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Titel: J’accuse – Ihr seid mitschuldig!

Datum: 7. Juli 2023 um 14:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Israel, Militäreinsätze/Kriege
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Zwei Tage lang hat die israelische Armee das Flüchtlingslager Jenin und angrenzende Teile der Stadt Jenin regelrecht in Schutt und Asche gelegt. Zwölf junge Palästinenser wurden getötet, vier davon noch keine 18: Teenager, halbe Kinder. Verletzte gab es über 140, darunter wohl mindestens 20 Schwerverletzte in kritischem Zustand. Was genau ist passiert: In den frühen Morgenstunden begann der Angriff der israelischen Armee gegen das Flüchtlingslager Jenin. Zwei Tage lang war dort die Hölle los für die knapp 20.000 Menschen, die dort hausen müssen, nachdem Israel sie 1948 aus ihrer Heimat im heutigen Staat Israel vertrieben hat. Die Armee griff mit bewaffneten Drohnen (Killerdrohnen, falls dieser Begriff auf Deutsch gebräuchlich ist) aus der Luft an und rückte mit über 150 gepanzerten Armeefahrzeugen ins Lager ein. Von Helga Baumgarten.

Sachkundige (wie Anshel Pfeffer von der Zeitung Haaretz) nennen die „Operation Haus und Garten“ – so der zynische Name für diesen Angriff – eine „Textbuch-Demonstration“ für „urban warfare“ oder Stadtkrieg. Israel übt also, wie immer wieder in Gaza, an den Menschen in Palästina, um die Überlegenheit seiner Waffen und seiner Militärstrategie und -taktik vor der Welt zu demonstrieren.

Die Armee, so ihre Darstellung des Angriffs auf Jenin, habe 300 Kämpfer in einem dichtbesiedelten Flüchtlingslager konfrontieren müssen. Um das in solchen Situationen unvermeidliche Blutbad zu verhindern, habe sie zuerst die „Kommando-Zentren“ der Bewaffneten gezielt mit Drohnen bombardiert. Danach sei die Armee von vier Seiten gleichzeitig ins Lager eingedrungen: insgesamt mehr als 1000 Soldaten (inzwischen berichtet die israelische Presse sogar von 2000 Soldaten über zwei Tage) aller Spezialeinheiten, die Israels Armee zur Verfügung stehen, von der Infanterie mit den gefürchteten Golani-Einheiten über Ingenieure, Geheimdienstleute bis hin zu AI-Spezialisten. Amira Hass (ebenfalls Haaretz) spricht von einem regelrechten Science-Fiction-Angriff. Das HQ, das die Armee ganz in der Nähe von Jenin errichtet hatte, war in direkter und ununterbrochener Verbindung mit allen am Angriff beteiligten Gruppen und konnte in Echtzeit verfolgen, was vor Ort passierte.

Ihr Ziel präsentiert die Armee in Israel selbst und für die internationale Gemeinschaft fast unschuldig: Es gehe nur darum, Terroristen zu verhaften oder, falls unvermeidbar, zu töten, Waffenlager zu finden und auszunehmen, Labore zur Herstellung von Sprengkörpern oder Waffen zu zerstören. Zivilisten würden geschützt (mit der Einschränkung: so weit wie möglich – „Kollateralschaden“ sei unvermeidlich), und man wolle schlicht den Staat Israel und seine Bewohner verteidigen und allen Schaden von ihnen abwenden.

Die internationale Gemeinschaft – allen voran die USA, sekundiert von Europa mit Deutschland an der Spitze – unterstützt dieses „Recht auf Selbstverteidigung“ ohne jeden Vorbehalt. Sie vergisst dabei geflissentlich, dass Jenin in seit 1967 von Israel besetztem Gebiet liegt, dass Israel dort in Verletzung internationalen Rechtes in kolonialistischer Manier Siedlungen für seine Staatsbürger gebaut hat und von der Armee schützen lässt und, nicht zuletzt, dass Israel jede Friedenslösung mit den Palästinensern bis heute systematisch verweigert hat.

