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Titel: Die „linksliberalen“ Tugendpächter und ihr wirklicher Charakter
Datum: 12. Juli 2023 um 14:00 Uhr
Rubrik: Ideologiekritik, Interviews, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Ist das „linksliberale“ Milieu in Wirklichkeit eine reaktionäre Klasse, die den Herrschenden dient? Ist deren politische Korrektheit und Kampf für Gleichberechtigung in Wirklichkeit nur eine Farce, um nicht über Umverteilung reden zu müssen? Die US-Amerikanerin Catherine Liu vertritt in ihrem Buch „Die Tugendpächter. Wie sich eine neue Klasse mit Moral tarnt und Solidarität verrät“ genau diese Ansicht. Udo Brandes hat es für die NachDenkSeiten gelesen und stellt es vor.
Der konservative Focus-Kolumnist Ulrich Reitz stellte kürzlich in einer seiner Kolumnen fest, dass es in Deutschland eine neue Wählergruppe gebe: die Anti-Grünen. Dies seien Wähler, die nicht linksliberal sein wollten, aber auch nicht „völkisch“ (Quelle siehe hier). Die Literatursoziologin Carolin Amlinger und der Soziologe Oliver Nachtwey beklagten das Gleiche in der „Zeit“, nur drückten sie es anders aus: Die Linksliberalen seien das neue Feindbild (Quelle siehe hier).
Sowohl Reitz als auch Amlinger und Nachtwey haben recht. Nur dass sie den eigentlichen Charakter dieses Phänomens nicht treffen: Der Hintergrund dafür ist ein Klassenkampf. Und zwar ein Klassenkampf von oben, geführt von einer Klasse, die selbst angestellt und abhängig arbeitet, sich aber mit den Interessen der Kapitalseite identifiziert und deren Interessen vertritt. Genau mit dieser Klasse beschäftigt sich Catherine Liu, Professorin an der University of California in Irvine, in ihrem Buch. In Anlehnung an eine Untersuchung des US-amerikanischen Soziologenehepaares Barbara und John Ehrenreich aus den siebziger Jahren nennt sie diese Klasse „Professionel Managerial Class“ (abgekürzt PMC), was man im Deutschen mit „Professioneller Managerklasse“ wiedergeben könnte. Ein weiteres Vorbild für Lius Analyse ist die berühmte Studie „Die Angestellten“ des deutschen Soziologen Siegfried Kracauer aus dem Jahre 1930.
Liu übernimmt von den Ehrenreichs deren Definition dieser Professionellen Managerklasse. Demnach handelt es sich dabei um
„angestellte Geistesarbeiter, die nicht im Besitz der Produktionsmittel sind und deren Hauptfunktion in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung allgemein als Reproduktion der kapitalistischen Kultur und kapitalistischen Klassenbeziehungen beschrieben werden kann“ (S. 23).
Etwas weniger soziologisch formuliert: Die Professionelle Managerklasse sorgt dafür, dass der Kapitalismus auch weiterhin funktioniert, und zwar sowohl ganz praktisch als auch ideologisch. Dass also die abhängig arbeitenden Klassen (Ich spreche ungerne von Arbeiterklasse, weil diese schwer abzugrenzen ist. Ist der Sachbearbeiter in der KFZ-Meldestelle ein Arbeiter?) nicht auf „dumme“ Gedanken kommen, sondern eine Mentalität entwickeln oder beibehalten, die den Erhalt des kapitalistischen Systems garantiert. Dass sie also nicht zu widerständig und selbstbewusst werden und (aus Sicht des Kapitals) „unangemessene“ Forderungen stellen.
Cathrine Liu positioniert sich klar und eindeutig als Sozialistin, die das System Kapitalismus bekämpft. Und sie ist offenbar wirklich sehr erbost über die PMC:
„Indem ich die PMC durch eine polemische Darstellung ihrer Moral kritisiere, hoffe ich, ihre Macht über die Art und Weise, wie wir über Politik denken, zu schwächen. Das Ziel meiner Kritik ist eine Rückkehr zu sozialistischer Politik und zu sozialistischen Maßnahmen, die einst von den Vordenkern der PMC an den Rand gedrängt und durch die historischen Präsidentschaftskampagnen von Bernie Sanders 2016 und 2020 wieder sichtbar gemacht wurden“ (S.23).
Die PMC ist „als Klasse hoffnungslos reaktionär“
Liu sieht in der liberalen PMC das eigentliche Hindernis für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen im Sinne gesellschaftlicher Gleichheit:
„Während die Rechte ein hartnäckiges Hindernis für eine wirtschaftliche Neuordnung und eine groß angelegte Umverteilung darstellt, ist es jedoch in Wirklichkeit die liberale PMC, die der politischen Revolution im Wege steht, die notwendig ist, um eine andere Art von Gesellschaft und Welt zu schaffen, in der die Würde der einfachen Menschen und der Arbeiterklasse im Mittelpunkt steht. (…) Sie will den tugendhaften Sozialhelden spielen, aber als Klasse ist sie hoffnungslos reaktionär. Die Interessen der PMC sind heute mehr denn je an ihre Konzernoberherren gebunden als an die Kämpfe der Mehrheit der Amerikaner, deren Leiden lediglich als Hintergrunddekoration für die ehrenamtliche Arbeit der PMC-Elite dient.“ (S. 30-31).
