der Glasdeckel zuvor erlaubt hat.

Die Geschichte taugt als Gleichnis für allzu Menschliches. Wenn wir mit einer bestimmten Strategie schlechte Erfahrungen sammeln, geben wir sie mit der Zeit auf – genau wie die Flöhe aus dem Einmachglas. Die Flöhe wollten fliehen, klatschten gegen den Deckel und reagierten mit einem verminderten Fluchtwillen. Die Story klingt plausibel. Scheinbar gibt es jedoch keinen Wissenschaftler, der sich zur Durchführung entsprechender Experimente bekennt [1]. Bestenfalls beruht die Geschichte also auf den Erzählungen von Laien, die entsprechende Situationen im Flohzirkus durchgespielt haben.

Vergleicht man den Plot mit ähnlichen „Experimenten“ am Menschen, gewinnt er an Glaubwürdigkeit. Entsprechende Versuchsanordnungen ergaben sich während der Corona-Zeit von ganz alleine. In die Rolle des Einmachglases schlüpften dabei die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Sie ließen den Versuchspersonen ungefähr so viel Freiraum wie das Flohglas. Nur gingen die Vorgänge des Einsperrens und der Befreiung sanfter vonstatten als bei den Flöhen – gerade so, als ob sich das Einmachglas um die Probanden erst allmählich materialisiert und wieder aufgelöst hätte.  

Im Vergleich mit dem Flohgefängnis war der „Corona-Kerker“ kein Ding, das man anfassen konnte. Er existierte allein als Regelwerk und im Geist der Eingesperrten. Deshalb waren seine Auswirkungen von Fall zu Fall unterschiedlich, je nachdem, wie fest seine Glaswände in den Vorstellungen der Gefangenen verankert waren. Das ist der Grund, weshalb gerade diejenigen, die während der Krise die härtesten Repressionen erfuhren, am frühesten und gründlichsten von den Maßnahmen genesen sind: Bildlich gesprochen hatte sich das Einmachglas um sie nie richtig geschlossen. Sie stießen sich daher weniger an virtuellen Wänden als am Verhalten der Erbauer jener Wände.  

Das Einsperren während der Coronazeit funktionierte auf der Basis sinnstiftender Erzählungen. Die Haupterzählung lautete, im chinesischen Wuhan sei ein neuartiges Virus ausgebrochen, das millionenfachen Tod über die Menschheit bringe. Um dieses Unheil zu vermeiden, müsse man unablässig Hände waschen, in Armbeugen husten und soziale Kontakte meiden. Der „Feind“ lauere auf Türgriffen, hafte an Geldscheinen, verstecke sich zwischen den Seiten von Zeitungen und falle von Haltestangen und Treppengeländern über uns her. Deshalb sei es am besten, wenn man alle Gefahrenquellen meide und sich strikt an die AHA-Regeln halte: „Abstand, Hygiene, Alltagsmasken“ lautete eine der frühen Parolen jener Zeit [2].

Es dauerte nicht lange, bis die Menschen Verhaltensweisen entwickelten, mit denen sie sich vor den neuen Gefahren zu schützen glaubten. Die Medien befeuerten diesen Trend, indem sie darüber berichteten und die neuen Gepflogenheiten guthießen. Man denke zum Beispiel an den Brauch des Händeschüttelns: Wenn der Tod schon auf Türklinken und Treppengeländern lauerte, um wie viel gefährlicher musste da das Händeschütteln sein? Dabei reicht dieses Begrüßungsritual laut Wikipedia bis in die Römerzeit zurück und stand ehemals als Symbol für die Eintracht zwischen Kaiser und Militär [3]. Schon Paulus erwähnte den Brauch, als er in seinem Brief an die Galather schrieb, beim Abschied aus Jerusalem sei ihm die Hand der Freundschaft gereicht worden [4]. In meinem persönlichen Umfeld galt einer, der das Händeschütteln verweigerte, vor der Coronazeit noch als Schuft. Wer am Morgen nicht jedem Kollegen artig seine Aufwartung machte, dem haftete schon bald der Ruf eines Rüpels an. Das galt vor allem, wenn der Traditionsbrecher in der Hierarchie über demjenigen stand, dem er den Handschlag „verweigerte“.