Wie werden Angriffe wie dieser Letzte auf Jenin von der palästinensischen Gesellschaft wahrgenommen? Ihre Erfahrungen mit der israelischen Besatzung, vor allem in den vergangenen 30 Jahren, sind bestimmt von Landraub in immer neuen Formen, von Siedlungsexpansion, Neubau von Siedlungen, Angriffen gegen die Menschen, wo immer sie sind, durch die Armee und durch extremistische Siedler, und immer wieder viel zu viele Tote und Verletzte. Vor allem aber gibt es keine politischen Perspektiven mehr.

Dagegen hat die derzeitige Regierung Netanyahu mit den Ministern Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich und Siedlerführern wie Yossi Dagan sehr klare Perspektiven. Ihr Ziel ist es, Siedlungen zu expandieren und das dadurch kontrollierte Land zu annektieren. Die Siedler, „die Herren des Landes“, als die sie sich auch gebärden, betrachten das Westjordanland, das sie Judäa und Samaria nennen, als ihnen von Gott gegebenes Land.

Palästinensische Ortschaften dort, wie z.B. Huwara südlich von Nablus, müssen, so Smotrich (selbst Siedler), ausradiert werden – nicht von einzelnen Siedlern, sondern von staatlicher Seite. Itamar Ben Gvir, ebenfalls ein Siedler sowie ein Anhänger des offen rassistischen Meir Kahane (Ben Gvir wurde in Israel als Mitglied in einer terroristischen Organisation, Kahanes Kach, verurteilt und deshalb z.B. nicht in die Armee aufgenommen. Inzwischen ist er zum Minister für nationale Sicherheit aufgestiegen!), hat klare Forderungen: „Wir müssen das Land Israel besiedeln und parallel einen großangelegten militärischen Angriff starten, Häuser sprengen, Terroristen ermorden, nicht einen oder zwei, sondern Dutzende, Hunderte und falls nötig Tausende.“

Zwischen 2017 und 2021, also noch unter der vorhergehenden Regierung Bennett/Lapid bzw. früheren Regierungen unter Netanyahu, wurden 50 neue sogenannte Siedlungs-„Outposts“ errichtet, zwar ohne offizielle staatliche Genehmigung, aber unter ständigem Schutz der Armee und der Bereitstellung der notwendigen Infrastruktur durch den Staat. Sie waren in der Lage, mehr als 10.000 Hektar palästinensischen Landes unter ihre Kontrolle zu bringen, vor allem mit ihren großen Herden von Schafen und Kühen, die viel Land brauchen, durch die Besetzung von Wasserquellen und immer wieder durch direkte Gewalt gegen palästinensische Bewohner, Bauern und Hirten, deren Schafe entweder gestohlen oder oft auch getötet werden.

Alle Siedlungen, nicht nur die 50 neuen „Outposts“, alle etwa 300 Siedlungen in der Westbank verstoßen gegen internationales Recht, und ihr Bau konstituiert ein Kriegsverbrechen, das vom Internationalen Strafgerichtshof verfolgt werden müsste.

Internationale Reaktion auf Jenin

Aber die internationale Reaktion auf Jenin klammert jeden nur entfernten Hinweis auf die Besatzung und auf ihre Kriegsverbrechen, ihren täglich demonstrierten Rassismus, ihre ununterbrochene Gewalt gegen die Gesellschaft unter ihrer Herrschaft systematisch aus. Sie übt lediglich verhaltene verbale Kritik. Sie fordert – nach Möglichkeit – die Versorgung von Verletzten und den freien Zugang von Krankenwagen, um Verletzte ins Krankenhaus zu bringen. Das ist alles. Nur die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ ist eine Ausnahme. Ihre Vertreterin im besetzten Palästina war fast direkt nach Beginn des israelischen Angriffs vor Ort und redete Tacheles in den arabischen Satellitensendern, allen voran al-Jazeera.
Durch Berichte in der israelischen Presse wissen wir, dass sowohl die USA als auch Europa und Deutschland vom bevorstehenden Angriff auf Jenin informiert wurden. Sie gaben, so ist zu lesen, ihre stillschweigende Zustimmung.

