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Titel: Der Journalist Pawel Wolkow über seine Flucht aus der Ukraine, die Stimmung gegen Russen und seine Hoffnung auf die unter 20-jährigen Ukrainer

Datum: 30. Juni 2023 um 12:44 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Interviews, Länderberichte, Militäreinsätze/Kriege
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Während in den deutschen Medien viel über politische Gefangene in Russland geschrieben wird, herrscht zu den mehreren Tausend politischen Gefangenen[1] in der Ukraine Funkstille. Der aus Saparoschje stammende Journalist Pawel Wolkow schildert im Interview mit Ulrich Heyden (Moskau), wie sich die Verfolgung von Andersdenkenden in der Ukraine seit dem Februar 2022 verschärft hat. Wolkow ist 39 Jahre alt. Er schreibt seit zehn Jahren für die russischen Internet-Portale Russki Reportjor, vsglyad.ru und Ukraina.ru. 2017/18 saß der Journalist über ein Jahr in Untersuchungshaft. Der Vorwurf gegen ihn lautete, „Angriff auf die territoriale Integrität der Ukraine“ und „Hilfe für Terroristen“. Wolkow drohten 15 Jahre Gefängnis. Im Oktober 2018 wurde er vom Schewtschenko-Bezirksgericht in Saparoschje freigesprochen. Nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine im Februar 2022 begann der ukrainische Geheimdienst Leute wie Wolkow zu suchen. Um einer abermaligen Verhaftung zu entgehen, flüchtete der Journalist im November 2022 direkt durch die Front auf von Russland kontrolliertes Gebiet. Ein Interview von Ulrich Heyden.

Pawel Wolkow wurde in der südukrainischen Stadt Saparoschje geboren, wo er bis zu seiner Flucht nach Russland lebte. Er ging in Saparoschje zur Schule und schloss an der Geisteswissenschaftlichen Universität der Stadt eine wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung ab. Bevor er begann, als Journalist zu arbeiten, war er im Reklamegeschäft tätig.

Flucht aus der Ukraine

Warum bist Du nach dem Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine untergetaucht?

Die Radikalisierung der ukrainischen Massenmedien gegenüber den Russen ging so weit, dass man nach dem 24. Februar als Russe nicht mehr auf die Straße gehen und nicht mehr mit den Nachbarn sprechen konnte. Unsere Nachbarn waren russischsprachige Ukrainer. Wir haben viele Jahre lang Wand an Wand gelebt. Zum Neuen Jahr sind sie zu uns in die Wohnung gekommen und haben ukrainische Neujahrs-Lieder gesungen. Sie wussten, dass wir Russen sind. Es gab nie Probleme. Als die Spezialoperation begann, sagten sie, wir seien verfluchte Moskali (ukrainisches Schimpfwort für Russen). Und sie kündigten an, sie würden uns bis zum Ende unseres Lebens hassen und erniedrigen. Außerdem forderten sie von uns, dass wir „Slawa Ukraini“ rufen, das ist der Ruf einer bekannten Organisation aus dem Zweiten Weltkrieg, welche an der Seite von Nazi-Deutschland kämpfte. Unsere Nachbarn meinten, wir seien jetzt Menschen zweiter Klasse. Auf der Straße zeigten Passanten auf uns.

Einige Tage nach diesen Drohungen haben wir verstanden, dass wir die Stadt verlassen müssen. Wir haben uns rechtzeitig entschlossen. Denn einige Tage nach dem 24. Februar 2022 begann der ukrainische Geheimdienst Wohnungen von Personen abzuklappern, die sie für nicht zuverlässig hielten. Es verschwanden Menschen, Menschen wurde geschlagen und verhaftet. Ein Freund von uns verschwand. Und mit Hilfe seiner Telefonnummer wurde in einem Messenger ein Chat eröffnet, der sich zum Ziel gesetzt hatte, ukrainische Nationalisten zu finden. Wir wussten, dass unser Freund nicht so was machen würde. Dieser Chat wurde natürlich vom ukrainischen Geheimdienst gestartet, um Leute ausfindig zu machen, die sich an diesem Chat beteiligen.

Man konnte unserem Freund nichts vorwerfen, er hatte nichts zu tun mit Journalismus und Politik. Er arbeitete in einer Fabrik und hatte oppositionelle Ansichten. Das war alles. Man raubte ihn aus, schlug ihn zusammen und warf ihn auf die Straße.