Schon damals empfanden etliche Zeitgenossen das Gehabe ums Händeschütteln als besonders lästiges Zwangsmoment der europäischen Kultur. Die Mehrheit schien den Brauch jedoch gutzuheißen. Umso erstaunlicher ist es, dass die Hygieneregeln während der Coronazeit das Ritual des Händeschüttelns beinahe vollständig aus dem Repertoire unserer kulturellen Praktiken getilgt haben. Das virtuelle Einmachglas hat ganze Arbeit geleistet, könnte man sagen: Wir Flöhe hüpfen flacher. Die Auslöschung der Tradition geht sogar so weit, dass man bisweilen panische Blicke erntet, wenn man heutzutage jemandem doch die Hand reicht. Das gilt sowohl direkt als auch im übertragenen Sinne. Offensichtlich entspricht das Ritual nicht mehr unseren kulturellen Gepflogenheiten. Denn muss nicht jedermann ein Schuft sein, der heutzutage noch fahrlässig Abstände unterschreitet?

Die Abschaffung des Händeschüttelns war während der Coronazeit der kleinste gemeinsame Nenner der Linientreue. Weil damit keine besonderen Unannehmlichkeiten verbunden waren, gab es so gut wie niemanden, der sich gegen das neue Tabu sträubte. Deshalb trauert wohl kaum jemand der Vergangenheit hinterher. Man könnte sogar von einem Befreiungsakt aus einer mit Zwängen belasteten Tradition sprechen. Gleichwohl geht mit dieser Befreiung eine kulturelle Vereinheitlichung einher, die man nicht unbedingt gutheißen muss. Die Unterschiede zwischen regionalen Gepflogenheiten sind kleiner geworden. Die Menschheit ist einer gemeinsamen „Weltkultur“ einen Schritt näher gekommen. Jetzt müssen bloß noch die Asiaten aufhören, sich zu verbeugen…

Hardcore-Anhänger des Corona-Kults forderten indessen mehr als das bloße Abschaffen von Ritualen. Sie setzten sich durch, indem sie Angst schürten und gleichzeitig auf das Prinzip Hoffnung bauten. Die Corona-Maßnahmen sollten enden, sobald Christian Drosten und seine Hohepriester keine Gefahr mehr witterten. Bis dahin sorgten allerlei gute Ratschläge für Unterhaltung: Unnötige Türen hielt man mit Keilen offen, die Menschen trugen vom Waldspaziergang bis zur einsamen Fahrt im Auto Staubmasken und jene, denen all das nicht genügte, entwickelten skurrile Praktiken, um noch das letzte Quäntchen „Sicherheit“ für sich herauszuschinden. Plötzlich gab es Menschen, die sich ganz und gar weigerten, mit der Hand etwas zu berühren, was vorher schon andere angefasst hatten. Standen sie vor einer Tür, beugten sie ihre Oberkörper wie vor einem König und öffneten die Klinke mit ihrem Ellbogen. In Supermärkten trugen sie Gummihandschuhe, in Warteschlangen terrorisierten sie Abstandsleugner mit Hasskommentaren. Mehr Einmachglas-Konditionierung konnte man sich kaum vorstellen.

Am siebten April 2023 endeten in der Bundesrepublik Deutschland offiziell alle „Corona-Maßnahmen“. Ab diesem Zeitpunkt durfte sich jeder Bürger aus seinem virtuellen Käfig befreit fühlen. Die Sache hatte sich jedoch schon vorher totgelaufen. Allmählich hatten die Menschen begriffen, dass die allermeisten von ihnen die tödliche Seuche auch ohne Masken, Impfungen und dergleichen überleben konnten. Im Rückblick betrachtet dauerte die Phase des Totlaufens ungefähr ein Jahr. In dieser Zeit zerfielen die Einmachgläser um uns Bürgerinnen und Bürger allmählich zu Staub. Dennoch gab es natürlich noch viele Hardcore-Coronisten, die an den Extremregeln festhielten. Sie schauten einen böse an, wenn man ein öffentliches Gebäude ohne Maske betrat, und sie waren nach wie vor als Ellbogenfetischisten an Türschwellen unterwegs. Manche von ihnen haben die Gepflogenheiten der Hochphase des Corona-Regimes so stark verinnerlicht, dass sie bis heute daran festhalten: Sie testen sich, wenn die Nase läuft. Sie treten ängstlich beiseite, wenn man ihnen auf einem Gang begegnet. Sie tragen Maske, wann immer sich dazu eine passende Gelegenheit bietet. 

