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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Hinweise des Tages
Datum: 17. Juni 2008 um 9:27 Uhr
Rubrik: Hinweise des Tages
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
(KR/WL)
Vorbemerkung: Dieser Service der NachDenkSeiten soll Ihnen einen schnellen Überblick über interessante Artikel und Sendungen verschiedener Medien verschaffen.
Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.
Anmerkung Orlando Pascheit: Natürlich ist es gut, wenn Michael Sommer seine Finger in eine der vielen Wunden des europäischen Integrationsprozesses legt, aber dieser Trend zur Aushöhlung mühsam erworbener Arbeitnehmerrechte in der alten EU ist nicht neu, und wenn der DGB hier stärker gegensteuern will, ist eine Aufforderung an die Bundeskanzlerin recht wenig. Da lächelt das transnationale Kapital wie die Cheshire Katze, nur dass uns dieses Lächeln keine Rätsel aufgibt . Da hat die politische Klasse Europas jahrzehntelang so getan, als ob die territoriale Erweiterung des Gemeinsamen Marktes irgendetwas mit dem Bau des europäischen Hauses zu tun hätte, dabei hat die Politik als Magd der Ökonomie scheunentorgroße Breschen in die europäischen Häuser geschlagen, bis nur noch eine Ansammlung windiger Hütten übrig blieb, die großkotzig Europäische Union heißt, und ihre Bürger schutzlos dem Chaos überläßt, das die kleinen und großen Nutzenmaximierer freien Markt nennen. Nein Michael Sommer, das Offensichtliche auszusprechen, ist in dieser Situation zu wenig.
Es ist plausibel, dass dieser Vertrag in vielen europäischen Ländern verworfen worden wäre, wenn er einer Volksabstimmung ausgesetzt worden wäre. Es ist schade, dass jene, die den Vertrag entwarfen, die Ängste nicht berücksichtigten, die unter den einzigen Wählern geweckt würden, die darüber abstimmen mussten, und dass sie nicht versuchten, ihnen zu begegnen.
Quelle: Tagesspiegel
Damit setzt sich eine längerfristige Entwicklung fort. Das zeigt eine Auswertung des DGB-Arbeitsmarktexperten Wilhelm Adamy, die der FR vorliegt. “In den ersten drei Jahren des Hartz-IV-Systems hat sich die Zahl der älteren Hilfebedürftigen um gut 215.000 beziehungsweise 22,7 Prozent erhöht”, errechnete Adamy für die Gruppe der 50- bis 64-Jährigen. Der Anstieg sei “doppelt so stark wie bei den anderen Altersgruppen”. Sein Fazit: “Das Verarmungsrisiko Älterer steigt auch bei guter Konjunktur.” Daran hätten auch die neuen arbeitsmarktpolitischen Instrumente der großen Koalition nichts ändern können.
Quelle: FR
Denn die Summe bedeutet nichts anderes, als dass jede Altersteilzeit die Arbeitslosenversicherung mit rund 14000 Euro belastet. 14000 Euro Zuschuss für Menschen, die vielleicht seit Jahrzehnten in die Sozialversicherung eingezahlt und sich krank und müde geplagt haben. Für Pofalla und viele andere Politiker an der Spitze von Union und FDP offenbar eine unfinanzierbare solidarische Last. Dass sie an anderer Stelle fünf Milliarden Euro von der Arbeitslosenversicherung für den Bundesetat abzweigen, lassen sie lieber unerwähnt.
Quelle: Nürnberger Nachrichten
Von den 24 Prozent der Eltern mit einem Elterngeld von 301 bis 500 Euro profitierten knapp Dreiviertel vom so genannten Geschwisterbonus. Diesen Bonus erhält, wer zwei Kinder unter drei oder drei Kinder unter sechs Jahren hat; er beträgt mindestens 75 Euro. Von den 16,4 Prozent der Eltern mit einem Eltergeld bis 750 Euro haben ausweislich der Antwort 74,2 Prozent vom Geringverdienerzuschlag profitiert. Insgesamt werde das Eltergeld für 23,8 Prozent aller Empfänger durch den Geschwisterbonus oder Mehrlingszuschlag und für 19,5 Prozent durch den Geringverdienerzuschlag erhöht. Genauere Angaben über die Wirkungen des Eltergeldes in den unterschiedlichen Haushaltstypen, wie sie von den Linken erfragt wurden, könnten derzeit nicht gemacht werden, schreibt die Bundesregierung. Diese Daten würden gerade “im Rahmen der begleitenden Evaluation genauer erhoben”. Die Erkenntnisse sollen dem Bundestag im Oktober im Bericht zum Eltergeld vorgelegt werden.
