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Titel: Ohne Änderung der Verhältnisse wird die latente Teilung nicht überwunden
Datum: 6. Oktober 2023 um 12:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Innen- und Gesellschaftspolitik, Wertedebatte
Verantwortlich: Redaktion
Einigkeit und Recht und Freiheit. Es kommt zusammen, was zusammengehört. Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow riss die Berliner Mauer und all die anderen Mauern und Zäune zwischen den Deutschen ein. Alles wird gut. Blühende Landschaften. Das Ende des Kalten Krieges. Ein wundervoller Tag auf dem Klingenthaler Aschberg war für mich der 3. Oktober. Das war 1990. Und heute, 2023? Der dritte Oktober geriet nicht zum ausgelassenen Feiertag. Der 7. Oktober steht vor der Tür, es war der Feiertag der DDR, des Ostens, der bis heute dem Westen eine Last zu sein scheint. Es könnte viel besser sein, bestünde der Wille dazu. Ein Zwischenruf von Frank Blenz.
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Zu Ungunsten – das begann gleich nach der friedlichen Revolution
Geschafft, am 3. Oktober 1990 waren die Ostdeutschen auch richtige Deutsche – mit allem Drum und Dran, dachten viele Nichtwestdeutsche. Ich verbrachte diesen Tag damals mit Freunden und Familie auf einer herrlichen Gaststättenterrasse auf dem Aschberg von Klingenthal im Vogtland, ein schöner Ort mit weiter Sicht, es tat gut für unser kleines Euphorisch-Sein. Wir nahmen unsere Zuversicht, unsere Freude, Hoffnung, unseren Mut zusammen, nachdem die vergangenen Wochen und Monate enormen Eindruck bei uns hinterließen, und atmeten durch. Wir bezahlten seit wenigen Wochen mit D-Mark. Und wir bezahlten schon mehr als noch vor dem Sommer (noch in Ostmark) für Kaffee, Kuchen, Limo, Bier und viele andere Sachen. Da schon merkten wir den aufkommenden Wind, der fortan permanent anders wehen sollte. Nur gut, dass wir alle keine dicken Sparbücher hatten, unsere paar Ostmark wurden somit eins zu eins in Westmark umgetauscht, denn die Einheit vollzog sich ja auch in Sachen Währung. Ich hatte also das Gefühl, dass meine monetäre Lebensleistung ebenbürtig wie im Westen ausgezahlt wurde. Denn es war ja vielmehr so: Bei höheren Einlagen wurde das in zwei zu eins zu Ungunsten der neuen Bundesbürger erledigt. „Zu Ungunsten“ – derlei Umstände rollten über die Jahre dann viele auf uns zu…
Eine kurze Phase der Durchlüftung
Wir blickten vom Aschberg auf das schöne Land und hielten inne, viel Kraft wird das mit unserer Einheit kosten, dachte ich leicht pessimistisch, auch wenn ich mich freute, gerade eine schöne Zeit zu haben. Ja, zwischen dem 7. Oktober 1989 und dem 3. Oktober 1990 lebte es sich als Deutscher im Osten enorm turbulent. Ein bisschen Stolz schwang mit, wir waren sogar richtige Revoluzzer, friedliche dazu, werteten wir aus. Hautnah wurden atemberaubende Geschichten erlebt, die man heutzutage kaum mehr glauben mag. Demonstrationen, Flugblätter, Soldatenräte, Theatergründungen, kleine Unternehmungen, freie Reden, erste, wilde Reisen gen Westen. Tatsächlich lebten wir, die Ostdeutschen, sogar eine Weile in einer DDR, die für diese kurze Phase zwischen Herbst und Sommer durchlüftet schien, als wäre diese Republik endlich die, die man sich all die Jahre vorher hätte wünschen wollen: offen, kreativ, kritisch, ehrlich, progressiv und selbstbewusst. Es gab keine heuchlerischen Losungen mehr, keine aufgedrückten Lügen der politischen Klasse, dass „bei uns“ alles in Ordnung sei. Wir, die einfachen Leute, konnten zu unseren Defiziten stehen, wir nahmen sie an, wir zauberten aus unseren Möglichkeiten eine Prallheit an Leben, die später so nicht mehr erreicht wurde. Die spätere, andere Prallheit wurde die des Konsums und der Ellenbogengesellschaft, in der wir bis heute merken, dass die „westdeutschen“ Ellenbogen die härteren sind. Zum gemeinsamen ersten Feiertag 1990 spürten wir Neuen schon, es gab andere Pläne mit uns. Ein Prosit wurde ausgesprochen, es solle alles gut werden, eine ernüchternde Ahnung schwang mit.
