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Titel: Lateinamerika und die Galeeren des grünen Kapitalismus
Datum: 27. August 2023 um 11:45 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Redaktion
In den ersten Jahren ihres Bestehens hat die Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (CELAC), motiviert durch einen unaufschiebbaren Impuls für den Frieden, einen Großteil ihrer Zeit darauf verwendet, die Erklärung von Lateinamerika und der Karibik zur Friedenszone[1] mit Inhalt zu füllen. Dies ist eine ihrer Gründungssäulen und bewahrt sie als solche vor der Versuchung, den Sirenengesängen zu erliegen, die sie von verschiedenen kriegführenden Organisationen zu hören bekommt. Diesem Umstand ist es unter anderem zu verdanken, dass es in der Region keinen offenen bewaffneten Konflikt gibt; die Region möchte, dass dies so bleibt und setzt sich für eine weltweite Friedensförderung ein. Doch das stößt unter anderem auf den Widerstand der EU und deren neoliberaler Agenda. Von Irene León.
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Krieg ist keine der Prioritäten der CELAC, sondern sie konzipiert sich ganz im Gegenteil „als ein repräsentativer Mechanismus für politische Konsultation, Zusammenarbeit und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Integration, beruhend auf Demokratie und Dialog als Instrument zur Beilegung von Differenzen und erkennt gleichzeitig das Recht eines jeden Landes an, sein politisches und wirtschaftliches System frei zu definieren” [2]. Die Definition als Friedenszone hängt mit ihrer Verpflichtung zum Multilateralismus, mit der Suche nach friedlichen und diplomatischen Konfliktlösungen und – im schlimmsten Fall – mit der Neutralität zusammen.
Deshalb weigerte sich die Region auch auf dem Dritten Gipfel CELAC-Europäische Union[3], der am 17. und 18. Juli 2023 in Brüssel stattfand, auf die Forderungen der EU einzugehen und gegen Russland Partei zu ergreifen und die Ukraine zu unterstützen. Mehr noch, in einem Szenario, in dem Waffenhändler von Streubomben bis hin zu nuklearen „Abschreckungs”systemen alles zur Verfügung stellen, „müssen wir den Humanismus aufrechterhalten und die Aufrüstung und die Verbreitung von Atomwaffen bekämpfen. Die Europäische Union muss uns eine größere Anstrengung zur Erreichung des Friedens zusichern”, betonte die honduranische Präsidentin Xiomara Castro.
Die CELAC-Länder stellen infrage, dass Billionen für Kriege ausgegeben werden, aber keine wirksamen Maßnahmen zur Beseitigung der Ungleichheit und nicht einmal für die Beseitigung des Hungers ergriffen werden. Im Jahr 2022 beliefen sich die weltweiten Rüstungsausgaben auf rund 2,2 Billionen US-Dollar, allein die EU investierte mehr als 345 Milliarden, während sich die Ausgaben ihres Verbündeten USA auf 877 Milliarden summierten[4].
Die Erklärung des dritten CELAC-EU-Gipfels 2023[5] verweist auf den Frieden und internationale Instrumente zur Konfliktlösung, während die von 2016 die Grundlage der Erklärung Lateinamerikas und der Karibik als Zone des Friedens würdigt und auf die Bedeutung des Vertrags von Tlatelolco[6](1967) hinweist. Dieser verbietet Atomwaffen in der Region und fördert die Abrüstung.
Die Pläne der CELAC – und die Pläne der EU für die CELAC
Obwohl beide Regionen in der Wichtigkeit einer Verbesserung der bilateralen Beziehung übereinstimmen und auf mehrere gemeinsame globale Probleme wie die Erderwärmung oder die Pandemien hinweisen, bezieht sich ihr jeweiliger Fokus auf unterschiedliche geopolitische Perspektiven.
Die CELAC, als Stimme Lateinamerikas und der Karibik in der Welt, zieht vielfältige internationale Beziehungen mit den verschiedenen Regionen in Betracht, die Vereinbarungen mit den Achsen der Multipolarität umfassen, wie im Falle Chinas, mit dem sie einen gemeinsamen Aktionsplan hat.
In ihrem Plan zur Reaktivierung und Stärkung[7] nennt die CELAC als ihre Prioritäten die Konsolidierung ihrer eigenen Kapazitäten und ihrer Souveränität sowie die sofortige Einführung von Umverteilungsmechanismen, unter anderem durch Maßnahmen, die die internationalen Finanzinstitutionen einbeziehen. Hierzu zählen etwa der zeitnahe Zugang zu Sonderziehungsrechten oder die Behandlung der Auslandsschulden, die mehr als 70 Prozent des regionalen BIP ausmachen und die gerade jetzt aufgrund der Zinsen, Gebühren und Zuschläge auf Darlehen einen Kanal für Ressourcenabzug darstellen. Auch die Schaffung einer eigenen Währung zur Erleichterung der Diversifizierung des Handelsaustausches steht auf der Tagesordnung.
