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Titel: Was lief falsch? Gorbatschow und die Zeitwende 1989/91 – Vom neuen Denken zurück ins alte?

Datum: 2. September 2023 um 11:45 Uhr
Rubrik: einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Gedenktage/Jahrestage, Veranstaltungshinweise/Veranstaltungen
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In der Ukraine tobt seit dem 24. Februar 2022 mit dem Einmarsch der russischen Armee ein schrecklicher Krieg. Bislang ist kein Ende abzusehen. Was jedoch zu beobachten ist, ist, dass die Waffenlieferungen aus dem Westen hinsichtlich der steigenden Leistungsfähigkeit der Waffensysteme immer problematischer werden. Denn die Gefahr des sogenannten Rutschbahneffekts, mithin das Hineinrutschen in einen direkten militärischen Schlagabtausch zwischen der NATO respektive einzelnen NATO-Mitgliedsstaaten und Russland, wird immer größer. Wie konnte es dazu kommen angesichts all der Hoffnung und Aufbruchsstimmung nach dem offiziellen Ende des „Kalten Krieges“? Von Alexander Neu.

Altes Denken – Neues Denken – Altes Denken

Es stellt sich die Frage, wie es geschehen konnte, dass nach der Wendezeit 1989/90, also dem Ende des Kalten Krieges – als Ergebnis des „neuen Denkens“, initiiert durch Michael Gorbatschow –, der Westen und Russland wieder am Rande eines nuklearen Abgrundes stehen. Wie wurde das „neue Denken“ durch das „alte Denken“ der Konfrontation wieder abgelöst? Wurde der Kalte Krieg nie wirklich beendet? Hat er nur eine Pause von ein oder zwei Dekaden eingelegt? Was lief ab welchem Zeitpunkt falsch in den Beziehungen zwischen dem Westen und Russland?

Diesen Fragen widmete sich die Eurasien-Gesellschaft anlässlich einer von ihr organisierten Gedenkveranstaltung zum Tode von M. Gorbatschow, dem damaligen sowjetischen Präsidenten, der die Wende im Kalten Krieg bis hin zur deutschen Einheit eingeleitet hatte. Die Veranstaltung fand am 30. August, also dem ersten Jahrestag des Todes von Gorbatschow in Berlin statt. Etwa 70 geladene Gäste gedachten Gorbatschow und lauschten den Vorträgen.

Persönlich vor Ort sprach Ruslan Grinberg, russischer Wirtschaftswissenschaftler und ehemaliger Wissenschaftsdirektor der Russischen Akademie der Wissenschaften sowie Vertrauter M. Gorbatschows.

Des Weiteren wurden extra für diese Veranstaltung erstellte videobasierte Aufzeichnungen gezeigt, von

  • Gregori Jawlinski, Wirtschaftswissenschaftler, ehemaliger Vorsitzender der Partei Jabloko sowie ehemaliges Mitglied der sowjetischen Regierung unter Gorbatschow;
  • dem früheren Bundesfinanzminister sowie langjährigem saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine und
  • und Askar Akajew, dem damaligen ersten Präsidenten der post-sowjetischen Republik Kirgistan.

Erwartungsgemäß lobte G. Jawlinski die Leistungen Gorbatschows uneingeschränkt.

Auch Ruslan Grinberg zeichnete ein sehr positives Bild, indem er Gorbatschow als „mehr Mensch als Politiker“ bezeichnete – und ihn dennoch als den „besten Politiker des 20. Jahrhunderts“ adelte.

Für Grinberg war die Implosion der sowjetischen Staatlichkeit das Ergebnis des sogenannten Augustputsches 1991, bei dem konservative Gorbatschow-Gegner für wenige Tage die Macht an sich zu reißen versuchten, schließlich aber am eigenen Unvermögen scheiterten. Trotz des Scheiterns des Putsches war der sowjetische Präsident Gorbatschow angesichts des Putsches in seinem Amt massiv geschwächt. Mir sind noch die Bilder gut in Erinnerung, als der russische Präsident B. Jelzin den noch sowjetischen Präsidenten M. Gorbatschow vor dem Parlament der sowjetischen Teilrepublik Russland wenige Tage nach dem gescheiterten Putsch vor laufenden Kameras demütigte.

Gorbatschow habe bis zum Schluss um den Fortbestand der Sowjetunion gekämpft, so Grinberg. Aber wesentliche Teile der „Moskauer Intelligenz“ seien zu Jelzin übergelaufen. Sie sahen in Jelzin den Heilsbringer, der es mit einem falsch verstandenen Freiheitsbegriff schaffen würde, innerhalb eines Jahres den materiellen Lebensstandard Russlands auf die Höhe Luxemburgs zu hieven. Für Grinberg steht fest, russische Liberale und Demokraten im Umfeld Jelzins hätten die Sowjetunion zerstört. Und dennoch bleibe eine besondere Leistung Gorbatschows für Moskau: Er habe die atomare Abrüstung initiiert. Und tatsächlich war der INF-Vertrag, der Vertrag über das Verbot der bodengestützten nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa, der damals gefährlichsten Variante von Atomwaffenträgern, ein Meilenstein für die Sicherheit Europas. Bekannterweise kündigten die USA diesen Vertrag 2019.