Indessen ist die Stimmung innerhalb der gemäßigteren Kreise umgeschlagen. Nicht mehr die Ungeimpften werden verlacht, sondern diejenigen, die ihre Verhaltensrituale aus der Corona-Krise ins Nach-Corona-Zeitalter übernommen haben. So ist in meinem persönlichen Umfeld inzwischen vor allem das Maskentragen verpönt, obwohl sich die meisten meiner Bekannten seinerzeit allen Regeln samt diverser „Impfungen“ unterworfen hatten. Sie meiden die Erinnerung an die totalitäre Zeit und hoffen, dass sich der Hygiene-Autoritarismus in Zukunft nicht mehr wiederholen wird. Man könnte von einer Art Abscheu vor dem Ausnahmezustand sprechen.

Einige Rituale der Corona-Ära haben sich indessen so tief in die Gesellschaft eingeprägt, dass sie nur wenige Zeitgenossen vollständig ablegen konnten. Im Grunde geht es dabei immer um dasselbe, nämlich um die Angst vor Nähe. Das Konfliktpotenzial ist hoch: Entweder ärgern sich die Ängstlichen über die Mutigen oder umgekehrt – je nachdem, in welcher Alltagssituation man einander begegnet. Tatsächlich finden sich hier auch die meisten Parallelen zu unserer Ausgangsgeschichte mit den Flöhen. Während die Flöhe nach ihren Erfahrungen im Einmachglas kürzer gesprungen sind, scheinen sich die Auren der Menschen während der Corona-Krise ausgedehnt zu haben. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, dass in westlichen Ländern beinahe alle Menschen über einen längeren Zeitraum in virtuelle Gefängnisse gepackt waren. Daneben haben uns sinnstiftende Erzählungen die Nähe zu anderen Menschen als etwas beinahe Perverses vergällt. Entstanden sind dabei zwei typische Konfliktlinien.

Die Erste lässt sich im Alltag leicht am eigenen Leib erfahren. Man muss sich bloß in Erinnerung rufen, wie man sich in der Prä-Corona-Ära beim Einkaufen verhalten hat, und dieses Muster ins Post-Corona-Zeitalter übertragen. Vor dem Jahr 2020 standen die Menschen in Kaufhäusern, Supermärkten und anderen Geschäften oft eng auf eng in Warteschlangen. Selbst bei normalem Kundenaufkommen waren die Abstände zwischen den Kunden gering. Dagegen gilt es heutzutage als ungeschriebene Vorschrift, dass der Einkäufer den freien Raum vor Kassen, Theken und Bezahlschaltern vollständig auszunutzen hat. Reiht man sich zum Beispiel in eine Warteschlange vor einem Bäckereitresen, heißt das, man muss sich eine Platzierung nach dem Prinzip des maximalen Abstands suchen. Für einen Kunden, der als zweite Person die Bäckerei betritt, bedeutet das, er sollte an der Theke jene Position einnehmen, die am weitesten vom Erstkunden entfernt liegt. Verstöße gegen diese ungeschriebene Regel können zwar gutgehen, jedoch erntet der Regelbrecher zumindest böse Blicke, sofern es sich beim Erstkunden um einen übrig gebliebenen Radikalcoronisten handelt. Selbst anderthalb Meter Abstand genügen dann nicht für ein harmonisches Einkaufserlebnis.

