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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Ihr seid viele – sie nur wenig. Politische Lyrik: Shelley – Herwegh – Brecht – Degenhardt
Datum: 17. September 2023 um 11:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Kultur und Kulturpolitik
Verantwortlich: Redaktion
Anlässlich der Debatte um den Song „Rich Man North of Richmond“ beschreibt Wilma Ruth Albrecht in diesem Text an einigen Beispielen die Entwicklung des politischen Liedes als klassisches Kulturgut im Alten Europa der beiden vergangenen Jahrhunderte.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Über die Autorin: Wilma Ruth Albrecht, Sprach- und Sozialwissenschaftlerin (Dr.rer.soc., Lic.rer.reg.) mit Arbeitsschwerpunkten 19. und 20. Jahrhundert. Autorin des Fachjournals soziologie heute. Letzte Buchveröffentlichung ÜBER LEBEN. Roman des letzten Jahrhunderts. 4 Bände. Verlag Freiheitsbaum. Edition Spinoza. Reutlingen 2017-2019; zur Autorin.
Im Sommer 2023 wurde auch hierzulande in alternativen Netzjournalen auf einen aktuellen Song des US-amerikanischen Liedermachers und Sängers Oliver Anthony verwiesen: Rich Man North of Richmond steht in der Country-Blues-Tradition mit ihren religiösen Bildern, Motiven und Metaphern und beklagt eine sich im Arm-Reich-Verhältnis von Oben und Unten ausdrückende, himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit.[1] Auf den NachDenkSeiten wurde auf Anthonys Lied mit Originaltext und deutschsprachiger Übersetzung verwiesen – aber auch darauf, dass der Song teilweise fragwürdige Botschaften zu Sozialstaat und Steuern transportiert. Daran anschließend gab es auch unter kritischen Aspekten zahlreiche Leserbriefe zu Lied, Text und Wirksamkeit des Songs.[2] In diesem Beitrag möchte ich daran erinnern, dass das politische Lied als kleinkünstlerische Gattung keine US-Erfindung oder geschützte Handelsware ist.
Als Jeremy Bernhard Corbyn, der britische Gewerkschaftsfunktionär und Labourpolitiker, im Juni 2017 auf dem Glastonbury Music Festival[3] sprach, zitierte er unter viel Beifall auch die Schlussstrophe von Percy Bysshe Shelley „The Mask of Anarchy“:
„Rise like Lions after slumber
In unvanquishable number —
Skake your chains to earth like dew
Which in sleep ha´d fallen on you —
Ye are many – they are few.“[4]
Der Dichter P. B. Shelly (1792-1822) und sein Werk gehör[t]en nicht nur zum traditionellen Kulturgut der englischen Arbeiterbewegung, sondern auch der deutschen.
Im gegenwärtigen Deutschland mit seinem marktgängigen Kulturrelativismus, seinem wahnhaften Irrationalismus und seiner triumphierenden Hässlichkeit scheinen feinsinnige Versschmiede und kühne Wortakrobaten mit aufklärerischem Impetus keinen Platz zu haben.
Das viele Strophen umfassende Versepos „The Mask of Anarchy“ hatte Shelly im Herbst 1819 gedichtet, als er mit seiner Frau, der Schriftstellerin und Autorin des Romans „Frankenstein“, Mary Shelley (1797-1951), in Italien weilte. Das Gedicht ist Reaktion auf die briefliche Mitteilung seines Freundes Thomas Love Peacock (1785-1866), der ihm vom Massaker auf dem St. Peters Field bei Manchester am 16. August 1819 mit mindestens 15 Toten und 650 Verletzten berichtet hatte. An der Massenkundgebung gegen die Korngesetze der Tory-Regierung und für eine Parlaments- und Wahlrechtsreform hatten sich 60.000 bis 80.000 Demonstranten beteiligt, darunter mehrheitlich Arbeiter der ansässigen Baumwoll- und Textilindustrie.
Shellys Poem umfasst aufklärerische Herrschaftsanalyse, bittere Anklage gegen die Gewaltherrschaft und einen enthusiastischen Aufruf zum gewaltfreien Widerstand gegen Tyrannei und für Volksfreiheit.