Blieb er am Leben?

Ja, zum Glück blieb er am Leben. Aber wie seine Situation heute aussieht, weiß ich nicht. Aber solche Vorfälle gab es sehr viele. Anfang März 2023, wenige Tage nachdem wir unsere Wohnung verlassen hatten, kam der ukrainische Geheimdienst SBU in unsere Wohnung. Sie befragten unsere Nachbarn. Acht Monate waren wir gezwungen, bei Bekannten zu wohnen.

In der Ukraine?

Ja. Die Ukraine verhängte sehr schnell den Ausnahmezustand und verhinderte so, dass die jungen Männer im wehrpflichtigen Alter das Land verlassen konnten. Ich hatte ein doppeltes Problem. Es bestand die Gefahr, dass man mich zur Armee einzieht oder dass man mich einfach verhaftet, obwohl ich keine Gesetze verletzt habe. Aber das interessierte in diesem Moment schon niemanden mehr.

Mit welcher Begründung hätte man Dich verhaften können?

Man nimmt die Leute ohne Begründung fest. Nach dem Februar 2022 trat ein neuer Paragraph im Strafgesetzbuch zu Kollaborateuren (Personen, die dem Feind helfen) in Kraft. Bis dahin gab es nur den Straftatbestand „Landesverrat“. Mit dem Vorwurf „Kollaborateur“ konnte man jetzt Leute bestrafen, die humanitäre Hilfe, die aus Russland kam, verteilt haben.

Das Problem war, dass Russland im November 2022 seine Grenze für Flüchtlinge aus der Ukraine noch nicht aufgemacht hatte. In den Tagen nach dem Beginn der Spezialoperation, als die Ukraine noch keinen Ausnahmezustand verhängt hatte, galten in Russland noch die besonderen Einreisebestimmungen wegen Corona. Das heißt, man konnte nicht einfach so nach Russland ausreisen. Heute kann man darüber lachen, aber damals hat dieses Durcheinander sehr vielen Menschen das Leben erschwert. So mussten wir acht Monate bei verschiedenen Menschen in der Ukraine wohnen.

Die Menschen, die euch aufgenommen haben, haben auch etwas riskiert?

Natürlich. Sie hatten Angst. Aber dank dieser Menschen bin ich heute gesund und lebe. Im November 2022 haben wir dann eine Möglichkeit gefunden, über bestimmte nicht-offizielle Korridore, die bis heute existieren, nach Russland auszureisen. Das kostete natürlich Geld.

Es ging nach Russland?

Wir sind nicht über die offizielle Grenze, sondern durch die Front ausgereist, auf Territorium, welches Russland kontrollierte. Über uns flogen Raketen. Militärs fuhren an uns vorbei. In der grauen Zone – also zwischen den Streitkräften Russlands und der Ukraine – war es schrecklich. Wir waren mehrere Stunden in der grauen Zone. Neben uns gab es Schießereien. Wir gingen durch Dörfer, wo kein einziges Haus mehr heil war. Dort gab es weder Elektrizität noch Wasser.

Man sah noch ein paar Großmütter, die durch ihre Gärten liefen. Wir wunderten uns, warum diese Frauen noch da waren. Aber offenbar gab es für sie keinen anderen Platz, wo sie hinkonnten. Und man sah Hunde, die niemand mehr fütterte. Für einen Zivilisten ist es ein schlimmes Gefühl, wenn über dir Drohnen fliegen und du nicht weißt, wem die gehören, und Du nicht weißt, ob diese Drohnen etwas auf dich fallen lassen. Oder wenn ein gepanzertes Fahrzeug mit aufgepflanztem Maschinengewehr an dir vorbeifährt und du nicht weißt, ob diese Militärs dich durchlassen oder dich für einen feindlichen Diversanten halten. Alles hing am seidenen Faden.

Drei Kategorien von politischen Gefangenen

Kannst Du ein paar typische Fälle von politischen Gefangenen in der Ukraine schildern?

Es gibt drei Kategorien von Gefangenen. Eine Kategorie sind Politiker, Journalisten und Aktivisten, die zur Opposition gehörten. Das müssen nicht unbedingt prorussisch eingestellte Menschen sein. Das können Antifaschisten und Linke sein.

