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Titel: In Russland ist die Entspannungspolitik noch nicht vergessen
Datum: 4. September 2023 um 12:19 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Länderberichte
Verantwortlich: Redaktion
Es gibt immer wieder Deutsche, die trotz Medienpropaganda auf eigene Faust nach Russland fahren. Auf solchen Reisen kann man Überraschendes erleben, wie der Russlandfreund Manfred aus Kiel berichtet. Er besuchte in der zweiten August-Hälfte das Dorf Warnawino im Gebiet Nischni-Nowgorod. Das Gebiet liegt 420 Kilometer östlich von Moskau. Dort zeigte ihm ein ehemaliger Bürgermeister ein westdeutsches Schulbuch von 2002, in dem über mehrere Seiten das Leben im Dorf Warnawino geschildert wird. Mit Manfred sprach Ulrich Heyden in Moskau.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Manfred kommt aus Kiel. Das Thema Russland beschäftigt den 73-Jährigen seit vielen Jahren. Vor zwei Jahren machte er seine erste Russland-Reise, die ihn bis nach Sotschi und auf die Krim führte. Damals berichtete Manfred mir über seine Reise in einem Video-Gespräch. Seitdem hat der Ingenieur aus Kiel zahlreiche Reisen nach Russland unternommen. Er möchte dieses Land direkt kennenlernen und Kontakte knüpfen, gerade jetzt, wo gegen Russland eine massive Medienpropaganda läuft.
Manfred kann zwar kaum Russisch, aber er ist kontaktfreudig. Das hängt wohl mit seinem ehemaligen Beruf als Vertriebsmanager zusammen. Auf seiner ersten Russland-Reise lernte er auf einer Zugfahrt eine Dame aus Nischni-Nowgorod kennen. Sie war Mitglied der russischen Rentnerpartei. Über diesen Kontakt kam er in der zweiten Augusthälfte dieses Jahres nach Nischni-Nowgorod.
Hilfe durch automatische Übersetzungsprogramme
Sich in Russland zu verständigen, bereitet dem Reisenden aus Kiel keine Mühe. In Russland gäbe es viele Menschen, die etwas Deutsch, einige gut Englisch können und wenn es gar nicht anders geht, setzt Manfred sein Handy mit einer automatischen Sprachübersetzung ein. Das Übersetzungsprogramm auf dem Handy übersetzt Sprache oder Text vom Deutschen ins Russische und umgekehrt. Der Reisende aus Kiel berichtet, wie das funktioniert. „Ich lege das Handy zwischen mich und meine Gesprächspartnerin. So habe ich mich schon einmal drei Stunden mit einer russischen Bekannten unterhalten.“
Seine Freunde in Nischni-Nowgorod hätten für ihn dieses Jahr wieder ein tolles Programm organisiert, berichtet der Ingenieur aus Kiel. „Wir sind mit dem Auto drei Stunden von Nischni-Nowgorod durch tiefe Wälder, vorbei an schönen Flüssen in die tiefe Provinz gefahren.“
„Um zwölf Uhr mittags kamen wir bei strahlendem Sonnenschein im Dorf Warnawino an.“ Das Dorf mit 5.000 Einwohnern liegt 180 Kilometer nordöstlich von Nischni-Nowgorod in einer sehr ruhigen, grünen Gegend am Ufer des Flusses Wetluga, der sich in großen Bögen durch die Landschaft schlängelt. Der Fluss darf aus ökologischen Gründen nicht mit Schiffen befahren werden.
Im Dorf gibt langgestreckte Häuser und mehrere alte Kirchen aus Holz. Im Heimatmuseum des Dorfes erfuhr er, dass es in Warnawino früher mal eine Glasfabrik und andere Manufakturen gab. Außerdem erfuhr er, dass der Ort 1417 von einem Mönch gegründet wurde. „Jetzt baut man an einem Hotel, um den Tourismus in die schöne Gegend anzukurbeln“, erzählt der Reisende.