Die zweite Konfliktlinie ergibt sich, wenn man sich die Situation vor der Bäckerei betrachtet. Weil während der Corona-Zeit meist nicht mehr als drei Personen gleichzeitig in ein Ladengeschäft eintreten durften, gewöhnten sich die Menschen durch Training an diese Vorgabe. So entstand bei vielen Zeitgenossen nach und nach eine innere Hemmschwelle, die sie am Eintreten hindert, solange der vormals „legale“ Zustand im Verkaufsraum nicht erreicht ist. Der Floh traut sich nicht zu hüpfen, weil er Angst hat, gegen den Glasdeckel zu klatschen. Wo ich meine Brötchen kaufe, lässt sich das vor allem am frühen Sonntagmorgen beobachten. Meist scharen sich schon vor halb acht mehrere Kunden um den Eingang. Mit der offiziellen Öffnung strömen sie dann in den Laden und verteilen sich dort nach dem Prinzip des maximalen Abstands. Der Platz vor der Bäckerei leert sich jedoch nicht vollständig. Vielmehr fällt eine Art unsichtbarer Vorhang, nachdem der dritte Kunde die Bäckerei betreten hat. Der vierte Kunde bleibt dann wie angewurzelt vor der offenen Tür stehen, während sich hinter ihm eine lange Schlange bildet.

Offizielle Regeln, die das Verhalten der Bäckereikunden nach dem beschriebenen Muster steuern, gibt es schon lange nicht mehr. Theoretisch dürften also alle Kunden „im Warmen“ ausharren, bis sie mit ihrer Bestellung an der Reihe sind. Die Einmachglaskonditionierung aus der Corona-Ära wirkt jedoch fort und zwingt die Mehrzahl der Brötchenkäufer zu einem Zeitsprung in die Vergangenheit. Man könnte sagen, die viel besungenen „Regeln“ hallen nach wie ein Echo. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn in Mitteleuropa immer heiter Sonnenschein und milde Außentemperaturen herrschten. Doch leider wirkt die Konditionierung auch bei Regen, Eiseskälte und lauterbachiesker Hitze. Mutige, bei denen die Abrichtung fehlschlug, reagieren daher entweder mit bissigen Kommentaren und reihen sich in die Schlange. Oder sie gehen einfach an den anderen vorbei, prägen sich die Reihenfolge ein und verharren im wohltemperierten Innenraum, bis sie dran sind.

Meist endet die freiwillige Unterwerfung unter das vormals Legale, wenn der erste Kunde aus der Meute ausschert. Betritt also ein Abweichler an der Schlange vorbei den Laden, folgen ihm die anderen nach, um ihre Position zu verteidigen. Ich habe das mehrmals im Selbstversuch getestet. Dasselbe Phänomen war schon während der Corona-Ära zu beobachten, wenn es um das Tragen von Masken im Freien ging. Damals waren die Schlangen vor den Bäckereien zwar noch vorgeschrieben, man konnte als Abweichler jedoch Einfluss darauf nehmen, wie sich die Wartezeit gestaltete. Die Erfahrung zeigte Folgendes: Wenn man sich als Nichtmaskierter verspätet zu einer Reihe aus Maskierten gesellte, hatte das keine Auswirkungen auf das Verhalten der Maskierten. Nahm man jedoch die letzte Position vor der Bäckerei – im Freien – ein und traten andere Kunden hinzu, unterwarfen sie sich dem Vorbild des letzten Wartenden. Stand also einer vor der Tür, der keine Maske trug, setzten auch die nachfolgenden Kunden keine Masken auf. Handelte es sich bei dem Menschen vor der Tür dagegen um einen Maskenträger, ahmten die anderen Kunden auch das nach. Es lebe die Anpassung!

Am Ende lässt sich festhalten: Die Geschichte von der Sprunghemmung der Flöhe aus dem Einmachglas lässt sich zwar nicht wissenschaftlich belegen. Im Alltag der Nach-Corona-Ära finden sich jedoch etliche Beispiele menschlichen Verhaltens, die als Analogon zu der Floh-Konditionierung stehen können. Wenn der aufgebaute Druck hoch genug ist, lassen sich Menschen offenbar leicht zu Verhaltensweisen mit zweifelhaftem Sinn erziehen. Sind die entsprechenden Muster dann erst einmal verinnerlicht, wirken sie unabhängig von der Existenz der Regeln fort, die sie einst bedungen haben.