Dass das „linksliberale“ Milieu in Deutschland so unbeliebt bis verhasst ist, das hat, so denke ich, genau mit dem zu tun, was Liu am Beispiel der PMC in den USA beschreibt: Das „linksliberale“ Milieu gibt sich gerne sozial, kritisch und liberal, dient aber in Wirklichkeit den materiellen Interessen der Kapitalseite und ihren eigenen Privilegien – und schert sich einen Dreck um „die kleinen Leute“. Oder verachtet diese sogar.
Ist Lius Analyse auf Deutschland übertragbar?
Aber kann man denn tatsächlich sagen, dass das „linksliberale“ Milieu in Deutschland im Wesentlichen eine Managerklasse ist, die der Ideologie und den Interessen eines kapitalistischen Systems dient? Ich denke, ja. Wie wäre es sonst zu erklären, dass selbst die biedersten Unternehmen plötzlich die Diversität entdecken, die Regenbogenflagge vor ihrem Konzernsitz hissen und Mitarbeiter anweisen, eine gendergerechte bzw. politisch korrekte Sprache zu verwenden (in Berlin wurde zum Beispiel Mitarbeitern des Landes nahegelegt, das Wort „Schwarzfahrer“ nicht mehr zu benutzen)? Politische Korrektheit ist für große Konzerne und deren Managerklasse ein Geschäft, das sich für beide Seiten lohnt: Die Konzerne können mit ihrer hehren Moral hausieren gehen und trotzdem fröhlich weiter ausbeuten. Und die PMC kann sich moralisch überlegen fühlen und gleichzeitig gut kassieren. Liu beschreibt dies für die PMC der USA wie folgt:
„In liberalen Kreisen ist es nicht bloß kontrovers, von Klasse oder Klassenbewusstsein vor anderen Formen von Unterschieden zu sprechen; es ist ketzerisch“ (S. 27).
In Deutschland geht es nicht minder scheinheilig zu. Die Kulturschickeria gibt sich gerne kapitalismuskritisch, hat aber nicht das geringste Problem damit, fleißig mitzumachen und zum Beispiel als Kabarettist nach unten zu treten.
Eine der besten Kabarettistinnen Deutschlands, Christine Prayon, ist bei der Heute-Show ausgestiegen, weil sie sich nicht mehr daran beteiligen will, Andersdenkende lächerlich zu machen. Sie sagte in einem langen Interview mit der Stuttgarter Wochenzeitung „Kontext“ außerdem Folgendes:
„Ich habe mich wohl erfolgreich mit meinem Programm und meinen Ansichten aus vielen Sachen rauskatapultiert. Ich glaube zum Beispiel auch, wenn man das große Fass Kapitalismuskritik aufmacht und das wirklich ernst meint, ist man draußen. Nein, ich bin überhaupt keine Freundin mehr von Satiresendungen, egal ob Böhmermann, “Anstalt” oder andere“ (Quelle hier).
Barack Obamas Politik belegt: Klassenzugehörigkeit ist entscheidend
Liu kritisiert auch den Säulenheiligen der „Linksliberalen“, Ex-Präsident Barack Obama. Dieser hatte vom Büro für Bürgerrechte des Bildungsministeriums einen Brief an die Hochschulen verschicken lassen. Darin wurden die Hochschulen gewarnt, dass sie riskieren würden, ihre Rechte auf Bundesmittel zu verlieren, wenn sie keine Maßnahmen gegen sexuelle Gewalt oder Übergriffe auf dem Campus ergreifen würden. Das hatte Folgen:
„Viele Title-IX-Büros (Title-IX ist ein Gesetz, das die Benachteiligung von Frauen ausschließen soll; UB) lehnten das Prinzip ‚unschuldig bis zum Beweis der Schuld‘ ab, das die demokratische Rechtsstaatlichkeit ausmacht, und richteten Untersuchungsausschüsse und –gremien auf dem Campus ein, die kaum mehr als Scheingerichte waren“ (S.93).
Nach Auffassung von Liu hat Obama hier einen für Liberale typischen Kampf geführt, nämlich einen, der nicht das eigentliche Problem bekämpft. Sie kritisiert:
„Anstatt sich auf wirtschaftliches Fehlverhalten zu konzentrieren, verfolgte eine aufstrebende PMC-Elite unter Obama Sexualverbrechen – nicht am Arbeitsplatz, sondern auf dem College-Campus – mit einem Eifer, den Liberale für jede Politik reservieren, die die Aufmerksamkeit von wirtschaftlicher Umverteilung ablenkt. (…) Warum hat die Obama-Regierung nicht einen offiziellen ‚Dear Colleague‘-Brief an Inverstmentbanker und Finanzberater geschickt, in dem sie davor warnt, ihren Kunden dabei zu helfen, Milliarden von Steuern zu hinterziehen?“ (S. 92 und 99)
Liu zählt dann noch etliche weitere Adressaten auf, für die ein „Dear Colleague“-Brief angemessen gewesen wäre, etwa Big Pharma oder Goldman Sachs.
