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Titel: Auch ein Höchstmaß an Militärmacht macht verwundbar
Datum: 18. November 2023 um 10:00 Uhr
Rubrik: Friedenspolitik, Militäreinsätze/Kriege, Terrorismus
Verantwortlich: Albrecht Müller
Ein lebendiger und moderner Pazifismus drückt sich in Begegnung, gegenseitigem Zuhören und Lernen aus. Frankfurter Rundschau vom 6. Februar 2002. Von Horst-Eberhard Richter[*].
Lassen sich die Deutschen in einen Krieg hineinziehen, erscheinen prompt Artikel gegen den Pazifismus. Er wird entweder als blamable Feigheit oder als weltfremde Blauäugigkeit oder gar als getarnte Sympathie mit dem jeweiligen Feind hingestellt. Oder aber in Erklärungsnot geratene Ex-Kriegsgegner erfinden zur eigenen Entlastung einen Pazifismusbegriff, der einen von ihnen aktuell gebilligten Kriegseinsatz einzuschließen erlauben soll. Hierzulande haben sich eine Reihe von Ex-68ern in den 90er-Jahren offen von früheren pazifistischen Positionen verabschiedet und ihren Wandel zu „Verrätern” begründet. Einige darunter hatten sich allerdings nie im eigentlich pazifistischen Sinn, sondern nur gegen die amerikanischen Raketen engagiert, sodass es eher ein Frontwechsel war, wenn sie sich später auf die Seite der NATO schlugen.
Zur Bekämpfung von moralischen Selbstzweifeln hängen manche den Pazifismus-Begriff so hoch, dass er nur zu Heiligen passt, zu Jesus oder Franz von Assisi. Die Rede ist dann von einem abstrakten, von einem radikalen oder absoluten Pazifismus. Der Trick besteht darin, die Gesinnung von der politischen Realität abzukoppeln. Dabei wird immer wieder Max Webers Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik zitiert. Helmut Schmidt bemühte sich seinerzeit, die Billigung von atomaren Mittelstreckenraketen auf westdeutschem Boden verantwortungsethisch zu begründen und den Gegnern gesinnungsethische Träumerei vorzuhalten. Tatsächlich zeigte sich aber später, dass die Sowjets mit neuen Kurzstreckenraketen im Stande gewesen wären, die amerikanischen Pershings schnell auszuschalten, sodass Deutschland Opfer eines Atomkrieges hätte werden können, der sich nicht interkontinental hätte ausweiten müssen. Stattdessen erwies sich das gesinnungsethische Argument Gorbatschows, dass nur eine Humanisierung der internationalen Beziehungen des Vertrauens zu einer Auflösung des Bedrohungsdenkens schaffen könne, als entscheidendes Mittel zur Beendigung des Kalten Krieges. Gorbatschows Vorleistung mit einem Atomtest-Stopp und einseitigem Abbau konventioneller Waffen leiteten die Entspannung ein. Ganz klar erwies sich die Überlegenheit eines zugleich gesinnungsgeleiteten wie verantwortlich in den Folgen vorausbedachten Handelns.
Wer alles daransetzt, seinen Überzeugungswandel vom entschiedenen Kriegsgegner zum aktuellen Kriegsbefürworter zu verbergen, der kann, wie Ludger Volmer, sagen: Nicht ich habe mich verändert, sondern die Welt ist eine andere geworden. Seine gewundenen Argumente, in dieser Zeitung dargelegt, klingen so: Zuvor hätten es die Pazifisten nur mit Projektionen, mit eingebildeten Feindbildern zu tun gehabt. Nun aber handle es sich um wirkliche Feinde. Und deren kriegerische Bekämpfung vertrage sich noch immer mit einem „politischen Pazifismus”.