Die zweite Kategorie, das sind Leute, die wegen Unterstützung der russischen Armee in Haft kamen. Man wirft ihnen vor, dass sie angeblich Informationen über ukrainische Truppenbewegungen oder für den Raketenbeschuss wichtige Daten weitergegeben haben.

Zu der dritten Kategorie gehören Personen, die durch Zufall in Haft gerieten. Das sind Leute, die auf dem Territorium leben, welches von der russischen Armee kontrolliert wurde, von dem die russische Armee aber abzog. Ich meine die Gebiete um Kiew, Charkow und Cherson. Da gab es Leute, die humanitäre Hilfe von Russland angenommen und verteilt oder Aufenthaltsräume für Obdachlose eingerichtet haben. Diese Menschen werden jetzt als Kollaborateure angeklagt.

Zur ersten Kategorie gehört zum Beispiel der Journalist Dmitri Skworzow. Ihm wird vorgeworfen, dass er in einem Beitrag geschrieben hat, dass Russland eine hohe Kultur hat und dass die russisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats in der Ukraine verfolgt wird. Ihm drohen jetzt 15 Jahre Gefängnis.

Zu der zweiten Kategorie gehört zum Beispiel Wladimir Markin, ein noch nicht volljähriger junger Bursche aus Bachmut. Man verhaftete ihn 2022, weil er angeblich der russischen Armee Informationen über die ukrainische Armee geliefert hat. Er wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Aber es gab keine Gerichtsverhandlung. Man kann also nicht sagen, ob er Informationen übergeben hat oder nicht. Man hat ihn überredet, an einem Gefangenenaustausch teilzunehmen. Dafür musste er aber seine Schuld eingestehen. Solche Fälle gibt es viele.

Zu der dritten Kategorie gehört Anatoli Meruta. Er wohnt in einem Dorf im Kiewer Gebiet. Man hat ihn zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Als die russischen Truppen in das Dorf kamen, musste man Lebensmittel organisieren und Schutzunterkünfte bauen. Der Bürgermeister war abgereist. Deshalb hat Anatoli Meruta den Alltag der Dorfbewohner organisiert. Als die russische Armee abzog, ist er geblieben, denn er war sicher, dass er keine Gesetze verletzt hat.

Gibt die Möglichkeit, eine Liste aller politischen Gefangenen in der Ukraine zu erstellen?

Die Möglichkeit, eine Liste von allen Gefangenen zu erstellen, gibt es leider nicht. Wir (Journalisten vom Portal Ukraina.ru, Anm.UH) sammeln mit unseren bescheidenen Mitteln alle Daten, die wir bekommen können, aus öffentlich zugänglichen Quellen und von Verwandten. Manchmal wenden sich auch Rechtsanwälte an uns. Aber diese Liste ist absolut nicht vollständig.

Wo kann man diese Liste finden?

Ich publiziere die Fälle von politischen Gefangenen auf meinem Telegram-Kanal. Außerdem veröffentlichen wir Fälle von politischen Gefangenen in der Ukraine auf dem Portal www.ukraina.ru.

Die ganze Welt kennt Amnesty International. Können Sie Amnesty International nicht eine Liste von 20 politischen Gefangenen in der Ukraine übergeben?

In den vergangenen Jahren hat Amnesty International in der Ukraine nur zwei Personen als politische Gefangene anerkannt, Ruslan Kotsaba[2] und Wasili Murawizki[3]. Für alle anderen politischen Gefangenen in der Ukraine hat sich Amnesty International nicht interessiert, obwohl man der Organisation mehrmals Listen mit Gefangenen übergeben hat. Das Kommissariat für Menschenrechte der UNO und das Rote Kreuz verhielten sich besser.

Warum besser?

Sie haben sehr hohe Arbeits-Standards. Sie können zwar nicht viel erreichen. Das liegt nicht in ihrer Kompetenz. Diese Organisationen lässt man nur deshalb in Gefängnisse, weil sie sich maximal neutral verhalten. Sie können aber feststellen, dass eine bestimmte Person nicht verschwunden ist und dass man sich einer inhaftierten Person gegenüber normal verhält. Diese Organisationen können humanitäre Hilfe übergeben. Sie können mit Häftlingen Interviews führen und diese Interviews in ihren Berichten anonym veröffentlichen.

Und was passierte nach dem 24. Februar 2022?

