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Titel: Die große Heuchelei um das Getreideabkommen

Datum: 19. Juli 2023 um 11:16 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Russland hat das im Juli 2022 unter Vermittlung der UN und der Türkei mit der Ukraine abgeschlossene Getreideabkommen auslaufen lassen. Das kann man kritisieren. Wer jedoch bei seiner Kritik die ärmsten Länder der Welt für sich vereinnahmt, ist ein Heuchler. Nach den Daten der UN gingen nur drei Prozent der unter diesem Abkommen verschifften ukrainischen Getreidelieferungen in die Staaten, die von der Weltbank als arm eingestuft werden. 81 Prozent der Lieferungen gingen nach China und die reichen Staaten des Westens, wo das Getreide meist als Tierfutter genutzt wird. Die USA und die EU müssten nur mit dem Finger schnippen und die Ernährungssicherung der ärmsten Länder wäre gewährleistet. Doch darum geht es ja nicht. Es geht darum, der Ukraine Exporteinnahmen zu sichern, mit denen sie den Krieg weiterführen kann. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wer sich gestern Abend die Tagesschau angeschaut hat, wurde Zeuge davon, wie moderner Journalismus in ganz großem Stil auf die Tränendrüse drücken kann und dabei gnadenlos manipuliert. Es hieß dort wörtlich, dass das Auslaufen des Getreideabkommens „besonders schlimm für Menschen in Ostafrika, Afghanistan oder Jemen“ sei, „die Hilfe brauchen“. Der SPIEGEL titelte „Putins Spiel mit dem Hunger“ und unsere Außenministerin stieß ins gleiche Horn und forderte Russlands Präsidenten am Rande eines UN-Besuches auf, „es zu unterlassen, Hunger als Waffe einzusetzen“. Das ist starker Tobak. Das ist heuchlerisch und verwerflich.

Schauen wir uns doch einmal die offiziellen Daten der UN an. Der Sudan bekam unter dem Getreideabkommen gerade einmal 95.000 Tonnen Getreide aus der Ukraine – insgesamt importiert das ostafrikanische Land 2,7 Millionen Tonnen. Auch im letzten Jahr kam laut Daten der sudanesischen Zentralbank der größte Teil davon übrigens aus Russland.

Quelle: UN

In den Jemen wurden immerhin 260.000 Tonnen Getreide aus der Ukraine geliefert – das sind aber auch nur etwas mehr als sechs Prozent der Gesamtimporte, die im letzten Jahr 4 Millionen Tonnen ausmachten. Die Versorgung des Jemen war dabei im letzten Sommer in der Tat prekär. Aber nicht wegen ausbleibender ukrainischer, sondern wegen zum Teil ausbleibender und sich durch die Sanktionen verteuerter russischer Getreideexporte. Dies wurde jedoch durch Exporte aus Australien und Indien kompensiert – die Lieferungen im Rahmen des Getreideabkommens spielten kaum eine Rolle.

Und was hat Afghanistan mit dem Getreideabkommen zu tun? Nur sehr wenig. Afghanistan hat zwar in der Tat 131.000 Tonnen Getreide aus der Ukraine bezogen, was jedoch nur drei Prozent der Gesamtgetreideimporte entspricht. Diese Importe wurden übrigens ausschließlich indirekt über das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen abgewickelt. Das ist kein Wunder. Afghanistan importiert schließlich normalerweise kein Getreide aus der Ukraine. Die Getreideimporte kommen im Binnenstaat Afghanistan naturgemäß meist nicht aus Übersee, sondern aus den „Nachbarländern“ Pakistan, Turkmenistan und Kasachstan. Für das kommende Jahr rechnen die Fachleute übrigens mit stark rückläufigen Getreideimporten – nicht wegen des Krieges in der Ukraine, sondern weil die Taliban auf den ehemaligen Mohnfeldern nun Getreide anbauen, was das Land unabhängiger von Nahrungsmittelimporten machen wird.

Quelle: UN

In Summe bekamen diese drei armen Länder also unter dem Getreideabkommen 485.000 Tonnen Getreide aus der Ukraine. Das ist halb so viel, wie allein Israel im letzten Jahr über das Getreideabkommen aus der Ukraine importierte. Spanien hat übrigens unter dem Getreideabkommen sechs Millionen Tonnen und damit mehr als zwölfmal so viel wie die in der Tagesschau mit Bildern hungernder Kinder instrumentalisierten armen Länder importiert. In Spanien gibt es keine hungernden Kinder, dafür aber viele Schweine. Die werden mit ukrainischem Weizen gefüttert und landen dann als Jamon Serrano oder Chorizo in unseren Kühltheken. Vergessen Sie die hungernden Kinder. Es geht um uns.

Und es geht um die Exporteinnahmen der Ukraine. Mit dem Wegfall des von Russland besetzten Kohle-, Stahl- und Industriereviers im Osten des Landes ist die Ukraine in puncto Exporte auf die Rolle eines Agrarstaats geschrumpft. Dass Russland ein Interesse daran hat, die Einnahmen der Ukraine wegbrechen zu lassen, ist verständlich. Gutheißen muss man das freilich nicht. Jeder Dollar, den die Ukraine nicht auf den Weltmärkten einnimmt, „muss“ ihr, so will es der Westen ja offenbar, von ihren Finanziers überwiesen werden. Schließlich will der Westen ja immer noch, dass die Ukraine Russland besiegt. Und das geht nunmal nicht ohne Geld. Das eigentliche Opfer des auslaufenden Getreideabkommens ist also noch nicht einmal die Ukraine – und es sind schon gar nicht die hungernden Kinder in Afrika –, sondern der Westen, der nun noch mehr Milliarden lockermachen muss. Dass dies bei Annalena Baerbock nicht gerade Freudentränen auslöst, ist verständlich.

Nun aber die „Hungerkarte“ zu spielen, ist heuchlerisch. Ein Land, das doppelt so viel Mais wie die Ukraine exportiert und noch mehr exportieren könnte, sind beispielsweise die USA. In einem aktuellen Bericht des US-Landwirtschaftsministeriums zum weltweiten Agrarhandel werden die USA als das Land aufgezählt, dessen Maisexporte im letzten Jahr am stärksten zurückgegangen sind. Als Grund dafür werden „geringere vertragliche Verpflichtungen und zu niedrige Weltmarktpreise“ genannt. Was bedeutet das? Laut WWF wurden im letzten Jahr ganze 14 Millionen Tonnen Mais in den USA bereits auf den Farmen vernichtet, weil sich die Ernte und der Export finanziell nicht lohnen. Das sind übrigens rund 50 Prozent mehr, als die in der Tagesschau genannten armen Staaten insgesamt an Getreide importieren. Denken Sie mal darüber nach.

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Titelbild: Roman_studio/shutterstock.com


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