Unmittelbar nach der Ankunft wurde Manfred vom Bürgermeister des Ortes empfangen. „Eine Frau aus der Gemeinde in Landestracht brachte Brot und Salz. Das ist die traditionelle Begrüßung in Russland. Ich war völlig perplex. Sowas hatte ich überhaupt nicht erwartet. Vom Bürgermeister und seinen Mitarbeitern wurde ich unglaublich freundlich begrüßt. Nach der Begrüßung war eine große Tafel vorbereitet. Ich musste mal wieder essen. Das spielt sich dann mehrmals am Tag ab. Die Tische biegen sich vor lauter Speisen. Es ist unglaublich.“
Ein Relikt aus der Entspannungszeit
Weiter berichtete der Reisende: „Als wir vor dem Bürgermeisteramt standen, kam ein älterer Russe dazu, der früher Bürgermeister war. Und er kam mit einem deutschen Schulbuch aus Nordrhein-Westfalen, genauer gesagt aus der Stadt Essen. In diesem Schulbuch aus dem Jahre 2002 gab es mehrere Seiten über das Dorf Warnawino. Es wurde informiert über die Entwicklung des Ortes und über die Probleme, mit denen man zu kämpfen hat, und was man für die weitere Entwicklung des Ortes tut. Der Hintergrund war folgender: Über viele Jahre sind immer wieder Schülergruppen aus Deutschland nach Warnawino gefahren, um auch mal das russische Leben abseits der Städte kennenzulernen.“
Fotos: Ulrich Heyden
„Mich hat das sehr verblüfft. Ich komme da in ein kleines Dorf und da kommt jemand mit einem deutschen Schulbuch. Aber es ist auch sehr bezeichnend, wie die Deutschen heute über Russland denken. Deutschland ist heute führend am NATO-Krieg beteiligt. Da sollte man eigentlich eine gewisse Zurückhaltung erwarten. In meinem Alter erinnert man sich noch an die Nachkriegszeit. Wenn man nach Frankreich, Polen oder in andere Länder kam, da wurde man nicht sehr freundlich aufgenommen aufgrund der schrecklichen Geschichte, die wir mit unseren Nachbar-Völkern haben.
In Russland ist das anders. Die Russen haben einfach begriffen, wir sind Nachbarn, wir brauchen einander, zum gegenseitigen Vorteil, was auch immer passiert. Zusammenarbeit ist unheimlich wichtig. In Russland haben die Leute das im letzten Dorf kapiert. Bei uns habe ich da manchmal meine Zweifel, ob das alle Leute wirklich verstanden haben.“
„Kein einziges böses Wort“
In unserem Gespräch kam Manfred dann auf die dreieinhalb Millionen russischsprachige Menschen zu sprechen, die in den 1990er Jahren nach Deutschland übergesiedelt sind, jetzt aber wegen der Propaganda gegen Russland sehr leiden. Da sei es schon erstaunlich, „dass man als Deutscher in Russland dermaßen freundlich empfangen wird. Es gab kein einziges böses Wort, noch nicht mal die Frage, was macht die deutsche Regierung da im Moment“.
Ich fragte Manfred, ob die Russen ihm nicht gesagt hätten, „tun Sie mal was, damit Olaf Scholz die Waffenlieferungen an die Ukraine stoppt“. Der Reisende aus Kiel antwortete, „nein, das ist von russischer Seite überhaupt nicht angesprochen worden. Ich habe natürlich eine passende Gelegenheit genutzt, um zu sagen, dass die Politik, die die deutsche Regierung zurzeit macht, nicht in meinem Namen geschieht. Und ich weiß, es gibt ganz viele Menschen in Deutschland, die diese Politik nicht unterstützen und die gute Beziehungen zu ihren Nachbarvölkern haben wollen. Das muss man den Russen förmlich schon aufdrängen, um das mal loszuwerden.“
In Nischni-Nowgorod besuchte der Russland-Reisende ein Stadtfest. Dort und auch in Moskau deutete fast nichts auf den Krieg in der Ukraine hin. Nur ab und zu habe er in Russland ein Werbeplakat der russischen Armee gesehen. Darüber habe er sich gewundert, denn in der Ukraine sterben doch Ukrainer und Russen „in einem entsetzlichen Bruderkrieg“. Ich erzählte dem Russlandfreund aus Kiel, dass der Krieg in der Ukraine in den russischen Medien Thema Nr. 1 ist und es in der „Komsomolskaja Prawda“ fast täglich Reportagen aus dem Kriegsgebiet gibt. Der Reisende antwortete, um während seiner Reise russische Zeitungen zu lesen, fehle ihm die Zeit und die Sprachkenntnis.