Quelle: Deutscher Bundestag
Anmerkung WL: Mehr als die Hälfte hätten mit dem Erziehungsgeld mehr Fördermittel erhalten. Der ständig genannte Förderbetrag von 1.800 Euro erreicht gerade 3 Prozent der Eltern und ist also eine reine Werbmasche.
Anmerkung WL: Wo haben sich eigentlich die Sparkassen verspekuliert? Da treibt die Politik die Landesbanken an, sich endlich wie private Banken zu betätigen, da laden die privaten Banken nur allzu leicht ihre Risiken auf die öffentlichen Banken ab, und dann macht man sie zum Sündenbock für die Finanzkrise – gerade so als in USA, England, in der Schweiz oder Frankreich sich nicht die Privatbanken verspekuliert hätten.
Damit hat sich die Gerechtigkeitsschere allein in den vergangenen drei Jahren dramatisch geöffnet: Gemessen an der Differenz zwischen den Urteilen “gerecht” und “ungerecht” hat sich das von der Bevölkerung empfundene Gerechtigkeitsdefizit seit 2005 – trotz Konjunkturaufschwung – von 25 Prozentpunkten auf 60 Prozentpunkte mehr als verdoppelt. Noch im Jahr 1995 lagen diese Werte mit 43 Prozent (“nicht gerecht”) und 39 Prozent (“gerecht”) nahezu gleichauf.
Auch das Wirtschaftsmodell Soziale Marktwirtschaft wird kritisch bewertet. Nur noch 31 Prozent der Menschen in Deutschland haben eine gute Meinung, während 38 Prozent der Befragten keine gute Meinung mehr von der Sozialen Marktwirtschaft haben. Teilen in den ostdeutschen Bundesländern bereits mehr als die Hälfte der Menschen dieses negative Urteil, fällen erstmals auch in den westdeutschen Ländern mit 35 Prozent gegenüber 34 Prozent mehr Bürger ein negatives Urteil über die Soziale Marktwirtschaft.
Quelle: Bertelsmann Stiftung
Anmerkung WL: Dieses Umfrageergebnis durfte zum Jubiläum der Währungsunion natürlich nicht so stehen bleiben. Was macht Bertelsmann also, um aus der Defensive zu kommen: Man veranstaltet zusammen mit der Heinz NixdorfStiftung und er Ludwig-Ehrhard-Stiftung ein „BürgerProgramm Soziale Marktwirtschaft“. Dort lässt man dann von 350 repräsentativ ausgewählten Bürgern all das vorschlagen und von den Projektmanagern dann aufschreiben, was politisch nicht weh tut:
Unter „sozialer Verantwortung“ versteht man z.B.: „Der Mensch muss als unverzichtbarer Bestandteil eines Unternehmens betrachtet werden.“
Es wird zwar eine Umfrage veröffentlicht wonach über 84% eher oder voll und ganz für einen bundeseinheitlichen Mindestlohn sind, doch die Kernforderung lautet dazu dann: „Der Netto-Mindestlohn muss erhöht werden, indem die Lohnnebenkosten gesenkt werden.“
„Die sozialen Sicherungssysteme müssen künftig durch Steuern finanziert werden.“
Oder: „Es sollte darauf hingearbeitet werden, eine Unternehmenskultur entstehen zu lassen, in der eine Gewinnbeteiligung selbstverständlich ist.“
Interessant ist dabei wie es immer wieder gelingt, solche nicht in das konservative Konzept passende Umfrageergebnisse mit schwammigen Appellen an Eigenverantwortung und an Werten orientierten Verhaltensänderungen aufzufangen.
