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Titel: Neue Welle des Antisemitismus?
Datum: 16. November 2023 um 9:10 Uhr
Rubrik: Antisemitismus, Audio-Podcast, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Medienkritik
Verantwortlich: Redaktion
Seit der Brandrede von Bundeswirtschaftsminister Habeck „Zu Israel und Antisemitismus“ vom 2. November mehren sich in den Medien Beiträge, in denen mit vermeintlich aussagekräftigen Zahlen des Bundeskriminalamts eine deutliche Steigerung antisemitischer Straftaten nach dem 7. Oktober belegt werden soll. Doch bei näherer Überprüfung rechtfertigen diese Daten größtenteils die Schlüsse nicht, die aus ihnen gezogen werden. Findet derzeit eine politische und mediale Vorverurteilung von muslimischen Mitbürgern statt, die selbst einen fremdenfeindlichen Akt darstellt? Von Karsten Montag.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Betrachtet man die Bilder und Videoaufnahmen der propalästinensischen Demonstrationen seit dem 7. Oktober 2023 in Deutschland, liegt die Vermutung nahe, dass es aufgrund der dort verwendeten Plakate und Parolen zu einer Steigerung antisemitischer Straftaten im letzten Quartal 2023 kommen wird. Auch die vielen Einzelmeldungen über Sachbeschädigungen und Propagandadelikte mit antisemitischem Hintergrund erwecken den Eindruck, dass sich die Straftaten in diesem Bereich um ein Mehrfaches erhöht haben.
Im Fokus der politischen und medialen Anschuldigungen stehen insbesondere in Deutschland lebende Menschen arabischer Herkunft und muslimischen Glaubens. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat sich in seiner Rede vom 2. November 2023 sogar explizit an diese Zielgruppe gewendet und ihnen gedroht, sie würden „ihren eigenen Anspruch auf Toleranz“ unterlaufen, falls sie sich nicht „klipp und klar von Antisemitismus distanzieren“.
Unabhängig davon, dass die Formulierung des Ministers an sich bereits rechtlich bedenklich ist, fehlt es bisher an belastbaren Daten, in welchem Maße antisemitische Straftaten in Deutschland seit dem 7. Oktober zugenommen haben und welches gesellschaftliche Phänomen – rechts, links, ausländische Ideologie oder religiöse Ideologie – dafür verantwortlich ist. Diese Einteilung führt auf die Definitionen der Ausprägung politisch motivierter Kriminalität des Bundeskriminalamts zurück. Eine Straftat wird in die Kategorie „ausländische Ideologie“ eingeordnet, wenn Anhaltspunkte vorliegen, dass eine aus dem Ausland stammende nichtreligiöse Ideologie entscheidend für die Tatbegehung war. Analog wird eine Straftat in die Kategorie „religiöse Ideologie“ eingeordnet, wenn Anhaltspunkte vorliegen, das eine Religion, beispielsweise der Islam, zur Begründung der Tat instrumentalisiert wurde.
Trotz fehlender offizieller Zahlen finden sich, insbesondere nach Habecks Rede, viele Beiträge in den Medien, die aufgrund von vermeintlich aussagekräftigen Daten eine Zunahme der antisemitischen Straftaten in Zusammenhang mit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel belegen wollen.
Im Folgenden werden exemplarisch drei Beiträge aus ARD und ZDF genauer untersucht, die auf Basis von Zahlen des Bundeskriminalamts den Eindruck erzeugen, dass wir in Deutschland derzeit eine neue Welle antisemitischer Straftaten aufgrund ausländischer oder religiöser Ideologie erleben. Bei der Analyse dieser Beiträge handelt es sich um eine Momentaufnahme anhand der bis Mitte November 2023 zur Verfügung stehenden offiziellen Daten des Bundeskriminalamts. Es soll überprüft werden, ob die verantwortlichen Journalisten, Redaktionen sowie deren Interviewpartner sauber argumentiert haben oder ob sie ohne faktische Grundlage ein Bild erzeugen, das sich anhand der von ihnen angeführten Informationen nicht bestätigen lässt.
„Deutliche“ Zunahme antisemitischer Straftaten schon vor den propalästinensischen Demonstrationen?