Im Traumgesicht erscheint dem Dichter ein Menschenzug, bestehend aus der Herrscherkaste und ihrem Gefolge: an der Spitze die Regierung mit R. S. Castlereagh als Außen- und Kriegsminister, Lord Eldon als höchster Richter, H. A. Sidmouth als Premier- und Innenminister, dahinter Bischöfe, Pairs und Advokaten, die alle der als Willkürherrschaft gegeißelten „Anarchie“ huldigen und sich vom Tross aus Söldnern, Advokaten und Pfaffen schützen lassen. Dieser Zug verwüstet und unterjocht das gesamte Land. Dagegen soll sich das unterdrückte Volk einheitlich verbünden, versammeln, verschwören und konsequent Widerstand leisten. Beschämt werden sich dann Beschützer und Mitläufer des Herrschaftszugs von den Tyrannen abwenden und sich zum Sturz der Tyrannei dem Volk anschließen.
„Und die Tapfern und die Treuen
Jener Krieger zu den Freien
Werden treten, vor der Schmach
Zitternd, die dem Mord folgt nach.Und der blutige Völkermord
Wird wie ein Prophetenwort
Rufen auf gen Himmel dann,
Laut, ein donnernder Vulkan.Und dies Wort die Losung sei
Zu dem Sturze der Tyrannei;
In dem Herzen aller Brüder
Hall´ es wieder – wieder – wieder:Auf wie aus dem Schlaf der Leu,
Schüttelt ab der Tyrannei
Joch, wie leichten Morgentau,
Das im Schlummer auf euch fiel:
Sie sind wenig, ihr seid viele!“
Den letzten Vers nahm Georg Herwegh (1817-1875) zum Leitspruch für das von ihm verfasste „Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ (1863)[5]. Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV: 1863-1875) war eine der Vorläuferorganisationen der späteren Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Es war Ferdinand Lassalle (1825-1864)[6], Gründer und Vorsitzender des ADAV, der den mit ihm befreundeten revolutionären Dichter, Agitator und Aktivisten Herwegh drängte, das „Bundeslied“ zu verfassen.
In zwölf Strophen vermittelt Herwegh in einfachen, klaren und verständlichen Worten und Bildern, dass Arbeit alle produktive Güter schafft, die jedoch den Produzenten selbst, den Bauern, Handwerkern und Arbeitern, nicht zugute kommen, stattdessen seien sie durch und über die Arbeit und die Besitzverhältnisse herrschaftlich gefesselt. Es gelte, sich selbstbewusst zu befreien:
„Menschenbienen, die Natur,
Gab sie euch den Honig nur?
Seht die Drohnen um euch her!
Habt ihr keinen Stachel mehr?Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn dein starker Arm es will.Deiner Dränger Schar erblaßt,
Wenn du, müde deiner Last,
In die Ecke lehnst den Pflug,
Wenn du rufst: Es ist genug!Brecht das Doppeljoch entzwei!
Brecht die Not der Sklaverei!
Brecht die Sklaverei der Not!
Brot ist Freiheit, Freiheit Brot!“
Deutlich wird, dass der Freiheitsbegriff von Herwegh analytisch-materialistisch gefasst wird und damit den ethnisch-national-idealistischen Shelleys und seines Freundes Lord Byron (1788-1824), beide noch von den Ideen der Französischen Revolution geprägt, erweitert und konkretisiert.
Auf der Höhe der Zeit war die Vertonung des „Bundesliedes“ als mehrstimmiger Chorsatz durch den geschätzten Klaviervirtuosen, Komponisten und Dirigenten Hans von Bülow (1830-1894).
Mit dem Übergang der SPD zum besonders in Deutschland seit Ende des Ersten Weltkrieges ausgeprägten politischen Reformismus wurde das russische Arbeiterlied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“[7] (1895/96) – von Leonid Petrowitsch Radin (1860-1900) mit einem umdeutbaren humanitären Text übersetzt und vertont von Hermann Scherchen (1891-1966) – zur SPD-Hymne verklärt.
Hatte Herwegh den Schwerpunkt auf die Agitation zum Widerstand gelegt, so folgte Bertolt Brecht (1898-1956) in seinem 1947 verfassten Gedicht „Der anachronistische Zug“[8] wesentlich dem formalen Aufbau von Shellys Poem „The Mask of Anarchy“ (jedoch ohne appellativen Schluss).
