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Titel: Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen: „Eine Angst geht um in der Wissenschaft“

Datum: 30. August 2023 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Hochschulen und Wissenschaft, Interviews, Wertedebatte
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Wie kann ein Professor seine Uni verlieren? In dem Buch „Wie ich meine Uni verlor: Dreißig Jahre Bildungskrieg. Bilanz eines Ostdeutschen“ erzählt der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen davon und gewährt einen tiefen Einblick in ein Hochschulsystem, das sich in einer schweren Schieflage befindet. Im NachDenkSeiten-Interview geht Meyen, gegen den ein Disziplinarverfahren läuft, auf sein Buch ein und sagt: „Das akademische Feld ist gekapert von der Wirtschaft, von der Politik und von den Medien, Geld, Macht, Aufmerksamkeit.“ Ein Interview über das Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Herrschaft und die Angst, die in der Wissenschaft umgeht. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Meyen, wie sieht das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Herrschaft aus?

Das akademische Feld ist gekapert von der Wirtschaft, von der Politik, von den Medien, Geld, Macht, Aufmerksamkeit. Außerdem ist dieses Feld ein Ort, an dem sich Menschen begegnen. Woran gearbeitet wird, hängt folglich auch und nicht zuletzt von Beziehungen ab und vor allem davon, was am Machtpol gerade goutiert wird. Wissenschaft ist die Religion der Gegenwart. Um heute etwas durchsetzen zu können, brauche ich Priester mit Professorentitel, Studien, Akademien, Ethikräte. Ohne die Weihen von Gelehrten keine Absolution. Diese Deutungshoheit macht die Universitäten attraktiv für alle, die tatsächlich etwas durchsetzen können.

Man könnte also sagen: Das Spannungsverhältnis ist in das System eingebaut?

Ja. Der Staat finanziert die Forschung, in den Geistes- und Sozialwissenschaften sogar ziemlich komplett. Inzwischen haben zwar auch Konzern- und Privatstiftungen die Universitäten entdeckt, aber die Grundfinanzierung und die meisten Projektmittel kommen aus Steuergeldern. Wer bezahlt, will etwas dafür haben. Wir bauen zwar keine Maschinen und melden auch keine Patente an, formen dafür aber die Sprache und die Denkmuster, mit denen eine Gesellschaft ihre Wirklichkeit beschreiben und begreifen kann. Diese Definitionsmacht ist für alle verlockend, die etwas zu entscheiden haben oder ihren Reichtum schützen und mehren wollen.

Haben Sie ein Beispiel für die Stiftungen?

Dieter Schwarz, also Kaufland und Lidl. In der Liste der reichsten Deutschen ziemlich weit oben. Seine Stiftung hat der TU München in den letzten vier Jahren 41 Professuren geschenkt, 32 davon angesiedelt in Heilbronn, am Gründungssitz der Firma. Ich erinnere mich noch an die Debatten, als der Deal mit der TU ruchbar wurde. Muss ein Schwarz-Professor eigentlich den Sponsor fragen, bevor er etwas veröffentlicht?

Macht- und Herrschaftseinflüsse werden eher selten thematisiert, wenn Journalisten und andere Akteure in der Öffentlichkeit ein Loblied auf die „freie Wissenschaft“ singen. Woran liegt das?

An der illusio des akademischen Feldes. Das ist ein Begriff von Pierre Bourdieu. Er meint damit den Glauben an Sinn, Regeln und Wert des Spiels Wissenschaft. Dieser Glaube hilft jedem Forscher, wieder und wieder ins Labor oder an den Schreibtisch zu gehen, dabei denjenigen zu huldigen, die erfolgreicher sind als er selbst, und Attacken von außen entrüstet zurückzuweisen, obwohl er wissen müsste, dass die Kritiker nicht immer falsch liegen. Das heißt: Wissenschaftler können sich einreden, uneigennützig für das Wohl aller zu arbeiten und nichts als die Wahrheit im Sinn zu haben. Vielleicht müssen sie sich das sogar einreden, um nicht zu verzweifeln.

In der Medienöffentlichkeit erwecken Journalisten, Experten, aber auch Politiker immer wieder den Eindruck, als gäbe es „die“ Wissenschaft, deren Forschungsergebnisse ohne jeden Zweifel als „wahr“ anzuerkennen seien.

Natürlich geht es um Wahrheit und um Objektivität, wir wissen aber, dass es keine Forschung ohne Forscher gibt. Also brauchen wir Öffentlichkeit, um prüfen zu können, was uns die Kollegen da auftischen. Wir brauchen die Kontroverse, wir brauchen gegenseitige Kritik. Wissenschaftliche Wahrheit ist ein Synonym für den aktuellen Stand des Irrtums. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass wir davor gefeit sind, genau wie unsere Vorfahren in Sackgassen zu laufen und die Gesellschaft auf der Basis von Annahmen und Forschungsergebnissen umzubauen, über die in 100 Jahren alle den Kopf schütteln werden.