Der Masterplan für Deutschland – ausgedacht von den Herren im bundesdeutschen Haus
Wie geschrieben, dieses Zwischenjahr in der jüngeren deutschen Historie war nur eine „Phase“, ein Durchatmen. Anderes, als Menschen im Osten sich das vorstellten, war mit ihrem Teil Deutschlands vorgesehen: keinesfalls eine selbstbewusste DDR oder ein selbstbewusster neuer Bestandteil eines ganzen Landes, sondern ein an den großen Nachbarn angeschlossener, braver, demütiger Teil. Das hieß: Anschließen mit allen Konsequenzen und/oder mit den Konsequenzen, die sich die Macher ausdachten, die bisher und weiterhin die Herren im bundesrepublikanischen Haus waren und blieben. Das war der Plan, der wurde durchgezogen. Bis heute.
Stempel „Osten“ für immer?
Jetzt sind 33 Jahre Einheit ins Land gezogen. Das Land ist eins, doch immer und immer wieder wird der Trumpf des Geteiltseins, mindestens des feinen, aber gravierenden Unterschiedes gezogen: Westen und Osten, der Osten an zweiter Stelle, der Osten irgendwie „hinterherhinkend“ – und das auf vielen Gebieten, im Kleinen wie im Großen. Mit „Osten“ wird ein anderer Begriff für DDR benutzt, hat man ein flaues Gefühl, man könnte boshafterweise auch Zone oder Ostzone oder Drüben sagen. Hauptsache, der Unterschied wird beibehalten und der zweite Platz der Region östlich zugewiesen. Es lebt sich gut damit, Westen, besser zu sein.
Kaum ist zu erkennen, dass sich dieses offene und auch das latente „Geteiltsein“ ändern soll, dazu bräuchte es den Willen derer, die Änderungen anschieben, beschließen und umsetzen könnten. Aber warum sollte die wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche Klasse der Entscheider das? Für die, die von dieser unterschwelligen Dauerteilung in der Einheit profitieren, können ruhig auch 50 Jahre Deutsche Einheit so aussehen wie heute. Der Osten ist nützlich als unterlegener, gegängelter Unterschied zum Westen.
Gern wird gesagt, dass der Unterschied zwischen Ost und West doch gar nicht mehr existent sei, man sagt, diese Diskussion können wir lassen, allenfalls unterscheiden wir zwischen Norden und Süden und Osten und Westen, es sind doch bloß Himmelsrichtungen. Gern würde man diesen Friede-Freude-Eierkuchen-Leuten folgen, allein es stimmt ja nicht. Sie sind zudem in Wirklichkeit Leute, die genau wissen, dass der Unterschied doch da und gewollt ist.
Es sind die Verhältnisse
Entscheidend für eine Änderung des Teilungszustandes, des Zustandes der Unterschiedlichkeit wäre das Aufbrechen und Ändern der Verhältnisse. Das verschweigen die Friede-Freude-Eierkuchen-Leute. Zwei übermächtige Wörter sind zu nennen: Eigentum und Macht. Schaut man sich um, gehört Deutschland so was von wenig Ostdeutschen, haben Ostdeutsche so was von wenig Macht und/oder Einfluss – in allen Bereichen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen Lebens, dass eine Relativierung dieses Unterschiedes, als wäre es ein Himmelsrichtung-Ding, schlicht Arroganz ist. Doch seien wir ehrlich, diese Ungerechtigkeit ist ja unserer Gesellschaft innewohnend, sie ist das Lebenselixier. Was wäre die Bundesrepublik ohne den Lebenshunger, die Gier nach Macht und Reichtum, ohne „Schaffe, schaffe“, ohne Marktwirtschaft, in der das Handeln, das Verhandeln, die List und die Lust auf den Vorteil (zum Nachteil des Gegenübers) zum Spiel gehören? Eigentum steht über vielem. Wer was hat, ist wer, oder? Nebenbei, in den Zeiten zwischen 1989 und 1990 wurden wir kleinen jungen Revoluzzer dafür belächelt, dass wir das übermäßige Anhäufen von Eigentum als nicht erstrebenswert ansahen und dafür lieber eine wirkliche, streitbare, humanistische Gesellschaft aufbauen wollten, frei von Siegern und Verlierern, sondern voller Gewinner. Wie kann man auch so naiv sein…
Warum gaben wir gute Tugenden auf?
