Bilanz der jüngsten Hartz-IV-Neuregelung – Eine politische Mogelpackung und ein soziales Placebo
Eine Analyse von Christoph Butterwegge.
Eine Analyse von Christoph Butterwegge.
Der faule Kompromiss von CDU/CSU, FDP und SPD entspricht dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 9.2.2010 nicht. Von Christoph Butterwegge
Zwischen Ursula von der Leyen und Kristina Schröder scheint es heftigen Zoff zu geben. Die Sozialministerin pocht auf die Einführung einer festen 30-Prozent-Quote für Frauen in Führungspositionen, die Frauenministerin ist für eine “gesetzliche Pflicht zur Selbstverpflichtung“, also für Freiwilligkeit per Gesetz.
Es gehört zu den ältesten Tricks aus der Mottenkiste von Wahlkämpfern, einen Streit zu inszenieren bei dem man das Interesse einer großen Gruppe von Wählern auf die eigene Partei lenkt und bei dem innerhalb dieser Partei die kontroversen Standpunkte vertreten werden. Das soll zeigen dass man in der CDU um dieses Thema ringt. Das lenkt von unangenehmen Themen ab. Das macht die Streitenden bekannter und man kann sicher sein, dass kein Schaden entsteht, weil nämlich nichts daraus folgt. Wolfgang Lieb
Die NachDenkSeiten hatten bereits über die alternative Regelsatzberechnung berichtet, die die Diakonie vorgelegt hatte. Die großen Leitmedien wie SZ, FAZ, etc. haben darüber nicht berichtet! Ein Frankfurter Arbeitskreis hat jetzt ebenfalls eine Berechnung des Regelsatzes vorgelegt [PDF – 210 KB]. Auch hierüber haben wichtige Medien bisher nicht berichtet. Wir weisen deshalb auf das Papier hin. Dem Arbeitskreis gehören nahezu alle bedeutenden Armutsforscher an: so u.a. Dr. Irene Becker, Prof. Dr. Walter Hanesch, Prof. Dr. Richard Hauser, Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach, Prof. Dr. Anne Lenze, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. Albrecht Müller
Ursula von der Leyens Plan, höhere Sozialleistungen für Kinder im Hartz-IV-Bezug nicht auszuzahlen, sondern ihnen Gutscheine, einen „Bildungspass“ bzw. eine Chipkarte auszuhändigen, findet über die parteipolitischen Lagergrenzen hinweg zahlreiche Anhänger/innen. Einer der Hauptgründe hierfür dürfte das in der Gesellschaft weit verbreitete Vorurteil sein, eine vom Bundesverfassungsgericht am 9. Februar 2010 angemahnte Erhöhung des Regelsatzes komme bei vielen Kindern aus sog. Hartz-IV-Familien gar nicht an, weil die Eltern das Geld eher zur Befriedigung ihrer eigenen Konsumbedürfnisse ausgeben würden. Zwar mag es tatsächlich den einen oder anderen Vater geben, der sich eher den beinahe schon sprichwörtlichen Flachbildschirm kaufen würde, als das zusätzliche Geld seinen Kindern zugute kommen zu lassen. Mit den seltenen Ausnahmen „vergnügungssüchtiger“ Familienväter zu begründen, dass keine Erhöhung der Regelsätze stattfinden soll, womit alle übrigen Eltern und Kinder völlig schuldlos benachteiligt würden, wäre aber mehr als perfide. Dass auch Unternehmen staatliche Subventionen zweckentfremden, zeigt der jüngste Missbrauchsskandal beim Kurzarbeitergeld, hat bisher freilich bezeichnenderweise nie die Forderung nach sich gezogen, ihnen keine Subventionen mehr zu gewähren oder bloß noch Gutscheine auszuhändigen. Von Christoph Butterwegge
Lassen wir uns nichts vormachen, hinter dem mit viel öffentlichem Wirbel angekündigten „Bildungspaket für Kinder und Jugendliche“ stehen folgende Prämissen:
Aus diesen politisch selbst aufgestellten „Fallen“ will nun die Sozialministerin organisatorisch mit dem „Bildungspaket“ und technisch mit der „Bildungskarte“ entkommen. Eine Kapitulationserklärung der Bildungspolitik und ein schleichender Leitbildwechsel vom Sozial- in den Almosenstaat. Wolfgang Lieb
Was die Bild-Zeitung mit ihrer Kampagne gegen eine Anpassung der Hartz-IV-Regelsätze an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts betreibt, hat kein anderes Ziel als Bevölkerungsgruppen gegen Bedürftige aufzuhetzen und mit dieser Hetze öffentlichen Druck auf die Senkung solcher Fürsorgeleistungen aufzubauen, auf die gerade diejenigen angewiesen sind, die aufgehetzt wurden. Mit dieser Kampagne wird gleichzeitig einer weiteren Senkung der Löhne und einer Ausweitung des Niedriglohnsektors Vorschub geleistet.