Oskar Lafontaine ging konkret auf die oben ausgeführte Fragestellung ein, warum es zwischen dem Westen und Russland wieder so weit kommen konnte, wie es derzeit ist. Der ehemalige SPD-Vorsitzende verwies auf die Vision und das Vermächtnis Gorbatschows vom „gemeinsamen europäischen Haus“. Dabei geht es um ein völlig anderes Sicherheitsverständnis: nämlich der „ungeteilten Sicherheit“ für alle Staaten Europas statt der „geteilten Sicherheit“. Das Konzept der „geteilten Sicherheit“ läuft quasi zwangsläufig auf Spannungen, Rüstungswettläufe und schlimmstenfalls Kriege hinaus – also genau die Szenarien, die wir derzeit in Europa beobachten. Das „gemeinsame europäische Haus“, wäre es umgesetzt worden, hätte nicht nur das Ende des Warschauer Paktes, sondern auch der NATO bedeutet. Anstelle der Militärblöcke wäre eine neue Sicherheits- und Friedensarchitektur für Europa installiert worden, die alle Staaten (auch die Ukraine und Russland) des Kontinents gleichermaßen integriert hätte. Lafontaine resümiert: Wäre die Vision vom „gemeinsamen europäischen Haus“ auch tatsächlich vom Westen ernsthaft umgesetzt worden, was sie ja nicht wurde, wäre Europa sowohl der Krieg in Jugoslawien als auch der Krieg in und um die Ukraine erspart geblieben. In der fortgesetzten NATO-Existenz und somit der institutionalisierten „geteilten Sicherheit“ Europas und ihrer Erweiterung um osteuropäische Staaten sieht der ehemalige saarländische Ministerpräsident den Hauptgrund für die Eskalation und den Krieg.

Aber nicht nur die Vision Gorbatschows eines geeinten Europas auch unter Einschluss Russlands, sondern auch sein Vermächtnis für Frieden und Abrüstung müsse weiterhin gepflegt werden, so Lafontaine weiter. Und mit Blick auf die deutsche Verantwortung stellte er fest: Deutschland trage angesichts seiner spezifischen Geschichte mit 27 Millionen sowjetischen Toten im Zweiten Weltkrieg sowie der Gewährung der deutschen Einheit durch Moskau gegenüber Russland eine zentrale Verantwortung. Kein Land Europas habe Russland mehr zu verdanken als Deutschland.

Angesichts der aktuellen desaströsen sicherheitspolitischen Lage Europas forderte O. Lafontaine in Anlehnung an den verstorbenen US-Außenpolitikexperten und Diplomaten G. Kennan ein „Disengagement“ der beiden auf Konfrontation stehenden Blöcke – also der NATO und Russland. Beide Blöcke müssten ihre militärischen Potenziale nach hinten ziehen – mithin keine russischen Atomwaffen in Weißrussland sowie keine Raketenabwehrsysteme der NATO in Polen und Rumänien als Mindestmaßnahmen. Ziel müsse es sein, ein kollektives Sicherheitsbündnis mit Russland zu schaffen. „Was wäre das für ein Fortschritt“, so Lafontaine abschließend.

„Was alle treffen kann, dass betrifft uns alle“

Der anwesende Journalist Leon Ensel erinnerte in seinem Beitrag an das für mich an diesem Abend angesichts des Krieges in Europa wichtigste Zitat des Philosophen Günther Anders:

„Was alle treffen kann, dass betrifft uns alle.“

Damit forderte er, dass die Frage um Krieg und Frieden, zumal im Atomzeitalter, nicht eine Frage allein der Herrschenden, sondern aller betroffenen Menschen sein müsse. Diese Forderung wird leider von den meisten Menschen in Deutschland und Europa nicht gelebt, da sie sich ganz offensichtlich der Gefährlichkeit der gegenwärtigen Situation Europas nur unzureichend bewusst sind.

Ist Gorbatschow unumstritten?

Die positiven Würdigungen Gorbatschows waren angesichts des Gedenktages angemessen. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass die Darstellungen der positiven Leistungen Gorbatschows durchaus im Widerspruch zur Bewertung eines erheblichen Teils der russischen Gesellschaft stehen. Dieser Teil steht der Person Gorbatschow und seinem Wirken – einschließlich der Implosion des sowjetischen Staatswesens – eher kritisch gegenüber. Ob der letzte Staatspräsident der UdSSR für das Ende des sowjetischen Staates direkt verantwortlich oder die staatliche Implosion die unbeabsichtigte Folge seines Wirkens (inklusive der Förderung der Person Jelzin) ist, darüber wird in der Geschichtsschreibung sicherlich gestritten.

Der Abend endete erst gegen Mitternacht angesichts der angeregten Tischgespräche zwischen den Teilnehmern über die Frage von Auswegen aus der gegenwärtigen fatalen Entwicklung des wieder erstarkten „alten Denkens“ der Konfrontation.

Transparenzhinweis: Der Autor Dr. Alexander S. Neu ist Mitglied der Eurasien-Gesellschaft. Twitter: @AlexanderSNeu

Titelbild: Shutterstock / Felix Lipov


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