300. Geburtstag des Philosophen Kant
Manfred will sich mit der zunehmenden Entfremdung zwischen Deutschland und Russland nicht abfinden. Er ist seit einiger Zeit Vorsitzender der Deutsch-Russischen Gesellschaft in Kiel. Mit seinen Freunden in Kiel plant er jetzt Aktivitäten zum 300. Geburtstag des deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804), der am Dom von Kaliningrad (früher Königsberg) in einem Grab liegt. „Die Russen grenzen Kant nicht aus. Seine Bedeutung wird im jetzigen Kaliningrad unheimlich hochgehalten.“ Am 22. April 2024 ist der 300. Geburtstag des Philosophen. „Das sollte eigentlich eine große internationale Veranstaltung werden. Aber von deutscher und amerikanischer Seite ist das alles abgeblockt worden. So organisieren das jetzt die Russen. Im April wird es jetzt zwei Veranstaltungen geben. Von der Kant-Universität in Kaliningrad soll es einen wissenschaftlichen Kongress zu Kant geben und parallel dazu wird der Russische Friedensfond Kaliningrad, eine NGO, eine Veranstaltung für das allgemeine Publikum machen. Bei uns haben sich schon viele Leute angemeldet. Wir werden da mit einem Bus zusammen hinfahren.“
Eine weitere Idee von Manfred ist, den Jugendaustausch mit Russland wieder in Gang zu bringen. Die deutschen Eltern hätten ja Angst, „dass in Russland die Bären über die Straße laufen“. Aber die Russen in Deutschland hätten das Interesse, dass ihre Kinder Russland kennenlernen. Für diese Kinder wolle man im nächsten Sommer ein Ferienlager organisieren, „damit sie Russland nicht aus der Zeitung und der Propaganda kennenlernen, sondern direkt“.
Wie kommt man nach Russland?
Zum Abschluss unseres Gesprächs berichtete mir der Ingenieur aus Kiel, wie er nach Russland, das von Deutschland mit dem Flugzeug direkt nicht zu erreichen ist, gereist ist. Er erzählte, dass es zwei teure Möglichkeiten gibt. Für einen Flug über Serbien, bei dem man in sieben Stunden in Russland ist, muss man für hin und zurück 1.500 Euro bezahlen. Ein anderer Flug nach Moskau in ähnlicher Preislage geht über Istanbul. Billiger sei es, wenn man über Gdansk nach Kaliningrad reist und von dort mit einem russischen Flugzeug nach Moskau.
Manfred hat noch eine andere Route gewählt. Er ist von Berlin nach Tallin geflogen, wo er abends ankam. Dann ist er mit einem Bus weiter nach St. Petersburg gereist, der am nächsten Morgen an der Newa ankam.
Zur Person: Manfred wurde in Westberlin geboren, wo er eine Facharbeiterausbildung und ein Ingenieurs-Studium absolvierte. Er war als Projekt- und Vertriebsmanager weltweit beruflich aktiv, unter anderem in Südostasien, Europa und in den USA. Heute wohnt er in der Nähe von Kiel. Er ist kritisches SPD-Mitglied. Wer direkt Kontakt mit ihm aufnehmen will, kann den Russlandfreund aus Kiel über diese Adresse erreichen: [email protected]
Das vollständige Gespräch mit Manfred kann man hier im Video sehen.
Titelbild: Prehistorik / Shutterstock
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