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Titel: Die Welt wandelt sich – und der Westen schlafwandelt

Datum: 30. Oktober 2023 um 11:44 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Militäreinsätze/Kriege, Wertedebatte, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Noch am 26. Februar 2022 hätte kaum jemand für möglich gehalten, was der Ukraine-Krieg möglich gemacht hat: Fast alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages* jubelten am 27. Februar in einer Sondersitzung des Bundestages, die anlässlich des Krieges Russlands gegen die Ukraine einberufen wurde, geradezu berauscht im Anschluss der Kanzlerrede, in der er die „Zeitenwende“ verkündete. Mit diesem Begriff sollte eine Zäsur deutscher Politik in der Sicherheits- und Rüstungspolitik eingeläutet werden. Man erinnere sich: Kanzler Scholz hat mal eben 100 Mrd. Euro Sonderfonds (kreditfinanziert!!!) für die Bundeswehr und die sofortige Anhebung des jährlichen Militärbudgets auf 2 Prozent des BiP angekündigt. Von Alexander Neu.

„Zeitenwende“ – es kam anders als erwartet

Und tatsächlich offenbarte sich mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine eine Zeitenwende, indessen eine Zeitenwende im geopolitischen und geo-ökonomischen Sinne, mit der weder der Erfinder der „Zeitenwende“, Olaf Scholz, noch die Bürger in unserem Land, noch der Westen gerechnet hätten: Eine Beschleunigung des Zusammenbruchs der alten, der westlich dominierten Weltordnung.

Noch immer klingen die Worte der Außenministerin Annalena Baerbock in den Ohren, wonach sie Russland als Strafe für den Angriff auf die Ukraine ruinieren wolle. Die Wirtschaftsdaten zeigen nicht nur das Gegenteil für die russische Wirtschaft, nein, schlimmer noch, vielmehr rutscht Deutschland in die Rezession. Die Ursachen mögen mannigfaltig sein, aber es gibt eben auch vermeidbare, hausgemachte Fehler, wie der Stopp des Imports günstiger russischer Energieträger, die nun mal eine wesentliche Säule des deutschen Wohlstandes darstellten. Stattdessen importieren wir beispielsweise russische Energieträger mit indischem Etikett zu einem erhöhten Preis. Die Russen nehmen es gelassen, die Inder machen Profit und der deutsche Michel muss tiefer in die Tasche greifen. Die Ampel sollte feststellen (und hoffentlich reift die Erkenntnis), dass Weltpolitik und Weltwirtschaft interdependenter und komplexer sind, als sie wohl erwartet haben: Dreht man an einem Schräubchen, so kann ein Effekt im Gesamtapparat entstehen, den man so gar nicht erwartet hatte. Und so schwebt nun das Damoklesschwert der Deindustrialisierung Deutschlands über uns und damit über unserem Wohlstand. Und die Ampel? Sie setzt diesen desaströsen, für Deutschland suizidalen Kurs unter Führung der Grünen und seltsamer Duldung der SPD und FDP unbeirrt fort.

Geopolitische und geoökonomische Zeitenwende mit Ansage

Die „goldenen Zeiten“ der westlichen Globaldominanz gehen zu Ende. Zu dieser Einsicht gelangen nun endlich auch Politikwissenschaftler mit eher konservativer Ausrichtung wie Herfried Münkler:

„Ein solches System (multipolare Weltordnungsstruktur, A. Neu) ist außerdem bereits mehr als in Grundzügen existent. Die USA sind bis heute ein globaler Hegemon, China ist aber durch seinen Aufstieg immer mächtiger geworden. Russland wird immer ein Wort mitzureden haben – allein aufgrund seines nuklearen Potenzials. Indien wiederum ist eine aufsteigende Macht, die zudem die größte Bevölkerung unter den Staaten der Erde repräsentiert. Wir sollten das sehr ernst nehmen.
Quelle: T-Online