Im Falle der sogenannten „Corona-Maßnahmen“ beruhte die Konditionierung der Menschen auf einer Mischung aus negativen Reizen und Angst. Die einen fürchteten, an einem tödlichen Virus zu erkranken und/oder ihre Verwandten damit zu infizieren; die anderen disziplinierte die Aussicht auf die Reaktion der informellen Sozialkontrolle. In jedem Fall erlebte derjenige, der sich dem Diktat der Regeln widersetzte, eine negative Gegenreaktion. Sie glich der Erfahrung der Flöhe, die beim Hüpfen in ihrem Einmachglas gegen den Glasdeckel prallten. Dabei reichten die Konsequenzen des Sich-Widersetzens von sozialer Ausgrenzung über Bußgelder bis hin zur vollständigen sozialen Vernichtung. Letztere drohte vor allem denjenigen, die über genügend Ansehen verfügten, um in der Bevölkerung Zweifel an „den Maßnahmen“ zu säen. So konnte ein devianter Arzt aus Sicht der Narrativgläubigen größeren Schaden anrichten als ein Kfz-Meister, der auf seinen gesunden Menschenverstand vertraute. Deshalb lachte man den einen aus und suchte beim anderen nach einem Grund, ihn zu „canceln“. Je tiefer man also in der sozialen Hackordnung platziert war, umso sicherer durfte man sich fühlen, wenn man Kritik äußerte. Am besten lebten freilich diejenigen, die sich brav unterwarfen, artig Maske trugen und alle Absurditäten guthießen, die sich jene ausdachten, die auf die eine oder andere Weise von den „Regeln“ und ihren Auswirkungen profitierten. 

Letztlich sollte sich heutzutage jedermann im Spiegel seines Selbst fragen, wie er sich im Zuge der Corona-Maßnahmen verändert hat. Nur wer diesen Schritt geht, begreift auch die Veränderungen im gesellschaftlichen Rahmen und kann seinen Teil dazu beitragen, dass die Wunden jener Zeit verheilen. Am wichtigsten scheint mir dabei die Erkenntnis, dass sich nicht nur unser Verhalten, sondern auch unsere Toleranzschwelle gegenüber der Politik verändert an. Politikerinnen und Politiker dürfen sich heutzutage Äußerungen und Handlungen erlauben, die sie in der Vor-Corona-Ära umgehend ihr Amt gekostet hätten. Inzwischen haben sie ihre Immunität gegen Kritik sogar abgesichert, indem sie am 30. März 2021 den Tatbestand der Majestätsbeleidigung indirekt neu aufgelegt haben. Wir sollten uns daher immer wieder an die Vor-Corona-Ära zurückerinnern und den jetzigen Zustand mit dem damaligen vergleichen. Folgende Fragen drängen sich dabei auf: Welche Rechte und Freiräume sind uns während des Ausnahmezustands genommen worden? Inwiefern hat sich das Zusammenwirken von Politik und Medien verändert? Und: Haben wir als Flöhe eigentlich das Springen verlernt?

Epilog

Am Tag, nach dem ich die letzte Zeile dieses Artikels geschrieben hatte, war ich zu einer Besprechung außerhalb meiner Heimatstadt geladen. Bis dahin bestanden nach meinen Erfahrungen der letzten Wochen und Monate keinerlei Zweifel an den Inhalten meines Texts. Tendenziell passte das Ganze ja auch.  Umso mehr staunte ich, als mich die ersten Teilnehmer der Besprechung mit Handschlag begrüßten. Offenbar haben sich im Hinblick auf das Händeschütteln zwischenzeitlich regional unterschiedliche Gepflogenheiten etabliert. Der Brauch könnte die Corona-Ära also wohl doch noch überdauern – ein schwerer Rückschlag für die Weltkultur!

Mein nächstes Termin-Highlight des Tages bestand in einem Zahnarztbesuch. Vor der Haustür traf ich auf einen weiteren Patienten. Er stand bereits da, als ich ankam, und betätigte die Klingel – mit dem Ellbogen. Dann zog er mit komplexen Verrenkungen die nach außen öffnende Tür zurück – ebenfalls mit dem Ellbogen – und quetschte sich ängstlich durch den Türspalt. Wir stiegen nacheinander die Treppen zur Praxis hoch. Der Ellbogenmann taxierte mich dabei immer wieder über die Schulter, als wollte er mit seinen Blicken den Abstand zwischen unseren Körpern vermessen. Ganz getäuscht habe ich mich also doch nicht. Corona lebt!  

Titelbild: sophiecat / Shutterstock



Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/

Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=107217