Als man sich gegenseitig mit Raketen beschoss und es Millionen Flüchtlinge auf beiden Seiten gab, hatten das Kommissariat für Menschenrechte der UNO und das Internationale Rote Kreuz anderes zu tun. Sie haben nicht so viele Mitarbeiter, dass sie alles schaffen.

Warum gibt es in der Ukraine keine oppositionelle Menschenrechtsorganisation?

Es ist unklar, warum über all die Jahre in der Ukraine keine oppositionelle Menschenrechtsorganisation entstanden ist. Es gab Versuche. Es entstanden kleine Menschenrechtsgruppen. Aber das endete sehr schnell. Es fehlte an Geld und an organisatorischer Kraft. Alles was damals auf dieser Ebene gemacht wurde, entstand über persönliche Kontakte, über Kontakte mit europäischen Organisationen, Abgeordneten im Europäischen Parlament und im deutschen Bundestag. Es gab Unterstützung von Rechten und Linken. In Deutschland gab es Unterstützung von der „Alternative für Deutschland“. Aus der Partei „Die Linke“ gab es Unterstützung von dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko.

Welche kritischen und oppositionellen Medien sind in der Ukraine heute zugänglich?

Die russischen Medien sind im ukrainischen Internet seit Langem blockiert. Wer es unbedingt will, findet im Internet aber Wege – zum Beispiel über VPN -, die Blockaden zu umgehen. Die oppositionellen ukrainischen Medien wurden schon vor dem Februar 2022 abgestellt. Auch unser Internetportal ukraina.ru ist in der Ukraine blockiert.

Wie die Nachbarn zu einer Bedrohung wurden

Du lebtest im Februar 2022 in Saparoschje. Wie war damals der Kontakt zu den Nachbarn, Freunden und Verwandten? Wie verhielten sich die Menschen auf der Straße und in den Geschäften?

Am 24. Februar 2022 hat sich die öffentliche Meinung in der Ukraine in zwei Lager gespalten. Schon vor dem Februar 2022 war die ukrainische Gesellschaft sehr politisiert. Der Krieg begann nach dem morgendlichen Anruf eines Bekannten. Ich sagte ihm, „das ist doch Unsinn“. Er sagte zu mir, „guck dir die Nachrichten an. Es fliegen Raketen.“ Weil die kriegerischen Auseinandersetzungen damals ziemlich weit entfernt liefen – von Saporoschje waren es 200 Kilometer – glaubte ich es erst nicht, was mir der Freund da erzählte.

Ich guckte die Nachrichten und mir fiel die Kinnlade runter. Wir hatten mehrere Monate gelacht über die Berichte von ukrainischen und westlichen Medien, dass Russland seine Truppen zusammenzieht. Wir dachten, was sollte das für einen Sinn haben? Das ist wahrscheinlich eine westliche Provokation. Denn man hatte ja gerade erst die North Stream Pipeline betriebsfertig gemacht.

In den ersten Tagen war es ein Schock. Die Menschen liefen auf die Straße und kauften in den Geschäften alles Mögliche. Natürlich stiegen sofort die Preise. Die Läden waren schnell leergekauft. Sehr schnell gab es nationalen Hass. Man konnte nichts gegen das russische Militär machen. Sie waren in dem Moment von Saparoschje noch weit entfernt. Aber man konnte etwas gegen die Menschen russischer Nationalität machen, die in Saparoschje wohnen.

Wie viele Russen leben in Saparoschje?

Im Osten der Ukraine ist es sehr schwer zu sagen, wer Russe und wer Ukrainer ist. Vom Äußeren gibt es keinen Unterschied zwischen Russen und Ukrainern. Zudem ist die Mehrheit der Menschen im Südosten der Ukraine russischsprachig. Die Menschen sprechen seit mehreren Generationen Russisch. Auf Ukrainisch redeten die Menschen nie.

Wie es typisch ist für Grenzgebiete, gibt es im Südosten der Ukraine spezifische Dialekte, die dem Russischen und dem Ukrainischen ähnlich sind.

Die Menschen im Südosten der Ukraine haben eine doppelte Identität. Die Leute haben nicht besonders darüber nachgedacht, wer sie sind. Wir sind Bürger der Ukraine? Dann sind wir wahrscheinlich Ukrainer. Aber wir haben in Russland Verwandte. Und die Hälfte unserer Eltern sind Russen. Vielleicht sind wir Russen. Vielleicht sind wir Ukrainer.