In einem Beitrag vom 6. November bei ZDF heute mit dem Titel „Antisemitische Straftaten nehmen deutlich zu“ heißt es:
„Im laufenden Jahr zeichnet sich eine deutliche Zunahme antisemitischer Straftaten in Deutschland ab. So wurden im dritten Quartal 2023 bislang 540 antisemitisch motivierte Straftaten polizeilich erfasst und damit deutlich mehr als in früheren Quartalen, wie aus einer Kleinen Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervorgeht. (…) ‚Das ist insbesondere daher erschreckend, da die Eskalation antisemitischer Gewalt und Bedrohungen seit dem 7. Oktober 2023 hier noch gar nicht mit aufgeführt sind‘, sagte die Linken-Politikerin Petra Pau der ‚Rheinischen Post‘: ‚Es ist zu befürchten, dass sich die Gefahrenlage von Jüdinnen und Juden für den Rest des Jahres noch weiter verschärft.‘“
Anhand der Antworten der Bundesregierung auf frühere Anfragen linker Abgeordneter zum selben Thema lässt sich feststellen, ob die Zahl der im dritten Quartal 2023 erfassten antisemitischen Straftaten tatsächlich deutlich höher liegt als in vorangegangenen Quartalen oder ob der Autor des ZDF-Beitrags den Bezugszeitraum nur geschickt ausgewählt hat, um den Eindruck zu erzeugen, die Anzahl der antisemitischen Straftaten im dritten Quartal sei überdurchschnittlich hoch. Das Resultat ist erstaunlich und spricht für sich selbst.
Antisemitismus ist ein vorrangig rechtes Phänomen
Beleuchtet man die gesellschaftlichen Hintergründe antisemitischer Straftaten der letzten zwei Jahrzehnte, wird noch ein ganz anderer Zusammenhang deutlich.
Antisemitismus ist in Deutschland ein vorrangig rechtes Phänomen. Auch in den ersten drei Quartalen in 2023 liegt der Anteil rechter antisemitischer Straftaten bei 84 Prozent und damit auf dem Niveau von 2022 (83 Prozent) und 2021 (84 Prozent).
Die Zunahme der registrierten Straftaten in den letzten fünf Jahren ist unter anderem auch auf die Einrichtung von neuen Meldestellen für antisemitische Vorfälle zurückzuführen. Anfang 2015 hat die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Berlin ihren Betrieb aufgenommen. Seit Februar 2019 sind auch bundesweite Meldungen möglich. Zudem unterhält RIAS im November 2023 bereits in elf von 16 Bundesländern eigene Meldestellen. Nach einer Meldung bieten diese zivilrechtlichen Einrichtungen, die von der Bundes- sowie den jeweiligen Landesregierungen gefördert werden, eine weiterführende Beratung beispielsweise hinsichtlich einer Strafanzeige bei der Polizei an.
2.000 antisemitische Straftaten durch propalästinensische Demonstranten in nur drei Wochen?
In einem Videobeitrag bei ZDF heute vom 8. November 2023 machte der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, folgende Aussage:
„Seit dem 7. Oktober verzeichnet das Bundeskriminalamt über 2.000 Straftaten mit Bezug auf den Nahostkonflikt. Wenn man das vergleicht mit insgesamt 2.641 antisemitischen Straftaten, die 2022 verzeichnet wurden, zeigt das die ganze Dramatik des Geschehens.“
Es entsteht der Eindruck, dass in nur weniger als einem Monat annähernd ebenso viele antisemitische Straftaten begangen wurden wie in einem ganzen Jahr. Erst bei genauem Hinsehen wird deutlich, das Klein im Grunde Äpfel mit Birnen vergleicht. Denn politisch motivierte Straftaten mit Bezug auf den Nahostkonflikt sind nicht gleichzusetzen mit antisemitischen Straftaten.
Ebenso wie es während der Corona-Krise zu Verboten von Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen gekommen ist, haben eine ganze Reihe an Städten und Kommunen ab Mitte Oktober propalästinensische Demonstrationen untersagt. Trotzdem haben sich viele Menschen versammelt und öffentlich unter anderem für einen Waffenstillstand zwischen der Hamas und der israelischen Armee sowie für ein Ende der Bombardierung von Zivilisten in Gaza demonstriert. Ähnlich wie bei den verbotenen Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen ist es bei deren gewaltsamen Auflösungen auch im Oktober 2023 zu Zusammenstößen der Protestierenden mit der Polizei gekommen.