Richtig ist natürlich, dass die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 eine neue Form von politischen Massenverbrechen darstellen. Sie entsprechen in anderer Dimension dem Typ der Selbstmordanschläge der Palästinenser in Nahost. Aber die kriegerische Reaktion der USA in das Konzept eines „politischen Pazifismus” einzuordnen, wie es Volmer versucht, ist nun wahrlich eine Zumutung. Von politischem Pazifismus hätte man sprechen können, hätten die USA einen Weg eingeschlagen, den eine große Zahl von amerikanischen, kanadischen und eine Reihe von europäischen Wissenschaftlern dem amerikanischen Präsidenten und allen Kongressmitgliedern in einem Brief empfahlen: nämlich die Schuldigen an den Massenverbrechen zu verfolgen und mit den Mitteln des Rechts zu bestrafen. Stattdessen würde ein Rachekrieg erstens viele Unschuldige treffen, würde die Terrorakte zu kriegerischen Handlungen aufwerten und einen Abstieg zu der gleichen primitiven Brutalität bedeuten, der man ausgesetzt worden sei. Im Übrigen würde man damit höchstwahrscheinlich neuen Racheterror provozieren.
Tatsächlich hat der dennoch entfesselte Krieg nun in Afghanistan das schlimme Taliban-Regime, das allerdings erst von den USA selbst an die Macht gebracht worden war, beseitigt. Aber bisher ist nicht bekannt geworden, dass der Bombenkrieg, der einige Hundert Zivilisten das Leben gekostet hat, auch nur einen einzigen der Verantwortlichen für die Anschläge in den USA getroffen oder in Gefangenschaft gebracht habe. Wie sich herausgestellt hat, kamen die Täter zum überwiegenden Teil aus dem mit Amerika befreundeten Saudi-Arabien. Finanziert wurde der Terror hauptsächlich aus den Golf-Emiraten. Der eigentliche terroristische Feind ist also von dem Krieg, der nun noch auf andere Territorien ausgeweitet werden soll, gar nicht erfasst worden. Man hätte aus dem Testfall Nahost lernen sollen, dass noch überlegener Waffeneinsatz das fortwährende Nachwachsen von Selbstmordattentätern nicht verhindern, stattdessen nur fördern kann. Nahost wäre für die USA und den Westen das Lehrbeispiel, das davor warnt, eine endlose Gewaltkette zu entfesseln, die nur auf einem Wege gebrochen werden kann, wie er durch die Vereinbarungen von Oslo beinahe schon erreichbar schien. Fast drei Jahre war der Terrorismus fast verschwunden, als die Palästinenser auf einen baldigen unabhängigen Staat und auf Freigabe der besetzten Gebiete hoffen konnten.
In dieser Richtung allein liegt die Chance für eine Austrocknung des Nährbodens für islamitische terroristische Gewalt. Und es wäre kurzsichtig, die Palästinenser etwa aus ihrem Zentrum in Ost-Jerusalem, ihrer zweitheiligsten Stätte, hinausdrängen zu lassen. Darüber sind sich die Friedensgruppen auf israelischer und palästinensischer Seite, denen bislang allerdings durch die Grenzsperren eine Zusammenarbeit verweigert wird, längst einig.
So ist der 11. September am allerwenigsten ein Argument für eine Rehabilitation des Krieges, viel eher für eine Erweiterung des Programms eines modernen Pazifismus. So deutlich wie nie zuvor haben die Terroranschläge bewiesen, dass selbst ein Höchstmaß an offensiver und defensiver Militärmacht, verbunden mit dem aufwendigsten weltweit operierenden Geheimdienst, nichts an der eigenen Verwundbarkeit ändert. Die Globalisierung führt uns vielmehr vor Augen, dass es eine partielle Ohnmacht der Mächtigsten und eine partielle Macht der Ohnmächtigsten gibt, das heißt eine unsichtbare Beziehung zueinander, die zur Abwendung einer zerstörerischen Interaktion unbedingt Bemühungen um eine konstruktive Kooperation verlangt.
Das hat der renommierte amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber unmittelbar nach den Anschlägen in einem Brief an Präsident Bush präzise so formuliert: „Terrorismus ist die negative und verzerrte Form der gegenseitigen Abhängigkeit, die wir in der positiven und nützlichen Form nicht anzuerkennen bereit sind.”