So lehnt z.B. die überwiegende Mehrheit eine längere Beschäftigung über das Rentenalter hinaus ab. Die zentrale Forderung dazu lautet dann aber: „Das Rentensystem muss dahingehend reformiert werden, dass der Eintritt ins Rentenalter variabel mit entsprechenden finanziellen Zu- bzw. Abschlägen bei Renten und Pensionen gehandhabt wird.“
Das BürgerProgramm besteht ganz überwiegend aus politischen Appellen an den Gemeinschaftsgeist, an den gesellschaftlichen Zusammenhalt, an die Eigenverantwortung und die persönliche Moral. Man könnte es als ein Programm für einen von Amerika entlehnten deutschen Kommuntarismus kennzeichnen, mit der Botschaft: Wenn wir nur alle zusammenhalten, wenn wir an uns selbst glauben und wenn wir uns moralisch verhalten, dann können wir die durch die demografische Entwicklung und die Globalisierung angeblich notwendigen Reformen ertragen und uns mit der harten und unerfreulichen Wirklichkeit abfinden.
Quelle: Bürgerforum Soziale Marktwirtschaft [PDF – 2,5 MB]
Anmerkung AM: Immer wieder erstaunlich, was alles schon vor Jahren geschrieben wurde. Und wieder ein Beleg dafür, welch ein Verlust der Tod Bourdieus ist. Das war einer der Wenigen Zeitbeobachter, der offensiv mit den Neoliberalen umging und ihre flache und dogmatische Denke offen legte. Bourdieu pocht auf die Gestaltungsmöglichkeiten, die wir auch gegenüber dem internationalen Kapital hätten, wenn wir wollten.
Zu guter letzt:
Ein Leser macht uns darauf aufmerksam, dass wir in den gestrigen Hinweisen ein „gepanschtes“ Tucholsky-Gedicht wiedergegeben haben. Deshalb hier nochmals die Originalfassung:
Die freie Wirtschaft
Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen.
Ihr sollt auf euern Direktor vertrauen.
Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen.
Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen.
Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein,
wir wollen freie Wirtschaftler sein!
Fort die Gruppen – sei unser Panier!
Na, ihr nicht.
Aber wir.
Ihr braucht keine Heime für eure Lungen,
keine Renten und keine Versicherungen.
Ihr solltet euch allesamt was schämen,
von dem armen Staat noch Geld zu nehmen!
Ihr sollt nicht mehr zusammenstehn –
wollt ihr wohl auseinandergehn!
Keine Kartelle in unserm Revier!
Ihr nicht.
Aber wir.
Wir bilden bis in die weiteste Ferne
Trusts, Kartelle, Verbände, Konzerne.
Wir stehen neben den Hochofenflammen
in Interessengemeinschaften fest zusammen.
Wir diktieren die Preise und die Verträge –
kein Schutzgesetz sei uns im Wege.
Gut organisiert sitzen wir hier …
Ihr nicht.
Aber wir.
Was ihr macht, ist Marxismus. Nieder damit!
Wir erobern die Macht, Schritt für Schritt.
Niemand stört uns. In guter Ruh
sehn Regierungssozialisten zu.
Wir wollen euch einzeln. An die Gewehre!
Das ist die neuste Wirtschaftslehre.
Die Forderung ist noch nicht verkündet,
die ein deutscher Professor uns nicht begründet.
In Betrieben wirken für unsere Idee
die Offiziere der alten Armee,
die Stahlhelmleute, Hitlergarden …
Ihr, in Kellern und in Mansarden,
merkt ihr nicht, was mit euch gespielt wird?
mit wessen Schweiß der Gewinn erzielt wird?
Komme, was da kommen mag.
Es kommt der Tag,
da ruft der Arbeitspionier:
“Ihr nicht.
Aber Wir. Wir. Wir.”
Theobald Tiger: “Die freie Wirtschaft”, in: Die Weltbühne, 4.3.1930, S. 351
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