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Titel: Russischer Marxist Boris Kagarlitsky verhaftet
Datum: 27. Juli 2023 um 14:01 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Länderberichte
Verantwortlich: Redaktion
In Russland wurde am 26. Juli der Marxist und Soziologe Boris Kagarlitsky verhaftet. Er ist international wegen zahlreicher Buchveröffentlichungen und Interviews bekannt. Die Verhaftung wurde in der Stadt Syktywkar in nordrussischen Republik Komi vollzogen. Die Untersuchungshaft wird bis zum 24. September verhängt. Nach Berichten im Internet wurde der Soziologe in die Republik Komi gebracht, weil offenbar dort jemand Anzeige gegen Kagarlitsky erstattet hatte. Dem 1951 geborenen Soziologen wird „öffentlicher Aufruf zum Terrorismus, Rechtfertigung von Terrorismus und Propaganda für Terrorismus über Medien und das Internet“ vorgeworfen. Ihm droht eine Haftstrafe von fünf Jahren. Von Ulrich Heyden.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Der Anschlag auf die Krim-Brücke 2022
Es geht um einen Post, den Kagarlitsky am 8. Oktober 2022, dem Tag des Bombenanschlags auf die Krim-Brücke, auf Telegram veröffentlicht hatte. In diesem Post führt der Soziologe aus, dass der Anschlag ein zentrales Prestige-Objekt der „Putin’schen Macht“ traf. Eine Verurteilung des Anschlags und ein Beileid für die vier Zivilisten, die bei dem Anschlag getötet wurden, sucht man in dem Post vergeblich. Das ist moralisch und politisch fragwürdig. Ob das aber eine „Rechtfertigung von Terrorismus“ ist, halte ich für juristisch fragwürdig.
Der russische Geheimdienst erklärte nach dem Bombenanschlag im Oktober letzten Jahres, der Terrorakt sei vom ukrainischen Militärgeheimdienst und dessen Leiter, Kirill Budanow, ausgeführt worden.
Russische Zeitungen berichteten nicht über die Festnahme von Kagarlitsky, wohl aber das liberale Business-Portal RBK. Das Portal zitierte den Anwalt von Kagarlitsky, der darauf hinwies, dass der Soziologe Terrorismus nie unterstützt, aber immer auf reale Probleme im Staat hingewiesen habe.
Merkwürdige Einäugigkeit
Was ich fragwürdig fand, war die Reaktion von Linken im Westen. Twitter war voll von Protesten gegen die Verhaftung von Kagarlitsky. Beim „Neuen Deutschland“ schrieb der Redaktionsleiter Wolfang Hübner persönlich einen ausführlichen Artikel.
Derartige Reaktionen wünschte ich mir auch, als in der Ukraine Kommunisten – wie die Brüder Aleksandr und Michail Kononowitschi – verhaftet wurden. Ihnen droht eine lange Gefängnisstrafe. Doch zur Verfolgung von Linken und Andersdenkenden in der Ukraine schweigen die meisten deutschen Linken und zeigen damit, wie sehr sie im deutschen Mainstream mitschwimmen.
Die Wandlung des Soziologen
Kagarlitsky saß schon zu Breschnew-Zeiten wegen der Bildung eines sozialistischen Studentenzirkels in Haft. Anfang der 1990er Jahre wurde er in den Moskauer Stadtrat gewählt. Dann versuchte er mit der „Partei der Arbeit“ eine linkssozialistische Organisation zu bilden, was aber scheiterte.
Bei einer erneuten Kandidatur für den Moskauer Stadtrat 2019, als der Soziologe auf der Liste der sozialdemokratischen Partei „Gerechtes Russland“ kandidierte, erreichte er nicht genug Stimmen. Seit dem Frühjahr 2022 wird der Soziologe in Russland als „ausländischer Agent“ gelistet. Worauf sich diese Kennzeichnung der russischen Behörden exakt stützt, ist unklar.
Kagarlitsky war Hochschullehrer und ist Chefredakteur des linken Online-Magazins „Rabkor“. Außerdem ist er die führende Kraft im gleichnamigen YouTube-Kanal, der 110.000 Abonnenten hat.
2014 hatte Kagarlitsky die prorussischen Aufständischen in den Volksrepubliken Lugansk und Donezk unterstützt. Doch seit der russischen Invasion in die Ukraine 2022 ging Kagarlitsky in Fundamentalopposition zur russischen Macht.
Der Leiter der russischen Linken Front, Sergej Udalzow, kommentierte, „Boris Kagarlitsky war kein Organisator von Protesten, er kandidierte nicht für das Amt des Präsidenten, eine Partei gründete er nicht. Aber er hatte eine absolut negative Einstellung zur SWO (Spezialoperation in der Ukraine), was aus Sicht der Macht schon fast ein Verbrechen ist“.
Annäherung an die Liberalen
Ich habe Kagarlitsky in den letzten drei Jahrzehnten oftmals interviewt. Er war für mich ein wichtiger linker Kritiker in Russland, der es verstand, wunde Punkte im Land für eine breite Leserschaft verständlich darzustellen. Doch seit dem Ukraine-Krieg ist der Soziologe in eine Frontal-Opposition zur russischen Macht gegangen, die der Position der russischen Liberalen, von denen ein Großteil ins westliche Ausland gegangen ist, ähnelt. Siehe dazu auch meine Anmerkungen zum Kagarlitsky-Interview für das Portal „Jacobin“. Die Ausdehnung der NATO in die Ukraine wird von dem Soziologen nur noch am Rande thematisiert und nicht mehr als zentrales Problem für Russland genannt. Trotzdem wünsche ich mir, dass man Kagarlitsky freilässt.
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