Es gibt also in der globalisierten Gesellschaft nur eine gemeinsame Sicherheit. Kein Weg führt daran vorbei, mit den islamischen Ländern, deren Mehrheiten sich ohnehin zum eigenen Nutzen ein friedliches Zusammenleben mit dem Westen wünschen, engere Verbindungen zu knüpfen. Ein zeitgemäßer Pazifismus ist nicht mehr ein auf das Militärische eingeengter Antipazifismus, sondern ein auf eine Kultur des Friedens zielender Propazifismus.
Das schließt keine gezielten Polizeiaktionen gegen Massenverbrechen aus. Sein Schwerpunkt liegt indessen in konstruktiver Arbeit am Abbau von Ungerechtigkeiten und aggressionsträchtigen Entfremdungen. Alle noch so großartigen technischen Kommunikationsmöglichkeiten nützen nichts, wenn nicht der Wille zu persönlichen Begegnungen, zu gegenseitigem Zuhören und zum Lernen voneinander hinzutreten. Nur die Bemühung um menschliche Nähe zueinander weckt das Bewusstsein für die gegenseitige Verantwortung. Verantwortung ist Nähe, und Nähe ist Verantwortung, stellte der polnische Soziologe Zygmunt Bauman fest. Einen lebendigen Pazifismus dieser Art führt der gebrechliche Papst Wojtyla vor: 2000 hat er an der Klagemauer in Jerusalem gebetet.
2001 hat er als erstes katholisches Kirchenoberhaupt die Omaijaden-Moschee in Damaskus besucht. Er setzt sich für eine Beendigung der Embargos gegen Kuba und Irak ein und neuerdings gegen eine Ausdehnung der Terroristenverfolgung auf Länder, Nationen und Religionen. Dafür nimmt er Kritik aus der römischen Kurie in Kauf. Stirnrunzeln erträgt auch Bundespräsident Rau für seine Äußerungen, wonach andere Kulturkreise uns im Westen Vorstellung und Forderungen entgegenhielten, unser Verhalten zu ändern, was wir akzeptieren müssten.
Hoch geachteten Autoritäten kann man schwer offen entgegentreten, wenn sie sich mit solchen selbstkritischen Äußerungen oder mutigen Versöhnungsgesten herwagen. Anderen, die sich im gleichen Sinne für ein Brückenschlagen einsetzen, ergeht es ähnlich wie den humanistischen Gruppen der Friedensbewegung Mitte der 80er-Jahre, denen das Eintreten für eine blockübergreifende Verständigung und Vertrauensbildung prompt als Ausscheren aus der gebotenen westlichen Solidarität ausgelegt wurde. So wie sich im Augenblick Staatsminister Ludger Volmer nicht verkneifen kann, Kriegskritikern Verdrängung und eine Verkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses vorzuwerfen, genauso wurden wir Friedensärzte der IPPNW von der bundesdeutschen Obrigkeit öffentlich diskriminiert, als wir 1985 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden.
Damals protestierte sogar Helmut Kohl in Oslo höchstpersönlich und musste sich vom Vorsitzenden des Nobel-Komitees sagen lassen, dass er der erste Regierungschef nach Adolf Hitler sei, der in dieser Eigenschaft gegen eine Preisvergabe protestiert habe. Wie in den 80er-Jahren werden sich auch heute Pazifisten im echten Sinne nicht durch die üblichen Verdächtigungen einschüchtern lassen. Sie werden zunächst am Abbau der neuen Variante der geistigen Spaltung der Welt in die Guten, das sind wir, und das Böse draußen weiterarbeiten in der Besorgnis, dass dieses Böse möglichst bald noch je nach strategischer Planung weiteren Ländern zugeteilt werden soll.
[«1] Eine Erinnerung der Universität Gießen an Horst-Eberhard Richter.
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