Ganz anders ist die internationale Reaktion auf den Anschlag eines jungen Palästinensers aus dem Süden der Westbank. In der israelischen Metropole Tel Aviv fuhr er in einem Auto mit Hochgeschwindigkeit auf eine Bushaltestelle. Er verletzte mehrere Menschen, griff noch einige weitere mit dem Messer an, ehe er von einem bewaffneten israelischen Zivilisten erschossen wurde. Insgesamt gab es acht Verletzte.

Alle westlichen Staaten bekunden ihr Entsetzen. „Den heutigen Terroranschlag in Tel Aviv verurteilen wir auf das Schärfste. Israel hat wie jeder Staat das Recht, sich gegen Terror zu verteidigen“, so das Auswärtige Amt (AA) aus Berlin. Wenn es um Jenin geht, klingt es völlig anders:

„Bei der seit zwei Tagen andauernden israelischen Militäroperation im Flüchtlingslager Dschenin muss das völkerrechtliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. Der Schutz von Zivilistinnen und Zivilisten muss immer oberstes Gebot sein, und ein adäquater Zugang für humanitäre Helfer und Helferinnen sichergestellt werden.“

Das lässt nur einen Schluss zu: Palästinenser in Jenin, die Männer, Frauen und Kinder dort sind es offensichtlich nicht wert, dass man sich wirklich um sie sorgt. Zwar spricht das AA von Zivilistinnen und Zivilisten, aber dass die israelische Armee ebendiese Menschen systematisch und rücksichtslos angreift, dass diese „Militäroperation“ offensichtlich ein Kriegsverbrechen konstituiert, wie UN-Menschenrechtsvertreter anklagen, das sieht das von Frau Baerbock geleitete Ministerium nicht. Sie sieht auch nicht, dass Israels Angriff „eine kollektive Bestrafung der palästinensischen Bevölkerung“ ist.

Ihre Sorge um die Frauen in Jenin ist also eher gering, falls sie sich überhaupt um sie sorgt. Der Westen, Deutschland, Europa und die USA, folgen kritiklos dem israelischen Narrativ, nach dem Palästinenser, eigentlich alle Palästinenser – inklusive der palästinensischen Frauen und Kinder – , Terroristen sind und waren (und wohl auch bleiben!) oder, wie präzise von israelischer Seite formuliert wird, dass sie „eine kollektive Sicherheitsbedrohung“ („collective security threat“) darstellen.

Im September 1993 begrüßten Palästinenser unter der Besatzung, die PLO (ihre politische Vertretung – damals noch unter der Führung von Yasir Arafat), ja die gesamte internationale Gemeinschaft den Osloer Prozess mit vielen positiven Erwartungen. Alle hofften auf ein Ende der Besatzung, die Errichtung eines palästinensischen Staates und auf dieser Basis einer Zweistaatenlösung endlich Frieden.

Der Osloer Prozess implizierte den Stopp sowie den sukzessiven Abbau des illegalen israelischen Siedlungsbaus in den besetzten palästinensischen Gebieten. Genau das Gegenteil trat ein. Israel expandierte seine Siedlungen konstant, und in den fünf Jahren Übergangszeit bis zur abschließenden Umsetzung der Zweistaatenlösung verdoppelte sich die Zahl der Siedler. Israelische Kriegsverbrechen – denn Siedlungsbau in besetztem Gebiet konstituiert ein Kriegsverbrechen – wurden also kontinuierlich weitergeführt.

Aber die internationale Gemeinschaft, angeführt von den USA unter Joe Biden, setzt ihr verlogenes Festhalten an der Zweistaatenlösung weiter fort – eine Lösung, an die keiner glaubt, am wenigsten die USA und der gesamte Westen. In der Zwischenzeit werden die Palästinenser mit eher geringen Summen unterstützt, besser regelrecht bestochen, um stillzuhalten, den israelischen Siedlerkolonialismus schlicht und vor allem ohne jeglichen Widerstand zu ertragen, vielleicht hier und da verbale Kritik zu üben.