Es ist indessen nicht nur eine Zäsur, bei dem eine Großmacht innerhalb der westlichen Hemisphäre den Herrschaftsstab an eine andere übergeben muss, so wie die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich als Ergebnisse des Ersten und Zweiten Weltkrieges den Stab an die USA abgeben mussten. Nein, es ist ein tatsächlich umfassender Epochenbruch, der das Ende der unipolaren Weltordnung unter Führung der USA, der globalen „Pax Americana“, darstellt. Ein Bruch, der das Ende der über 500-jährigen Globaldominanz des Westens über den Rest der Welt darstellt. Eine Dominanz, die viele Jahrhunderte auch eine blutige Kolonialgeschichte gegen den Globalen Süden beinhaltet. Diese Kolonialgeschichte ist tief in der Erinnerungskultur des Globalen Südens verankert und bildet, trotz aller Interessenunterschiede im Einzelnen, eine Art gemeinsamen Identitäts- und Handlungsrahmen. Das enorme Interesse von Staaten des Globalen Südens oder besser gesagt des Nicht-Westens an der Schanghaier-Kooperations-Organisation und am BRICS-Bündnis sind konkreter Ausdruck dieses gemeinsamen Identitäts- und Handlungsrahmens. Es ist der Ausdruck einer tiefsitzenden anti-westlichen Haltung angesichts der Kolonialgeschichte sowie der fortgesetzten Dominanzpolitik auch nach der formalen Entlassung der Kolonien in die Freiheit, der bisweilen zwanghafte Versuch der Universalisierung westlicher Werte als globale Werte, der Versuch, das UNO-Völkerrecht durch eine westliche „regelbasierte Ordnung“ zu ersetzen etc.

Im Westen werden diese Zusammenschlüsse offiziell noch belächelt – zu groß seien die Differenzen beispielweise zwischen Pakistan und Indien, zwischen Iran und Saudi-Arabien. Dass diese Staaten dennoch miteinander und ohne den Westen, bisweilen sogar gegen den Westen kooperieren, sollte dem Westen eher zu denken geben, als dies schlafwandelnd zu belächeln. Die unipolare Weltordnung ist vorbei, nur der Westen hat es noch nicht begriffen respektive akzeptiert. Es kann nicht sein, was nicht sein darf, scheint die Losung in den westlichen Hauptstädten zu sein.

Dieser Prozess des globalen Wandels verlief über zehn Jahre still und unauffällig. Erst der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat den Wandel manifestiert. Der Versuch des Westens, Russland mit der in der Geschichte höchsten Zahl an Sanktionsmaßnahmen international zu isolieren, ist gescheitert. Immer deutlicher wird, dass Russlands Krieg auch ein Stellvertreterkrieg ist. Russland, aber auch China gegen den Westen. Andere Staaten des Globalen Südens verweigern dem Westen zu seiner Überraschung die Gefolgschaft und verfolgen stattdessen selbstbewusst im Schatten des Krieges ihre nationalen Interessen. Der Stellvertreterkrieg hat mithin die globale Zeitenwende katalysiert. Und dennoch tut man im Westen so, als habe man alles im Griff. Was für eine Fehlperzeption, die der eigenen Hybris geschuldet ist.

Drei Konferenzen in 2023 – der Westen muss aufwachen aus seiner Dominanzillusion

Vor wenigen Tagen feierte die chinesische Regierung das zehnjährige Bestehen ihres geopolitischen und geoökonomischen Infrastrukturprojekts „Belt and Road Initiative“ – kurz das Seidenstraßenprojekt in Form eines gewaltigen Gipfels.

An dem Gipfel nahmen Vertreter von rund 130 Staaten teil. Auch nahmen wohl europäische und deutsche Vertreter daran teil, unterzeichneten jedoch weder die Abschlusserklärung noch eine Erklärung zum Handel.

In einem Interview mit dem Manager Magazin erklärt die Co-Direktorin der Geopolitics and Economics Initiative am Institut für Weltwirtschaft den Charakter des Seidenstraßenprojekts, dem sich bis heute rund 150 Staaten angeschlossen haben. Auf die Frage, wie die Europäer, aber auch die USA sich so haben abhängen lassen, d.h. dem Seidenstraßenprojekt nur unzureichend Beachtung geschenkt hätten, antwortet sie: „Insbesondere die Europäer haben die Seidenstraße lange nicht als das verstanden, was sie ist: ein geoökonomisches Machtinstrument (…)“. Wie geht man nun damit um? Ich denke, dass angesichts der Tatsache, dass die Seidenstraße eine relevante Realität darstellt, man nun versuchen muss, sich einzubringen, um auch für Europa Vorteile aus dem Projekt zu ziehen. Denn ob das 2021 ausgerufene EU-Gegenprojekt „Global Gateway“ über die reine Absichtserklärung hinaus wirklich operativ aufgebaut werden wird, steht in den Sternen. Allein die Finanzierung scheint auf wackeligen Beinen zu stehen. Hinzu kommt die Frage, ob es wirklich sinnvoll ist, ein Konkurrenzprojekt zu erstellen und damit viele Länder wieder mit dem unsäglichen Wir-oder-die-Ultimatum zu beglücken. Wie wäre es mit einem kooperativen statt konkurrierenden Ansatz? Fakt ist doch, China stellt als geo-ökonomische Supermacht eine Realität dar.