Finanzielle Mittel für Forschungsprojekte zu gewinnen, gehört mehr oder weniger zum Alltag eines Professors. Angenommen, Sie wollten ein Projekt mit dem Titel „Wie Qualitätsmedien die Bevölkerung manipulieren und Propaganda verbreiten“ angehen und würden versuchen, dafür die entsprechenden Mittel zu bekommen. Wie sehen Sie die Chancen, ein derartiges Projekt zu realisieren?

Das ist eine rhetorische Frage, oder? So ein Antrag würde schon an den Begriffen im Titel scheitern. Nach der herrschenden Lesart wird die Bevölkerung in westlichen Gesellschaften nicht manipuliert. Propaganda gibt es nur bei den anderen. Russland, China, Nordkorea. Ich müsste das also entweder anders formulieren oder gleich aus Bordmitteln machen. Das geht, immer noch. Mit Hannah Broecker und Dennis Kaltwasser habe ich gerade ein Institut für kritische Gesellschaftsforschung gegründet. Dort machen wir genau die Forschung, auf die Sie anspielen.

Was ist eigentlich mit den Studenten in diesem Universitätssystem?

Im Bologna-System endet jede Lehrveranstaltung mit einer Prüfung. Gar nicht so selten sind das Multiple-Choice-Klausuren. Da bleibt kein Raum für Streit oder gar Protest. Der „Lehrer“ weiß, wo das Kreuz zu setzen ist, und belohnt die, die alles „richtig“ machen. Den jungen Menschen wird heute Alternativlosigkeit beigebracht. Dinge nachbeten und dabei die Termine einhalten – an der Universität wohlgemerkt, wo früher um den Weg zur Erkenntnis gerungen wurde.

Sie schreiben in Ihrem Buch: „Eine Angst geht um in der Wissenschaft.“ Was meinen Sie damit?

Das lässt sich schwer greifen. Ich meine damit die Moralisierung aller Lebensbereiche, die von den Digitalplattformen ausgeht. Null und eins. Daumen hoch, Daumen runter. Die Plattformen sehen jedes Thema durch die Brille der Moral und stellen jeden Abweichler an den Pranger. Die Angst vor Isolation beschneidet eigentlich alles und greift schon nach der jüngsten Forschergeneration. Bachelorstudenten fragen, ob ein bestimmtes Thema oder ein bestimmter Betreuer ihre Karriere gefährden könnten. Manchmal fängt das schon bei den Interviewpartnern an. Bin ich „rechts“, wenn ich mit diesem Menschen rede? Kontaktschuld ist der Tod der Wissenschaft.

Ihr Buch trägt den Titel: „Wie ich meine Uni verlor“. Wie haben Sie denn Ihre Uni verloren?

Der Titel zielt auf die Universität als Ort, an dem man erwachsen werden kann. So ein Studium ist ja auch ein Moratorium im Leben – eine Atempause, die jungen Menschen erlaubt, sich umzuhören, etwas auszuprobieren und dabei die Pfade zu verlassen, die durch die Herkunft vorgezeichnet sind. Nur so kann etwas Neues entstehen. Nur so ist es für mich als Professor möglich, Gleichgesinnte um mich zu scharen und eine Schule zu gründen, die erst das akademische Denken erobert und dann die Gesellschaft. Heute hetzen die Studenten von Prüfung zu Prüfung. Und die Wissenschaftler fragen nicht mehr, was spannend ist oder relevant sein könnte, sondern schreiben Anträge an politische Behörden.

Ihr Buch ist auch sehr persönlich. Neben den Schieflagen im Uni-System geht es auch um Sie und um das, was Ihnen widerfahren ist – wobei das miteinander verknüpft ist.

Ich habe schon immer am meisten gelernt, wenn ich selbst betroffen bin. Kein Buch, kein Interview und kein Archiv können das ersetzen, was man selbst erlebt. Warum, so hieß die Frage diesmal, warum wird ein kleiner Professor aus allen Rohren beschossen, wenn er einer kleinen Zeitung wie dem Demokratischen Widerstand hilft? Die kurze Antwort kam von meinem Präsidenten an der LMU in München: Reputationstransfer. Wir wollen nicht, dass unser akademischer Ruhm dieses Blatt adelt. Die lange Antwort steht jetzt zwischen zwei Buchdeckeln.

Was sind die Konsequenzen für die Universitäten, aber auch für die Gesellschaft, aus der von Ihnen beschriebenen Entwicklung?

Wer die Universitäten beherrscht, der bestimmt, wie wir leben. Ich meine damit gar nicht nur die Denkmuster, über die wir schon gesprochen haben. Die Universität ist das Nadelöhr, das jeder passieren muss, der irgendwann irgendwo etwas zu sagen haben will. Schuldirektoren, Richter, CEOs, Chefredakteure, Intendanten, Minister. Wir erleben ja gerade, dass die ersten Pisa- und Bologna-Kinder in Spitzenpositionen aufsteigen, und sehen, welche Folgen das für die Diskussionskultur hat und für den politischen Prozess überhaupt.