Doch während der 30 Jahre Unabhängigkeit gab es einen nationalen Diskurs. Es hieß: Wenn du Bürger eines Staates bist, dann hast Du auch die Nationalität wie die Titularnation.

Was ist mit den anderen Nationalitäten in der Ukraine?

Bei den anderen Nationalitäten, die es in der Ukraine gibt, etwa den Armeniern, den Juden, den Griechen und den Deutschen war es anders. Für sie ist klar, dass sie Bürger der Ukraine sind, aber keine ukrainische Nationalität haben.

Aber für die russischen Ukrainer war es nicht klar, weil Russen und Ukrainer sich in der Kultur kaum unterscheiden, insbesondere in dieser Grenzregion, wo viele Nationalitäten leben und sich alles vermischt hat. Aber außer der ukrainischen Staatsbürgerschaft hatten die Menschen im Südosten der Ukraine nichts typisch Ukrainisches. Sie sprechen Russisch. Ihren Kindern haben sie die Märchen von Puschkin vorgelesen.

Bei der letzten Volkszählung in der Ukraine im Jahre 2001 bezeichneten sich 25 Prozent der Einwohner als Russen. In der Westukraine lag der Anteil der Russen bei nur einigen Prozent. In der Ostukraine lag der Anteil der Russen zwischen 75 und 80 Prozent. Wenn man die Umfrage heute machen würde, wären die Zahlen natürlich anders. Aber einige Millionen in der Ukraine werden sich auch heute als Russen bezeichnen.

Wie konnte sich die Stimmung in der ukrainischen Gesellschaft nach dem 24. Februar 2022 so sehr verändern?

Die ukrainischen Massenmedien hatten schon seit 2014 verbreitet, dass Russen die historischen Feinde der Ukraine sind, dass die Russen historisch gesehen Eroberer sind, dass die Russen schon immer die Ukrainer erniedrigt und vernichtet haben. Diese Erzählung wurde auf staatlicher Ebene verbreitet.

Gab es in den ukrainischen Medien irgendwelche Beweise für diese Behauptungen?

Beweise kann man in der 1000-jährigen Geschichte so viele erfinden, wie man will. Man kann behaupten, dass ein russischer Fürst im 12. Jahrhundert Kiew erobert hat, ungeachtet dessen, dass er zu dieser Zeit schon Fürst von Kiew war. Auch in Deutschland wurden während der 1930er Jahre Mythen über bestimmte Nationalitäten erfunden. Die Methode ist also nicht neu.

Wie stehen die verschiedenen Generationen in der Ukraine zum Krieg? Wie lange werden sie den Krieg noch aus einem Gefühl des Patriotismus erdulden? Sind sie bereit zum Waffenstillstand? Sind sie bereit, auf die Krim und den Donbass zu verzichten?

Soziologische Umfragen während eines Krieges gibt es nicht. Man kann auf diese Frage nur auf Grundlage persönlicher Gespräche antworten. Vor dem Februar 2022 war eine knappe Mehrheit der Ukrainer gegen einen Kompromiss. Die Generation der 30- und 40-Jährigen steht jetzt am stärksten hinter dem derzeitigen politischen Kurs der Ukraine.

Die Jugendlichen leben mehr nach allgemein menschlichen Vorstellungen. Sie interessieren sich für Entwicklung und internationalen Austausch, Musik, Kino und Kultur.

Ein Teil der älteren Generation hat sich schon lange für Russland entschieden, ein anderer Teil ist für die Ukraine. Die jungen Leute werden nach dem Krieg den Frieden aufbauen. Die Jugendlichen, die jetzt 20 sind, mit denen muss man einen Dialog führen.

Du meinst, die jungen Leute haben eine Distanz zum Krieg? Warum?

Weil sie noch nicht volljährig sind und man sie nicht an die Front mobilisiert. Als es den Maidan und die Auseinandersetzungen um den Donbass gab, waren sie noch zu jung, um sich da zu engagieren. Sie werden sich als Ukrainer und nicht als Russen fühlen. Aber das Wichtigste ist, sie sind bereit zum Frieden und zum Dialog. Verwandte in Russland haben sie fast alle.

Ich hoffe, dass unser heutiges Gespräch den Menschen mehr Klarheit bringt, was in der Ukraine passiert.