Selbst das angeblich isolierte Russland veranstaltet internationale Wirtschaftsforen, bei denen Teilnehmer aus aller Welt erscheinen: So nahmen laut Organisatoren des Wirtschaftsforums am diesjährigen Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg (SPIEF) über 17.000 Teilnehmer aus 130 Staaten teil.

Den diesjährigen Russland-Afrika-Gipfel, an dem „nur“ 49 Staaten statt 54 Staaten teilgenommen hatten und auch „nur“ 17 Staats- und Regierungschefs, sehen Tagesschau und Deutschlandfunk als Beleg für eine zunehmende Isolation Russlands.

Auch die Abschlusserklärung des diesjährigen G20-Gipfels fiel im Vergleich zur Abschlusserklärung des Jahres 2022 hinter die Forderungen des Westens hinsichtlich der Verurteilung Russlands nach langen und zähen Verhandlungen zurück. Russland verhinderte erfolgreich Textpassagen, in denen der Angriffskrieg ausdrücklich verurteilt wurde. Die Kompromissformel bestand in der Forderung, dass militärische Gewaltmaßnahmen und deren Androhung generell – in Anlehnung an das Gewaltverbot der UNO-Charta – für alle Staaten abgelehnt werden.

Dass es Russland gelang, die Abschlusserklärung so zu entschärfen, ist wohl im Wesentlichen damit zu erklären, dass die nicht-westlichen Teilnehmerstaaten den westlichen Positionen nicht in Gänze gefolgt sind. Dennoch hat Bundeskanzler Olaf Scholz den G20-Gipfel laut Tagesschau als Erfolg gewertet: „Im Text werde die ‚territoriale Integrität‘ aller Länder betont. Russland habe schließlich ‚seinen Widerstand gegen einen solchen Beschluss aufgegeben‘”. Tatsächlich ist das ein scheinbarer Erfolg – auch für die Republik Serbien, da der G20-Gipfel somit wohl dann auch die territoriale Integrität Serbiens betont. Zur Erinnerung: Die Albaner des Kosovo hatten 2008 mit westlicher Unterstützung die Sezession des Kosovo von Serbien gegen dessen erklärten Willen einseitig erklärt. Damit wurden die UNO-Charta sowie die UN-Sicherheitsratsresolution 1244 eindeutig gebrochen. Nun fällt mir soeben ein, dass die Politikerkollegen der anderen Parteien mir immer mit ernster Miene und ohne jegliche Selbstzweifel erklärten, dass das mit dem Kosovo und Serbien was anderes und völkerrechtlich gedeckt sei. Ach ja, ich vergaß. It’s something different, wie man im Englischen so schön zu sagen pflegt, wenn Doppelstandards beschönigt werden sollen.

Nun im Ernst, die Abschlusserklärung ist zumindest auf diese Passage bezogen nicht das Papier wert, auf dem sie steht. Weder wird der Westen den Kosovo an Serbien zurückgeben, noch wird Russland die ukrainischen Gebiete an die Ukraine zurückgeben. Eine Wiederherstellung der territorialen Integrität Serbiens und der Ukraine wäre in beiden Fällen nur nach dem erfolgreichen Muster Berg-Karabach/Aserbaidschan möglich – also militärischer Sieg.

Doppelstandards kann sich der Westen nicht mehr leisten

Es sind aber genau diese Doppelstandards, die die westliche Glaubwürdigkeit zur Erosion brachten und bringen und den Nicht-Westen trotz aller internen Differenz gegen den Westen aufbringen. In der Zeit der unipolaren Weltordnung konnte man sich Doppelstandards noch leisten – zumindest mittelfristig. Die Politik der Doppelstandards hatte zunächst keinerlei negativen Konsequenzen unter machtpolitischen Aspekten. Zwar wurde damit das Völkerrecht geschliffen, aber wen interessierte es im Westen, da der Rest der Welt dem nichts entgegenzusetzen vermochte.