Geschildert wird, wie im Frühjahr ein Wählerzug von Süden (US-britische Invasion seit 1943 in Italien) kommend hinter verwitterten Holzschildern mit der Aufschrift „Freiheit und Democracy“ unter Glockenläuten und begafft von erstaunten und unwissenden Kriegsopfern durchs süddeutsche Land zieht. Dem Loblied auf das britische und US-amerikanische Regierungsmodell von „Freiheit und Democracy“ folgen die kirchlichen Würdenträger mit Monstranz, Fahnen und päpstlichem Segen, dann die alten Nazi- und Militäreliten und ihre groß- und rüstungsindustriellen Gönner, die Ideologen und Mittelschichtintelligenz wie Lehrer, Mediziner, Forscher, entnazifizierte Beamte, Journalisten, Menschenrechtslobbyisten, Freihandelsideologen, Richter, Künstler und viele andere Nazianhänger und -profiteure. Die Ankunft dieser politisch aparten Truppe in München beschreibt Brecht so:
„Und kam, berstend vor Gestank
Endlich an die Isarbank
Zu der Hauptstadt der Bewegung
Stadt der deutschen Grabsteinlegung.
Informiert von den Gazetten
Hungernd zwischen den Skeletten
Seiner Häuser stand herum
das verstörte Publikum.“
In der zerbombten Münchner Innenstadt schließen sich dem Aufzug auf seinem Weg nordwärts sechs Karossen an, in denen die sechs Plagen: Unterdrückung, Aussatz, Betrug, Dummheit, Mord und Raub sitzen. Das Zugende bildet ein „Riesentotenwagen“, dem sich massenhaft vollgefressene Ratten anschließen:
„Hoch die Freiheit, piepsen sie
Freiheit und Democracy!“
Brechts Poem ist sarkastisch, deprimierend und endet im Gegensatz zu Shelly hoffnungslos: Das unwissend gehaltene Volk versteht das ganze Schauspiel nicht:
„Und der Blinde frug den Tauben
Was vorbeizog in den Stauben
Hinter einem Aufruf wie
Freiheit und Democracy.“
„Freiheit und Demokratie“ bildete den propagandistischen Leitspruch, unter dem die USA Ende 1941 in den Zweiten Weltkrieg eintraten. Unter gleichem Leitspruch meldeten die USA mit der Rede des damaligen Präsidenten Truman am 12. März 1947 vor dem US-Kongress ihren Weltherrschaftsanspruch an, um die angebliche „Sowjetisierung“ der Türkei, Griechenlands, des Irans, aber auch Deutschlands und Österreichs zu verhindern und ihre aktuelle Intervention in den griechischen Bürgerkrieg, später in den Korea- und Vietnamkrieg, zu rechtfertigten. Und unter dem Motto „Freiheit und Demokratie“ biederten sich im Nachkriegsdeutschland ehemalige Nazieliten, Militärs und Konzernchefs sowie die vielen Tausenden von Mitläufern als Kollaborateure den Besatzungsmächten, insbesondere den anglo-amerikanischen, an. Genau dies prangert Brecht in seinem Poem insofern weitsichtig an: Anfang 1947 war noch nicht offen erkennbar, dass mit der sogenannten „Renazifizierung“ und „Remilitarisierung“ im Übergang zu den Fünfzigerjahren in der Bundesrepublik Deutschland Oppositionelle verleumdet und gewaltsam verfolgt werden sollten (der Emigrant Brecht selbst galt damals in der McCarthy-Ära als Staatsfeind und remigrierte nach Europa).
Der fehlende appellative Schluss des Gedichtes wird ergänzt in der Vertonung durch Hans Eisler und in der agressiv-zynischen Interpretation durch Ernst Busch[9].
Jahrzehnte später wurde das Brechtgedicht „Der anachronistische Zug“ von Hanne Hiob (1923-2009) so eindrucksvoll wie aufwändig inszeniert und zog 1980 und 1990 als Straßentheater durch die BRD[10].
Doch da hatte sich die politische Lage gegenüber 1947 insofern verändert, weil das von Brecht vorgeführte Herrschafts- und Mitläuferpersonal des alten anachronistischen Zuges entweder altersbedingt gestorben oder ausgewechselt und in den Siebzigerjahren erheblich verjüngt und modernisiert worden war.