In der Originalmeldung des Tagesspiegels vom 31. Oktober, auf die sich Klein offensichtlich bezieht, heißt es:
„Im Zusammenhang mit dem Hamas-Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober sind nach Angaben des BKA bereits über 2000 Straftaten festgestellt worden. Im Schwerpunkt würden Körperverletzungs- und Widerstandsdelikte, Landfriedensbrüche, Volksverhetzungen sowie Sachbeschädigungen verzeichnet.“
Das Bundesinnenministerium gibt in seinem Jahresbericht 2022 zur politisch motivierten Kriminalität circa 5.400 Fälle von Straftaten gegen die Polizei an. Knapp 60 Prozent davon waren Widerstandsdelikte, Körperverletzungen, Landfriedensbrüche, Sachbeschädigungen und Beleidigungen. Nur weniger als ein Fünftel davon wurde als Propagandadelikt registriert.
Es ist also davon auszugehen, dass ein Großteil der von Klein benannten 2.000 Straftaten mit Bezug auf den Nahostkonflikt höchstwahrscheinlich keinen antisemitischen Hintergrund hat, sondern aus Zusammenstößen von Protestierenden und der Polizei, beispielsweise bei der gewaltsamen Auflösung von verbotenen Demonstrationen, resultiert.
Es wäre nicht das erste Mal, dass der Antisemitismus-Beauftragte Klein zweifelhafte Aussagen tätigt. In einem Interview mit der Welt im August 2023 sagte er in Bezug auf die israelische Besetzung palästinensischer Gebiete: „Israel Apartheid zu unterstellen, delegitimiert den jüdischen Staat und ist daher ein antisemitisches Narrativ, an dessen Verwendung Kritik geübt werden kann und soll.“
Darauf erwiderte Omer Bartov, einer der angesehensten Historiker auf dem Gebiet der Holocaust- und Genozid-Forschung, in einem Interview mit dem Spiegel im November 2023:
„Bei allem Respekt für einen deutschen Bürokraten: Wenn er diese Aussage antisemitisch findet, sollte er zunächst studieren, was Antisemitismus ist. (…) Der Vorwurf des Antisemitismus ist leider oft ein billiges Werkzeug, um andere Meinungen zu diskreditieren. Ein von Deutschland ernannter Beamter sollte sehr vorsichtig sein, wenn er Juden beschuldigt, antisemitisch zu sein.“
Bartov hatte im August 2023 eine Petition initiiert, die von fast 2.500 jüdischen Akademikern, Geistlichen und Personen des öffentlichen Lebens unterzeichnet wurde und in der es unter anderem hieß: „Es kann keine Demokratie für Juden in Israel geben, so lange Palästinenser unter einem Apartheid-Regime leben.“
Anzahl antisemitischer Sachbeschädigungen ist deutlich überdurchschnittlich, Anzahl der Angriffe auf Synagogen jedoch nicht
Am 9. November veröffentlichte die Tagesschau einen Beitrag mit dem Titel „Welle antisemitischer Übergriffe seit 7. Oktober“. Die Kernaussage lautet:
„Seit dem Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober ist es in Deutschland zu mindestens 80 Fällen von Sachbeschädigung gekommen, die Ermittlungsbehörden als antisemitische Straftaten werten. (…) In mindestens drei Fällen richteten sich die Straftaten demnach unmittelbar gegen religiöse Einrichtungen.“
Die Quelle der Information ist die Antwort der Bundesregierung auf eine Frage der Linken-Abgeordneten Martina Renner im Bundestag. Darin werden 80 Sachbeschädigungen mit antisemitischem Hintergrund sowie vier Sachbeschädigungen von Synagogen und religiösen jüdischen Einrichtungen benannt. Eine Recherche zu den letzteren Ereignissen ergibt, dass nur in zwei der Fälle Synagogen betroffen waren. Bei den anderen beiden Fällen der Beschädigung religiöser Einrichtungen handelte es sich um einen umgestoßenen jüdischen Grabstein in Westerstede sowie um ein beschmiertes Fenster des Gebäudes der Jüdischen Gemeinde in Rostock.
Seit 2019 werden in den Berichten des Bundesinnenministeriums zur politisch motivierten Kriminalität Angriffe auf Synagogen aufgeführt. Die durchschnittliche Anzahl der monatlichen Angriffe auf Synagogen schwankt seither zwischen 2,0 (2020) und 4,1 (2021).
Zwei Angriffe auf Synagogen in Deutschland in einem Zeitraum von einem Monat stellen keinen überdurchschnittlichen Wert dar. Zudem existiert eine hohe statistische Wahrscheinlichkeit, dass in mindestens einem Fall ein rechtes Phänomen dahinter zu vermuten ist.