Nun sieht es gänzlich anders aus. In der sich anbahnenden multipolaren Welt(un)ordnung führen jegliche völkerrechtswidrigen Verhaltensweisen und Doppelstandards zu unmittelbaren Reaktionen des Nicht-Westens. Und sei es nur, dass die Gefolgschaft dem Westen gegenüber, wie beispielsweise in den Sanktionsfragen gegenüber Russland, schlicht aufgekündigt wird. Und nochmal: Dass die Staaten des Nicht-Westens trotz aller bisweilen massiven Interessendifferenzen in ihrem Binnenverhältnis in ihrer Haltung als Antipode zum Westen vereint sind, zeigt, wie sehr dieser Teil der Welt sich vom Westen emanzipiert. Oder anders ausgedrückt: Der Westen kann sich keine Doppelstandards mehr leisten, will er seinen Einfluss auf die Gestaltung der Staatenwelt nicht noch weiter einbüßen. Und dennoch scheinen die unübersehbaren Signale des Nicht-Westens gegenüber dem Westen von diesem nicht wahrgenommen zu werden. Ganz so, als lebte der Westen in einer Blase, die jegliche Informationen von außen abprallen lässt.

Und diese Verhaltensweise zeigt sich auch am Umgang mit dem Israel-Palästina-Konflikt: Die sehr eindeutige Positionierung des Westens und auch der Bundesregierung auf israelischer Seite. Man kann eine solche Position vertreten oder auch nicht. Gerade Deutschland steht angesichts seiner Geschichte mit sechs Millionen getöteter Juden in einer besonderen und unverhandelbaren Verantwortung gegenüber Israel. Nur, wie sieht diese Verantwortung aus? Wenn die Gefahr besteht, dass das humanitäre Völkerrecht gebrochen wird, oder tatsächlich schon gebrochen wird, d.h. zivile Opfer leichtfertig in Kauf genommen werden, dann ist das inakzeptabel. Zivile Opfer sind zivile Opfer, gleich auf welcher Seite. Dies muss das humanistische Grundverständnis jeglicher Politik sein.

Und zivile Opfer zu verhindern, gilt ausdrücklich für beide Konfliktparteien. Die toten Kinder, Frauen und Männer auf israelischer Seite, die von der Hamas ermordet wurden, wiegen genauso schwer wie die toten Kinder, Frauen und Männer auf palästinensischer Seite, die durch die Bomben auf Gaza getötet wurden. Es darf keine Zwei-Klassen-Opfer geben. Eine Politik der Zwei-Klassen-Opfer ist kein Humanismus, sondern Rassismus.

Der Schutz aller Zivilisten muss eine ultimative Forderung an alle Seiten sein. Und darüber müssen die Konfliktparteien verhandeln. Auch, wenn man die Hamas als islamistische Gruppierung nicht sonderlich sympathisch findet und wenig Neigung zu Gesprächen mit ihr entfaltet. Aber im Krieg verhandelt man nun mal mit dem Gegner, nicht mit dem Freund. Es ist mithin eine Frage politischer Professionalität, mit der Hamas auf eine Weise zu interagieren, sodass zumindest den Zivilisten Leid und Tod erspart wird. Und es reicht nicht aus, wenn die EU-Kommissionspräsidentin U. von der Leyen die Öffnung eines Korridors für humanitäre Hilfe nach Gaza, um das Leid von unschuldigen Menschen zu lindern, als große Geste bei X (Twitter) feiert. Zwischenzeitlich hat von der Leyen einen weiteren Tweet abgesetzt, in dem sie das Selbstverteidigungsrecht Israels unterstreicht, dieses nun jedoch an die Regeln des humanitären Völkerrechts konditioniert.

Ob diese Ergänzung daran liegt, dass, wie die Irish Times zu berichten weiß, in Brüssel unter den Mitarbeitern der EU und EU-Diplomaten sich ein Unmut über U. von der Leyen und die EU-Kommission hinsichtlich der Äußerungen von der Leyens breit macht? Es kursiere, laut Irish Times, ein Brief mit 842 Unterschriften von EU-Diplomaten und Mitarbeitern des EU-Apparates aus vielen EU-Ländern einschließlich Irlands. Hier die Aussagen in dem Brief, die von zentraler Bedeutung für das internationale Ansehen der EU sind:

Die Unterzeichner warnen davor, dass die EU „‘jegliche Glaubwürdigkeit und ihre Position als fairer, gleichberechtigter und humanistischer Vermittler verliert‘, ihre internationalen Beziehungen schädigt und die Sicherheit des EU-Personals gefährdet.

Wir sind traurig über die offensichtliche Doppelmoral, die die von Russland gegen das ukrainische Volk verübte Blockade (Wasser und Treibstoff) als Terrorakt betrachtet, während der identische Akt Israels gegen das Volk im Gazastreifen völlig ignoriert wird‘.

Was den Unterzeichnern auffällt, und was sie monieren, dürfte dem Nicht-Westen erst recht auffallen und auf Missfallen stoßen.