Gleichzeitig plant die CELAC die Stärkung der Souveränität in Bezug auf Nahrungsmittel, Technologie und Energie – Bereiche, die, wie wir weiter unten sehen werden, im Mittelpunkt des erneuerten Plans der EU für die Region stehen. In ihren Beziehungen zu Europa hat die CELAC, abgesehen von dem ausdrücklichen Interesse an geregelten und gleichberechtigten Wirtschaftsbeziehungen, keine spezifischen politischen Pläne und auch keine einseitigen oder einmischenden Maßnahmen. Gleichzeitig beobachtet sie mit Besorgnis unter anderem die Menschenrechtsverletzungen bei den Migrationsprozessen, vor allem im Mittelmeerraum, oder die Unterdrückung der Zivilgesellschaft wegen ihrer Forderungen.
Die EU schlägt ihrerseits eine Partnerschaft auf der Grundlage ihres Global Gateway-Projekts[8] vor, einer internationalen Governance-Agenda, die darauf abzielt, Europa in der Welt neu zu positionieren. Ziel ist es, Investitionen der EU, ihrer Mitgliedstaaten und ihrer Finanzinstitute zu aktivieren, vor allem in den Bereichen grüne und saubere Energie und digitale Technologien sowie in den Bereichen Infrastruktur, Gesundheit, Bildung und Forschung. Es handelt sich um eine Mobilisierung öffentlicher Mittel zur weiteren Stärkung des Investitions- und Gewinnpotenzials des Privatkapitals. Der Präsident des Rates der Europäischen Union, Pedro Sánchez, hat argumentiert, dass öffentliche Investitionen private Investitionen ankurbeln und so gerechtere Gesellschaften schaffen werden.
Gleichzeitig tritt die EU mit diesem internationalen Neustart in Konkurrenz unter anderem mit Chinas Vorschlag der Seidenstraße, der auf dem Win-win-Prinzip beruht. Im Jahr 2022 erreichte der Handel zwischen China und Lateinamerika ein Volumen von 485,7 Milliarden Dollar, ein weiterer Anstieg wird erwartet.
Im Rahmen des Dritten CELAC-EU-Gipfels kündigte die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, Investitionen in Höhe von 45 Milliarden Euro in der Region Lateinamerika und Karibik an, die sie als natürlichen Verbündeten und langjährigen Freund bezeichnete. Die EU, die mit 26 der 33 Länder der Region Handelspartnerschaften unterhält, hat vor Kurzem neue Abkommen über sauberen Wasserstoff mit Argentinien, Chile und Uruguay geschlossen. Sie hofft weiterhin auf den Abschluss eines Freihandelsabkommens mit Mexiko und vor allem darauf, den Abschluss des seit 2019 geplanten Freihandelsabkommens mit dem Mercosur zu erreichen.
Von der Leyen unterstrich das Bestreben, dass sich die Geschäftsbeziehungen zwischen den beiden Regionen intensivieren, zur Stärkung der Schaffung von Möglichkeiten für jeden „an seinem rechtmäßigen Platz” in den Liefer- und Wertschöpfungsketten. In Lateinamerika und der Karibik entstehen viele der Konflikte jedoch durch Rechtsverletzungen des Privatsektors, vor allem der Unternehmen und transnationalen Konzerne, die von allen möglichen Anreizen ohne Regulierungen profitieren. Unter diesen Bedingungen könnten öffentliche Anreize für das Vordringen des europäischen Privatsektors in strategische Bereiche Lateinamerikas und der Karibik zur Privatisierung von Natur- und Energieressourcen durch Dritte führen.
Andererseits ist im Zusammenhang mit Global Gateway die sogenannte „internationale regelbasierte Ordnung” in Stellung gebracht worden, die, wie der kubanische Präsident Miguel Diaz Canel betont, nicht von den Staaten vereinbart wurde, die internationale Gesetzgebung verdrängt und – zum Vorteil des privaten und unternehmerischen Sektors – sogar an die Stelle der multilateralen Gremien tritt.
Dies erklärt den Appell an Gleichheit und Transparenz, den die Präsidenten der CELAC im Rahmen des Dritten Gipfeltreffens formulierten. Mit den Worten des Präsidenten des Plurinationalen Staates Bolivien, Luis Arce: „Alle Staaten haben das Recht auf ihre Souveränität, und mit diesem Respekt sollten auch die natürlichen Ressourcen der Länder behandelt werden.”
Einige Dynamiken der Energiewende
Lateinamerika und die Karibik zeichnen sich durch den Reichtum ihrer Natur- und Energieressourcen aus, mit beträchtlichen Reserven an erneuerbaren und sauberen Energien: Sonne, Wind, Wasser, Wasserstoff und andere, aber auch an fossilen Energien. Letztere stoßen nach wie vor auf großes Interesse, da ein großer Teil der Industrie, der Transport und andere Bereiche von ihnen abhängen. Venezuela verfügt über die größten Erdölreserven der Welt, während Bolivien, Argentinien und Chile mit 85 Prozent des wertvollen Minerals Lithium das sogenannte Lithium-Dreieck bilden.