Ich hoffe, dass die Menschen wenigstens nachdenken. Ich will niemandem meine Position aufzwingen. Aber ich hoffe, dass die Leute verstehen, dass es auch andere Meinungen gibt. Und dass das Meinungen von real lebenden Personen sind, die auf etwas hoffen, die von etwas träumen oder etwas im Leben erreichen wollen.

Anhang

Auszug aus dem Bericht[4] der UNO-Kommission für Menschenrechte vom 24. März 2023 über die Situation der Menschenrechte in der Ukraine im Zeitraum 1. August 2022 bis 31. Januar 2023, Seite 26:

„Seit dem 24. Februar 2022 hat das UNHCR (Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen) 91 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen und willkürliche Inhaftierungen (79 Männer, 12 Frauen), begangen durch ukrainische Streitkräfte und Strafverfolgungsbehörden in von der Regierung (der Ukraine, Anm.UH) kontrollierten Gebieten dokumentiert. Diese Vorfälle gab es während und vor dem Berichtszeitraum (70 Prozent im Februar-April, 22 Prozent im Mai-Juli, acht Prozent im Berichtszeitraum). Die meisten Häftlinge wurden unter dem Verdacht der Zusammenarbeit mit den russischen Streitkräften oder der Hilfe für diese festgenommen. Mehrere andere wurden unter dem Verdacht festgenommen, dass sie 2014/15 Mitglieder bewaffneter Gruppen waren.

In einigen Fällen nahm der SBU (Ukrainischer Geheimdienst) die Opfer in ihren Wohnungen oder auf der Straße fest und hielt sie in den Verwaltungen der Polizei, den Gebäuden des Geheimdienstes oder provisorischen Haftorte (z. B. Privathäuser oder Keller) bis zu drei Tage ohne Zugang zu einem Anwalt gefangen. In einigen Fällen registrierten die Beamten die Festnahme nicht.

Das OHCHR weist darauf hin, dass Polizeibeamte nach ukrainischem Recht befugt sind, Personen bis zu drei Tagen ohne gerichtliche Kontrolle zu inhaftieren. Die Verhafteten haben jedoch Anspruch auf einen Anwalt ab dem Moment ihrer Besorgnis. Darüber hinaus müssen die Behörden zulassen, dass die Festgenommenen und Inhaftierten ein Familienmitglied über die Tatsache und den Ort der Inhaftierung informieren. Dies wird in der Praxis selten respektiert. Durch die Inhaftierung ohne Kontakt zur Außenwelt werden Inhaftierten die Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren entzogen. Sie sind einem größeren Risiko ausgesetzt, gefoltert oder misshandelt zu werden.

In diesem Zusammenhang stellt das UNHCR fest, dass bei 43 Prozent der dokumentierten Fälle, bei denen Angehörige der ukrainischen Streitkräfte und der Strafverfolgungsbehörden Personen gewaltsam verschwinden ließen und willkürlich verhafteten, die Gefangenen gefoltert oder misshandelten wurden, indem sie mit Schlagstöcken geschlagen wurden, einen Stromschlag bekamen oder mit Verstümmelung, Hinrichtung oder sexueller Gewalt oder Gewalt gegen Angehörige gedroht wurde. Die Folter bzw. Misshandlungen wurden durchgeführt, um Informationen zu erpressen oder Häftlinge zu Geständnissen zu zwingen oder sich selbst zu belasten, oft vor laufender Kamera.“

Titelbild: Ulrich Heyden


[«1] Über politische Gefangene und Verschwundene berichteten in Interviews, die die ich für die NachDenkSeiten führte, der aus der Ukraine geflüchtete Kiewer Rechtsanwalt Walentin Rybin https://www.nachdenkseiten.de/?p=91832 und die Vorsitzende der Union der politischen Emigranten aus der Ukraine, Larissa Schessler https://www.nachdenkseiten.de/?p=91091.

[«2] Der Video-Blogger Ruslan Kotsaba saß 2015/16 in Ukraine in Haft. Seit Anfang 2023 lebt er in den USA.

[«3] Der Journalist Wasili Murawizki saß 2017/18 im Gefängnis in der Ukraine.

[«4] ohchr.org/sites/default/files/documents/countries/ukraine/2023/23-03-24-Ukraine-35th-periodic-report-ENG.pdf


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