Diese Entwicklung hatte der Liedermacher, Schriftsteller und promovierte Jurist Franz Josef Degenhardt (1931-2011) 1973, vor 50 Jahren in seiner bissigen Version „Der anachronistische Zug oder die Freiheit, die sie meinen“[11][12] erkannt und ironisch vorgetragen.
Sein Zug formierte sich im Herbst und zog unter lädierter Fahne mit verwischten Schriftzügen von den Villenvororten in die Städte. Am Kopf des Zuges beteten katholische und evangelische Repräsentanten:
„Wollest vor Revolutionen,
Herr, uns allzeit verschonen“.
Es folgten NATO-Offiziere, Geheimdienstler von BND und CIA, rufend:
„freedom, Freiheit überall
ungeteilt bis zum Ural.“
Anschließend sah man Verfassungsrichter, Kultusbürokraten, Professoren vom „Bund Freiheit der Wissenschaften“ und Laienideologen:
„Werbeleute, Intendanten,
Redakteure, Obskuranten,
die sich krumm prostituierten
und für alle Herren schmierten,
die Bestechungssummen boten.“
Am Schluss fuhr die Staatskarosse mit Ministern:
„Wir sind jetzt die neue Mitte,
riefen sie, es ist gelungen,
und das Band ist fest geschlungen
um Arbeit und Kapital.
Das kommt von der freien Wahl.“
Die Formation zog an der Tribüne vorbei, wo sich die Konzernherren das Spektakel ernst und nachdenklich ansahen – „Freiheit hieß für sie Profit“ –, denn sie erkennen, dass Freiheitspropaganda allein nicht reicht. Jetzt bedürfe es neuer Parolen wie „Sozialismus mit dem menschlichen Gesicht“. Degenhardts Gedicht endet damit, dass der Zug mit verblasstem Freiheitssymbol wieder an seinen Ausgangsort zurückkehrt. Auch Degenhardts Lied, das eine politikgeschichtliche Entwicklung analytisch beschreibt, appelliert nicht an seine Hörer: Der Sänger intoniert am Ende jeder Strophe sein höhnisch-irres Gelächter.
In der Zwischenzeit sind die Kritiker an ihrem Lachen erstickt (worden), wurde ihnen (womit auch immer) ihr Maul gestopft.
Der alte anachronistische Zug hat sich heute neu formiert, verjüngt, verweiblicht, internationalisiert, akademisiert und kostümiert.
Titelbild: spatuletail / Shutterstock
[«1]
[«2]
[«3] Peter F. Zima: Textsoziologie. Eine kritische Einführung. (Metzler) Stuttgart 1980
[«4] bing.com/videos/riverview/relatedvideo?q=glastonebury+corbyn+video+shelley&mid=B2B7D811ED3C2D7C9DD1B2B7D811ED3C2D7C9DD1
[«5] „Auf wie aus dem Schlaf der Leu Schüttelt ab der Tyrannei Joch, wie leichten Morgentau, das im Schlummer auf euch fiel: sind sie wenig, ihr seid viele!“ Alle Angabe zu Shelly nach: Percy Bysshe Shelly: „There Is No God“. Religions- und Herrschaftskritik. Hrsg. von Heiner Jestrabek. Reutlingen (Verlag Freiheitsbaum, edition Spinoza) 2019, S.159-169, hier S. 166
[«6] Werke in einem Band. Ausgewählt und eingeleitet von Hans-Georg Werner. Berlin – Weimar (Aufbau-Verlag) 1967, S.232-233. Als weitere Vorlage diente ihm Shelleys „Song to the Men of England“: poetryfoundation.org/poems/52304/a-song-men-of-england
Der philosophisch gebildete Shelley wusste, dass nur menschliche Arbeit Quelle „wahren Reichtums“ ist, wie er in „Feenkönigin Mab. Philosophisches Poem mit Anmerkungen“ (1813) erklärt.
[«7] Wilma Ruth Albrecht: Lasalle und seine Zeit. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, II/2009, S. 47-58; dies.: Ferdinand Lassalle, die Arbeiterbewegung und der Idealismus overton-magazin.de/hintergrund/kultur/ferdinand-lassalle-die-arbeiterbewegung-und-der-idealismus/
[«8] de.wikipedia.org/wiki/Brüder,_zur_Sonne,_zur_Freiheit
[«9] Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Band 10. Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1967, S. 943-949
[«10] youtube.com/watch?v=5HtGBfHFJaI
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