Die internationale Nachfrage nach diesen Ressourcen, insbesondere nach sauberer Energie, hat sich mit dem Aufkommen der Pläne zur Energiewende vervielfacht, die durch den drohenden Klimawandel und die damit verbundenen internationalen Verpflichtungen ausgelöst wurden. „Im Jahr 2022 flossen 224,579 Milliarden Dollar nach Lateinamerika und in die Karibik, die höchsten Beträge seit Beginn der Aufzeichnungen.”[9] Zu diesen Investitionen gehören auch die von Investmentfonds des Finanzkapitals und anderen Akteuren, die nicht direkt mit kollektiven Lösungen, sondern mit privater Akkumulation zu tun haben. Dadurch hat die Energiewende Konturen vor allem in Bezug auf die Energieversorgungssicherheit angenommen, nicht zuletzt, weil die Länder des Nordens ihre Politik mit der Entwicklung der Märkte verbinden.
In diesem Zusammenhang ist es für die Region von wesentlicher Bedeutung, die Achse der Souveränität bei ihrem Energieangebot zu bekräftigen. Auf dem Gipfeltreffen mit der EU hat die CELAC das Thema Extraktivismus auf den Tisch gebracht, auch in Verbindung mit Praktiken, die aus dem kolonialen Erbe resultieren, die immer noch fortbestehen und Gegenstand von Reparationsforderungen sind. Dies gilt insbesondere für die Karibik, wo Situationen des direkten Kolonialismus fortbestehen, sowie für Afro-Nachkommen und indigene Völker. Laut dem argentinischen Präsidenten Alberto Fernandez hat dieser Gipfel ermöglicht, das Problem des Extraktivismus zum ersten Mal direkt anzusprechen und einen Mechanismus zu seiner Beendigung vorzuschlagen.
Die EU bringt vor, dass es nicht nur um die Ressourcengewinnung geht, sondern auch um die Dynamisierung von Wertschöpfungsketten und das Vorhandensein tragfähiger Zulieferer, wovon auch die lokalen Gemeinschaften profitieren würden. Sie behauptet, dass die Investitionsagenda Global Gateway EU-Lateinamerika/Karibik als politische Verpflichtung für die Zusammenarbeit und die Ermittlung fairer grüner und digitaler Investitionsmöglichkeiten in Lateinamerika und der Karibik definiert sei. Diese würde von dem durch Handels- und Investitionsabkommen geschaffenen offenen Umfeld profitieren und so zur Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung beitragen.
Pragmatisch erinnert der Präsident der CELAC, Ralph Gonsalves, daran, dass „2009 bereits von einem Milliardenfonds zur Eindämmung des Klimawandels die Rede war und bis heute nichts geschehen ist”. Aber über die Fonds hinaus weisen Gonsalves selbst und mehrere CELAC-Präsidenten darauf hin, dass „das zugrundeliegende Problem die Dynamik des kapitalistischen Systems selbst ist, das der Reproduktion des Kapitals Vorrang vor dem menschlichen und planetarischen Leben einräumt”, wie der bolivianische Präsident Luis Arce betonte. Gleichzeit rief er dazu auf, „als internationale Gemeinschaft zu denken, die wir sind, und gemeinsam die Ursachen und Lösungen für alle Aspekte der vielfachen Krisen des Kapitalismus zu ermitteln”.
Dies zeigt, dass die CELAC neben ihrer Suche nach sozioökonomischen Lösungen dringend ihren Vorschlag für die regionale Selbstversorgung und ihren eigenen Plan für die Energiewende ausarbeiten muss. Darüber hinaus muss sie die Planungen für die technologische Entwicklung, die digitale Souveränität und das Wissen, die in ihrem Reaktivierungs- und Verstärkungsplan enthalten sind, voranbringen. Auf dieser Grundlage werden sich respektvolle überregionale Beziehungen entwickeln, die, wie der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva betonte, die Möglichkeit einschließen, Partner unter Gleichen mit Europa zu sein.
Irene León aus Ecuador ist Soziologin und Autorin
Übersetzung: Susanne Schartz-Laux, Amerika21.
Titelbild: Shutterstock / Alexandros Michailidis
„Gipfel der Völker” als Gegenentwurf zum CELAC-EU-Gipfel in Brüssel
Stimmen aus Lateinamerika: Die Rückkehr einer selbstbewussten Dritten Welt
[1] Celac (2014) Proklamation von Lateinamerika und der Karibik als Zone des Friedens.
[2] Irene León (2022), Die Integration mit souveräner Perspektive, in Humanidad en REDH Jahr 2023 Nr. 1.
[3] Gipfeltreffen Celac-Europäische Union, Brüssel, 17.-18. Juli 2023.
[4] Internationales Stockholmer Friedensinstitut, SIPRI (2022). Datenbank der Militärausgaben.
[5] Europarat (2023) Erklärung des Celac-EU-Gipfels 2023/12000-23.
[6] Vertrag über das Verbot von Kernwaffen in Lateinamerika und der Karibik (1967).
[7] Celac (2021) Erklärung von Mexiko-Stadt. VI. Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Celac. Mexiko.
[8] Europäische Kommission. Global Gateway.
[9] Cepal(2023) Ausländische Direktinvestitionen in Lateinamerika und der Karibik 2023.
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