Resümee
Auch wenn Liu eine interessante und durchaus zutreffende Analyse abliefert: So ganz und gar anfreunden kann ich mich mit Lius Text nicht. Zum einen aus stilistischen Gründen. Lius Schreibstil ist mir etwas zu insiderhaft, und das in doppelter Hinsicht: Sie schreibt als Sozialistin bzw. Marxistin und als US-amerikanische Akademikerin. Es hätte dem Buch gut getan, wenn sie etwas populärer geschrieben hätte und etwas weniger den akademischen und marxistischen Jargon verwendet hätte. Nun, man muss sich wohl damit abfinden, dass Universitätsakademiker nur in seltenen Ausnahmefällen wirklich gute Schreiber sind. Aber um Missverständnisse zu vermeiden: Das Buch ist trotzdem noch für den „normalen“ politisch interessierten Leser lesbar. Aber ich frage mich, wieso eine Autorin, die mit ihrem Buch ausdrücklich politisch etwas bewirken will, sich in dieser Hinsicht nicht mehr Mühe gibt. Dass sie es viel besser kann, bewies sie in einem taz-Interview, in dem sie sehr schön anschaulich erklärte, warum sie das im „linksliberalen“ Akademikermilieu so beliebte Konzept der „Intersektionalität“ ablehnt (Mit diesem Begriff ist gemeint, dass Menschen aufgrund mehrerer Eigenschaften, z. B. Hautfarbe und Geschlecht, diskriminiert werden). Sie antwortet auf eine entsprechende Frage der taz:
„Kimberlé Crenshaw, die den Begriff prägte, war Anwältin. Intersektionalität ist ein juristisches Konzept, kein politisches. Sie wollte zeigen, dass Schwarze Frauen, die ihre Jobs in einer Autofabrik verloren, nicht entweder als Frauen oder als Schwarze diskriminiert wurden, sondern als eigene Kategorie: Schwarze Frau. Es spricht Bände, dass sie vergaß, sie als Arbeiterinnen zu denken, die so was wie von Gewerkschaften erstrittene Arbeitsrechte hatten. Wenn, dann taucht in dieser Theorie Klasse nur als eine von mehreren Identitäten auf, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Das finde ich völlig falsch. Klasse ist keine Identität, sondern unser Verhältnis zu den Produktionsmitteln. Klasse fußt auf Widerspruch, nicht auf Differenz“ (taz.de).
Dass Klassenzugehörigkeit die letztlich für das Leben wichtigere Kategorie ist, erklärt sie mit zwei weiteren schönen Beispielen:
„Eine Afroamerikanerin aus der Arbeiterschicht ist einer asiatischen Frau aus der Arbeiterschicht näher als Oprah Winfrey (eine schwarze US-Amerikanerin, die im Fernsehbusiness Karriere machte und zur Milliardärin aufstieg; UB). Das klingt banal, aber in den USA wird uns erzählt, man könne sich nur mit Menschen aus der gleichen ethnischen Gruppe identifizieren. Oder nehmen wir ein deutsches Beispiel: Karl Lagerfeld, möge er in Frieden ruhen, kam aus einer reichen aristokratischen Familie. Er begann sein Leben als reicher Mann und er starb noch viel reicher. Natürlich, er war schwul. Er mag dadurch viel Leid erfahren haben in seinen konservativen Kreisen. Aber niemand kann mir erzählen, dass sein Leben viel mit einem schwulen Mann, sagen wir, aus einer Hamburger Hafenarbeiterfamilie gemeinsam hat.“
Und noch ein Kritikpunkt: Mir fiel mir auf, dass Liu häufiger von einfachen Menschen ohne Hochschulabschluss spricht (Ein Beispiel findet sich auf Seite 109). Auf Seite 29 schreibt sie, dass die PMC auf die „Vulgarität und Dummheit der Massen“ herabsehe. Sie schreibt das so, als ob Vulgarität und Dummheit der Massen eine objektive Tatsache sei. Vielleicht bin ich da ein wenig überkritisch. Aber mir kommt das so vor, als ob da bei Liu selbst eine dünkelhafte Haltung gegenüber Nichtakademikern durchschimmert.
Mein zusammenfassendes Urteil: Gute Ideen und interessante Gedankengänge. Aber stilistisch nicht optimal umgesetzt. Trotzdem eine interessante politische Lektüre.
Titelbild: ImageFlow/shutterstock.com
Catherine Liu: Die Tugendpächter. Wie sich eine neue Klasse mit Moral tarnt und Solidarität verrät, Westend Verlag, 2023, 128 Seiten, 18,00 Euro.
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
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