Anders verhält es sich hingegen bei den übrigen Sachbeschädigungen mit antisemitischem Hintergrund. Zwar liegen für den vorangegangenen Zeitraum keine gesonderten Zahlen hierfür aus den Jahresberichten des Bundesinnenministeriums vor, doch die Antworten der Bundesregierung auf die Kleinen Anfragen der Linken enthalten Informationen über antisemitische Sachbeschädigungen zwischen dem ersten Quartal 2022 und dem ersten Quartal 2023. Demnach schwankte die Anzahl der Sachbeschädigungen mit einem antisemitischen Hintergrund je Quartal zwischen 30 und 38.
80 Sachbeschädigungen in knapp einem Monat würde eine rechnerische Erhöhung um ungefähr den Faktor acht bedeuten. Dies ist der erste und bisher einzige offizielle konkrete Hinweis, dass sich die antisemitischen Straftaten, zumindest hinsichtlich der Sachbeschädigungen, seit dem 7. Oktober bundesweit deutlich erhöht haben. Es fehlt jedoch die Information, ob tatsächlich vornehmlich eine ausländische oder religiöse Ideologie für die Steigerung dieser Straftaten verantwortlich ist.
Unsauberes Arbeiten in den Redaktionen von ARD und ZDF
Obwohl eine Steigerung der antisemitischen Straftaten aufgrund der propalästinensischen Proteste höchstwahrscheinlich zu erwarten ist, sind die Belege, welche die Redaktionen von ARD und ZDF sowie der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung Felix Klein hierfür vorgelegt haben, allesamt unsauber hergeleitet. Es findet eine politische und mediale Vorverurteilung einer in Deutschland lebenden Bevölkerungsgruppe statt, die selbst häufig Opfer politisch motivierter Straftaten und Gewalt hauptsächlich aus dem rechten Milieu ist. Es stellt sich die Frage, ob diese Vorverurteilung nicht selbst ein Akt von Fremdenfeindlichkeit ist.
Politik und Medien müssen sich den Vorwurf des Handelns nach zweierlei Maß gefallen lassen
In den Jahren 2015 und 2016 kam es im Rahmen der sogenannten „Flüchtlingskrise“ zu einem drastischen Anstieg fremdenfeindlicher Straftaten. Diese haben sich im Vergleich zu den Vorjahren annähernd verdreifacht. Die Täterschaft lässt sich fast ausschließlich auf das rechte politische Spektrum der Gesellschaft zurückführen.
Besonders erschreckend war der Anstieg der fremdenfeindlichen Gewalttaten, die bis heute nicht auf das Niveau vor 2015 zurückgegangen sind.
Eine derartige Reaktion, wie sie derzeit von Politik und Medien auf die größtenteils noch auf Vermutungen beruhende Steigerung antisemitischer Straftaten erfolgt, hat es vor acht Jahren nicht im Ansatz gegeben, selbst als eindeutige Zahlen vorlagen.
Antisemitismus mag zwar in Deutschland aufgrund der besonderen Geschichte dieses Landes einen sehr hohen Stellenwert in der öffentlichen Wahrnehmung einnehmen. Das oberste Gebot der Menschenrechte lautet jedoch: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“. Vor diesem Hintergrund senden die ungleichen Reaktionen auf sehr ähnliche Phänomene die Botschaft aus, die Sicherheit jüdischen Lebens sei in Deutschland mehr wert als diejenige von anderen „Fremden“. Entweder sind die Reaktionen von Politik und Medien Mitte der 2010er-Jahre auf die gestiegene Anzahl fremdenfeindlicher Straftaten zu gering ausgefallen oder die aktuellen Reaktionen sind unverhältnismäßig hoch.
Noch deutlicher wird der ehemalige Vorsitzende Richter am 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs Thomas Fischer in einem Beitrag im Spiegel, in dem er die Rede Habecks vom 2. November aus rechtlicher Perspektive analysiert:
„Das Schockierende an der Botschaft des Ministers ist, dass er den Anspruch auf Toleranz mit dem Anspruch auf Schutz vor rechtsradikaler Gewalt auf die Schalen derselben Waage legt. (…) Wir schützen euch, Muslime, derzeit vor der rechtsradikalen Gewalt. Ihr verwirkt diesen Schutz aber, wenn ihr nicht klipp und klar darlegt, dass ihr unserer Meinung seid. (…) Der Ansatz des Ministers zur rhetorischen Verteilung, Zubilligung und Verwirkung von Ansprüchen auf Schutz und Toleranz erweist sich als stinknormale Variante des moralverbrämten Rassismus.“
Titelbild: Screenshot BMWK
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