Aber die Gewalt geht weiter, die Besatzungsgewalt mit Siedlerkolonialismus und dem ständig weiteren Ausbau eines Apartheidstaates, mit immer neuen Kriegsverbrechen.

Wer kann so leben? Mit aller Verzweiflung bäumen sich die Palästinenser auf gegen diese Gewalt, gegen die immer neuen Angriffe von Siedlern und Armee. Sie demonstrieren und sie üben hier und da bewaffneten Widerstand, gegen die Armee und die kolonialistischen Siedler. In einzelnen Fällen greifen sie auch israelische Zivilisten und Bewaffnete an in Israel in den Grenzen von 1967 – also vor dem Junikrieg, der das israelische Besatzungsregime über Ost-Jerusalem, die Westbank und den Gazastreifen errichtete.

Alle aber sind sich darüber einig: Sie bleiben vor Ort, sie bewegen sich nicht weg, sie sind nicht bereit aufzugeben: bis Israel erkennt und einsieht, dass es der palästinensischen Gesellschaft eine politische Lösung anbieten muss, damit die israelische Gesellschaft – genau wie die palästinensische – in Frieden leben kann. Das aber heißt, dass statt des real existierenden Apartheidstaates ein Staat mit gleichen Rechten für alle Menschen zwischen Mittelmeer und Jordantal aufzubauen ist, in welcher Konstruktion auch immer…

Die Möglichkeiten liegen auf der Hand. Die Bereitschaft seitens Israels und bis dato auch der Mehrzahl der israelischen Bevölkerung fehlt jedoch. Nur hier und da werden die Dinge ohne Wenn und Aber beim Namen genannt, wie z.B. in der Zeitung Haaretz, wo Caroline Landsmann am 7. Juli schreibt, dass alle Demonstrationen in Israel gegen den Coup gegen das Rechtssystem des Landes, den die Regierung Netanyahu derzeit durchführt, das Entscheidende ausklammern, genau wie die Regierung Netanyahu: „Was will Israel mit den Millionen von Palästinensern tun, die seit 56 Jahren unter unsere Militärherrschaft leben und die nicht verschwinden werden?”

Die Forderung der UN und der Menschenrechtsbeauftragten der UN ist deutlich:
„Um die erbarmungslose und unerbittliche Gewalt zu beenden, muss Israel seine illegale Besatzung beenden. Sie kann nicht hier und da korrigiert oder verbessert werden, weil sie in ihrem Kern falsch ist.“

Windelweich dagegen wieder die Position des AA aus Berlin: „Alle, die in dieser Situation Verantwortung tragen, sollten jetzt größtmögliche Anstrengungen unternehmen, die angespannte Sicherheitslage zu beruhigen und weitere Gewalt zu verhindern. Ohne eine politische Lösung für den Konflikt wird es nicht gelingen, den Ursachen der Gewalt zu begegnen.“

Das AA ist noch nicht einmal in der Lage, die Besatzung als solche zu benennen und die Verantwortung Israels herauszustellen. Für die Menschen im besetzten Palästina ist es ein Hohn, wenn Berlin die Verbrechen der Armee gegen das gebeutelte Flüchtlingslager in Jenin als „angespannte Sicherheitslage“ bezeichnet.

Deren Reaktion kann nur eine sein:

J’accuse… wir klagen Euch an. Durch Eure kritiklose Unterstützung der israelischen Besatzung, des israelischen Siedlerkolonialismus, des Apartheidstaates zwischen Mittelmeer und Jordantal tragt Ihr bei zu unserer Unterdrückung und zur Verhinderung, dass wir endlich als freie Menschen leben können. Ihr seid mitschuldig!
 
Titelbild: dominika zara/shutterstock.com


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