Warum ist nach 1990 aus der sozialen Marktwirtschaft ein entfesselter Turbokapitalismus geworden? Warum haben wir den Kalten Krieg wieder angefacht? Warum ist aus engagierter Entspannungspolitik heftige Spannungspolitik geworden? Warum ist unser vereintes Land eines ohne das Selbstbewusstsein, das es zwischen 1989 und 1990 gab? Michail Gorbatschow hat uns 1989 alles Gute gewünscht, er, Staatschef des größten Landes der Erde, hat von unserem bundesdeutschen Staatschef das Versprechen unter Männern erhalten, dass alles gut werde, so wie uns ab 1990 dann eben dieser gemeinsame Staatschef Helmut Kohl erneut versprochen hat, dass alles gut werde. Blühende Landschaften eben.
Es kam anders, Kohl hat uns, die Ostdeutschen, dann so richtig mit allem Drum und Dran in die Pfanne gehauen. In die Pfanne hat unser Einigkeit-und-Recht-und-Freiheit-Land dann auch Gorbi und die Menschen noch weiter ostwärts gehauen. Nun ist 2023. Wir ziehen immer noch auf anmaßende Weise weiter gen Osten. Wann ist genug genug?
Die Trennung, das Teilen und Herrschen wohnen unserem Land inne
Sprichworte, hehre Worte im Taumel der Vereinigungseuphorie. Über viele Jahre lernte ich, dass die deutsche Sprache, unsere Muttersprache, als Werkzeug benutzt wird, um den Status Quo einer durch und durch ungerechten Gesellschaft zu zementieren.
Sein bestimmt das Bewusstsein. Warum kommt es so oft vor, dass Menschen einen Umstand, einen Zustand verteidigen, der ungerecht ist? Weil der Umstand, der Zustand diesem Menschen nutzt, weil er ihn vielleicht sogar ausgelöst hat und ihn aufgrund des lieb gewordenen Vorteils erhalten will, beobachte ich. Warum erzieht unser wundervolles Bildungssystem nicht dazu, sich vom „Sein bestimmt das Bewusstsein“ zu entfernen, nicht den eigenen Vorteil zu sehen? Ich kann mich durchaus für etwas einsetzen, ohne davon selbst zu profitieren, stattdessen sehe ich, wie sich andere über einen Vorteil freuen. Wir sollten mit dem permanenten Vorteilnehmen, mit dem Profitieren aufhören, weil andere Menschen deshalb Schaden erleiden. Die Freiheit ist die Freiheit des anderen. Warum soll ich 200 Kilometer pro Stunde fahren, wenn andere Verkehrsteilnehmer dadurch gefährdet werden? Warum soll ich mir alles vom Büfett nehmen und höhnisch lachen, da anderen nichts bleibt? Warum ich, ich, ich?
Es ist nicht gut, wie das Spiel läuft, das der alten Bundesrepublik innewohnt: Hauptsache Show, Hauptsache Verkäufe. Ein guter Vertriebler sein ist, wenn dieser ordentlich Kohle macht, egal ob die Ware passt oder nicht. Wir leben mit dem Dauerbeschiss, in Autos bei großen Konzernen wird halt eine Schummelsoftware installiert. Halb so wild. Eine schummelnde Kassiererin eines Supermarktes gerät an den gnadenlosen Pranger. Teilen und Herrschen überall.
Ein besseres Land, eine schöne Menschenlandschaft ist möglich
In jeder kleinen Zuhause-Bibliothek sollten sie stehen: Das Grundgesetz, das Bürgerliche Gesetzbuch, die UN-Charta der Menschenrechte und, und, und. Wir sind immerhin das Land der Dichter und Denker und haben viele wundervolle Sachen, Gedanken, Ideen, Erfahrungen, auch solche, dass selbst die genannten Schriften noch keine endgültigen sind, aber Werkzeuge, Fundamente für unsere Weiterentwicklungen. Warum nutzen wir diese Schätze zu wenig für unser gemeinsames Wohlergehen?
Letztens schaute ich wieder vom Aschberg auf das Tal, wie 1990. Das grüne Tal von Klingenthal – die Gegend, wo die besten Skispringer, die am schönsten klingenden Akkordeons herstammen, schwärmte ich. Schön ist das Land, ein schönes Fleckchen Deutschland, dachte ich. So schön könnten auch die Menschenlandschaften sein, kam mir eine Textzeile für ein mögliches Lied in den Sinn.
Ich hoffe weiter, dass wir keinen Dauerzustand erleben, wie im Gedicht von Heinrich Heine beschrieben wird: „Denk´ ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht…“ Doch ist es gerade mit dem Schlafen hierzulande wirklich nicht gut bestellt – in West und in Ost. Und in Nord und in Süd.
Titelbild: Viktor Ronnert/shutterstock.com
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