Das Abstimmungsergebnis der jüngsten UN-Resolution der UN-Generalversammlung mit dem Titel „Protection of civilians and upholding legal and humanitarian oblgiations“ („Schutz der Zivilisten und Einhaltung rechtlicher und humanitärer Verpflichtungen“) spricht mit 120 Pro-, 14 Contra-Stimmen und 45 Enthaltungen eine sehr eindeutige Sprache. Selbst Frankreich hat dafür votiert, Deutschland und Großbritannien haben sich zumindest enthalten, wohlahnend, dass ein NEIN nicht nur sehr negativ wahrgenommen werden würde, sondern auch im Gedächtnis des Nicht-Westens lange verhaftet bliebe.

Und selbst das mediale Flaggschiff der Grünen, die taz, scheint die Zeichen der Zeit zu erkennen. In einem Kommentar mit dem Titel „Der Westen verliert den Süden“ äußert der Autor folgende erwähnenswerte Feststellung:

Die Mehrheit der Welt steht nicht sowohl hinter der Ukraine als auch Israel. Übrigens auch nicht zugleich hinter Russland und der Hamas. Sie sieht im einen Krieg die Ukraine als Opfer und im anderen die Palästinenser. Dafür gibt es Gründe, und mit Antisemitismus haben sie nichts zu tun. Nach mehreren Wochen schwerster Luftangriffe mit Tausenden zivilen Toten sind die Bilder aus Gaza kaum mehr auszuhalten. Bei ausgebombten Verzweifelten, die mit bloßen Händen ihre Kinder ausgraben, verbietet sich Relativierung genauso wie bei Hinterbliebenen völkermörderischer Terrorangriffe, die um ihre zerstückelten Toten trauern. Menschlichkeit ist unteilbar – eigentlich. (…) Wenn der Westen Solidarität mit Israel an erste Stelle setzt statt Solidarität mit Menschen überall, verliert er den ‚Globalen Süden‘ (…).“

Die Gewalteskalation zwischen den Palästinensern und Israel schürt auch die Spannungen und das Misstrauen zwischen der arabischen Welt und dem Westen. Denn auch die möglicherweise indifferenten arabischen Machthaber stehen unter gewaltigem Druck ihrer jeweiligen Bevölkerung angesichts des israelisch-palästinensischen Konflikts: So hat Jordanien nicht zuletzt aufgrund des Drucks der Straße ein Gipfeltreffen in der jordanischen Hauptstadt mit dem US-Präsidenten J. Biden, dem ägyptischen Präsidenten Al-Sisi, dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, M. Abbas, abgesagt.

Europa – Subjekt oder Objekt? Es liegt an uns!

Das Verhalten des Westens, der EU und Deutschlands in diesem Konflikt entscheidet nicht nur über das Schicksal des Nahen Ostens mit. Es wirkt sich auch aus über die Geschwindigkeit der Zeitenwende und deren Ergebnis: Hat der Russland-Ukraine-Krieg den Epochenbruch manifestiert und katalysiert, so dürfte eine Fortsetzung der Doppelstandards gerade auch im Israel-Palästina-Konflikt den Prozess der Abwendung des Nichtwestens vom Westen und die Herausbildung einer multipolaren Welt(un)ordnung nochmals beschleunigen. Es liegt nun an uns, dem Westen, insbesondere an Europa, ob wir einen globalen Ausgleich akzeptieren. Ob wir sodann die sich herausentwickelnde multipolare Weltordnung im ureigensten Interesse konstruktiv mitgestalten (Subjektstatus), um vom Rest der Welt als Kooperationspartner auf Augenhöhe in einer neuen Ordnung wahrgenommen zu werden. Oder ob die Entscheidungseliten im Westen an dem Abwehrkampf festhalten, der Westen alle seine Kräfte bündelt, um letztlich doch zu scheitern. Im Falle des Scheiterns stünde insbesondere Europa (Objektstatus) im Regen. Mehr internationaler Pragmatismus respektive Realismus statt Gesinnung und (Doppel-)Moral sind die Rezepte für ein zukunftsträchtiges Europa in der Staatenwelt.

* Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hieß es, die Abgeordneten hätten mit Ausnahme der LINKEN gejubelt. Das mag Alexander Neu so wahrgenommen haben, es ist aber nicht korrekt. Auch die AfD hat nicht gejubelt und Scholz’ Rede später in Redebeiträgen und Statements kritisiert.

Titelbild: buradaki/shutterstock.com


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