Im Untertitel taucht das Wort „Bildungskrieg“ auf. Worauf bezieht sich das? Bitte erklären Sie.

Punkt eins: 2005 hat Rot-Grün das W-System eingeführt. Seitdem gibt es für Professoren ein Grundgehalt plus Zulagen. Was dafür zu tun ist, wird oft in Zielvereinbarungen festgehalten. Drittmittel etwa oder Publikationen. Punkt zwei: Vor allem der Bund und die EU haben ihre Projektausgaben seitdem erheblich aufgestockt. Ein Medienforscher wie ich bekommt sein Geld ja eher nicht aus der Wirtschaft. Drittmittel sind bei uns politische Gelder. Brüssel und die Ministerien in Bund und Ländern geben vor, was mit welchen Methoden zu untersuchen ist. Das geht bis hin zu Sprachregeln. Gendern zum Beispiel: Wenn das Gehalt davon abhängt, ob man mitmacht, ist es schwer, sich dem zu entziehen.

Vermutlich gibt es noch einen dritten Punkt.

Leider, ja. Prestige bringen heute nur noch ganz bestimmte Publikationen. Das Stichwort ist hier Web of Science. Diese Oberfläche wurde vom Medienkonzern Thomson Reuters erfunden, der eine Weile auch den Science Citation Index hatte und beide Marken 2016 in die Firma Clarivate Analytics überführt hat – inzwischen an der Börse notiert und vorher eine Goldgrube für milliardenschwere Kapitalanleger. Was dort nicht gelistet ist, fällt bei den Rankings unter den Tisch, in Shanghai zum Beispiel oder beim H-Index.

Was ist das?

Inzwischen das Nonplusultra für jeden Wissenschaftler. Namensgeber ist Jorge Hirsch, ein Physiker. Seine Idee war offenbar verlockend: Ich verdichte jede Lebensleistung auf einen einzigen Wert und kann so alles mit jedem vergleichen. Der Medienforscher spielt plötzlich in der gleichen Liga wie Mediziner und Mathematiker. Das Prinzip kann man sich auf Google Scholar anschauen. Für einen hohen H-Index braucht man viele Publikationen, die möglichst oft zitiert werden. Diesen Index gibt es erst seit 2005. Er hat die Forschung komplett umgebaut.

Wie meinen Sie das?

Publiziert wird vorrangig da, wo mitgezählt wird – in Zeitschriften und Verlagen, die zum Web of Science gehören. Mein Buch wird dort zum Beispiel gar nicht erfasst. Viele wundern sich ja, wenn 20 und mehr Namen über einem kleinen Artikel stehen. Der H-Index sagt: Publiziert viel und mit möglichst vielen Kollegen. Zitiert euch selbst und die, die auch viel schreiben und euch dann einen Gefallen schulden. Meidet Nischenthemen und Sprachen, die im Web of Science nicht verstanden werden. Genau das passiert gerade. Auf Deutsch über deutsche Medienpolitik oder die Weimarer Republik zu schreiben, macht nach dieser Logik keinen Sinn. Eigentlich macht das auch auf Englisch keinen Sinn, weil sich die US-Amerikaner für andere Sachen interessieren.

Gegen Sie läuft ein Disziplinarverfahren. Was hat es damit auf sich, was sind die Gründe?

Es geht um Zweifel an meiner Verfassungstreue. Nicht wegen irgendwelcher Sätze, die ich gesagt oder geschrieben habe, sondern weil ich Kontakt mit den falschen Leuten hatte oder habe. 2019 die Rote Hilfe, jetzt die Zeitung Demokratischer Widerstand.

Was ist Ihre Position zu den Vorwürfen?

Ich habe in der DDR erlebt, wohin die Reglementierung der Öffentlichkeit führen kann, und mir als Medienforscher das Ziel gesetzt, eine Wiederholung mit den Mitteln zu verhindern, die mir meine Professur bietet. Dazu gehört der Kontakt zu Bevölkerungsgruppen, die glauben, dass sich Politik und Staat von ihnen abgewendet haben. Ich halte das auch deshalb für meine Pflicht, weil ich einen Eid auf die bayerische Verfassung geschworen habe, die in Artikel 96 sagt, dass die Beamten „Diener des ganzen Volkes“ sind „und nicht einer einzelnen Partei“.

Lesetipp: Michael Meyen: Wie ich meine Uni verlor: Dreißig Jahre Bildungskrieg. Bilanz eines Ostdeutschen. Eulenspiegel Verlagsgruppe. edition ost. 28. August 2023. 15 Euro.

Titelbild: Coverbild edition ost


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