Es ist bekannt, dass die Bild-Zeitung überwiegend von Menschen mit niedrigem Einkommen gelesen wird. Deshalb ist es geradezu zynisch, dass gerade diese Menschen den Kakao auch noch trinken sollen, durch den sie gezogen werden. Wolfgang Lieb
Fast 900 Tafeln versorgen vor allem in den Städten die Armen Bürgerinnen und Bürger mit notwendigen Lebensmitteln. Die Tafelbewegung gehört zu den erstaunlichsten Sozialen Bewegungen der Republik. Das Lob für die Tafeln ist politikübergreifend überschwänglich, menschenwürdige Versorgung und bürgerschaftliches Engagement haben eine scheinbar gute Verbindung gefunden. Aber in Wahrheit ist der Erfolg ambivalent: Die Blüte der Tafeln ist gleichzeitig der Niedergang des bröckelnden Sozialstaats. Von Peter Grottian
Ein Nachdenkseitenleser hat einen interessanten Bericht über seine Erfahrungen mit Dozenten in VWL geschickt. Was Dozenten bei der Fortbildung erzählen, ist offenbar unbeeindruckt von der Krise, in die uns die herrschende Lehre geführt hat. Bei Gesprächen darüber wurde ich auf die Aktivitäten der Deutschen Bundesbank und der Allianz AG und Deutschen Bank aufmerksam gemacht. Offenbar verschärfen diese „Täter“ ihre Indoktrination. Das zeigt, dass sie auch diese Krise ihrer Ideologie mit Meinungsmache zu überwinden versuchen. Wir können nur darum bitten gegenzusteuern. Nicht alle Dozenten und Lehrer, die die herrschende Lehre weitergeben, tun dies mit böser Absicht. Albrecht Müller
Der 1. Senat hat mit seinem Urteil vom 9.2.2010 nicht eine überfällige Debatte über gesellschaftliche Ungleichheit angestoßen und selbst eröffnet, allen Grund- und Menschenrechten und jeder Form der Demokratie abträglicher als alle anderen Gegebenheiten. Er hat die feinen und groben Unterschiede würdig abgesegnet. Nicht die Grund- und Menschenrechte als normae normantes, als täglich dirigierende politische Normen sind von ihm mit neuem Leben versehen worden. Nein: die normative Kraft des Faktischen. Das, wie es mit katastrophischen Unterschieden und schlimmen Effekten nach innen und außen ist, wie es ist, wird gelobt, dass es so ist. Von Wolf-Dieter Narr
Es ist schon ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang, dass der Präsident des Bundesverfassungsgerichts und gleichzeitig der Vorsitzende des das Hartz-IV-Urteil fällende Ersten Senats, nachträglich in einem Interview mit der konservativen Welt seinen eigenen Richterspruch interpretiert. Die Meinung die Hans-Jürgen Papier in der Welt vertritt, stellt eine sehr einseitige Auslegung dieses Urteils dar, man könnte geradezu von einem nachträglichen abweichenden Minderheitsvotum sprechen. Christian Girschner hat für uns die einschlägigen Passagen des Interviews analysiert.
Wir sind geradezu umzingelt von interessengeleiteten Think-Tanks, die reflexartig ihre Geschützrohre in Stellung bringen, wenn sie ihre sozialstaatsfeindlichen Positionen gefährdet sehen. Das umso mehr, wenn diese Gefahr vom höchsten Gericht ausgeht. Als Denkfabriken getarnte Propaganda-Agenturen versuchen sofort, mit allen Mitteln die Stimmung im Lande in ihrem Sinne zu beeinflussen und sie drehen selbst den Karlsruher Richtern ihren Spruch im Munde herum.
Wenn es nicht gelingt, diese massive Manipulation der Öffentlichen Meinung zu durchschauen und damit auch zu durchbrechen, dann bleibt die Mehrheit der Bevölkerung Freiwild dieser Propagandaapparatur, die mit viel Geld und publizistischer Macht ausgestattet ist.
Westerwelle ist dabei nur der Bauchredner und die spendengehätschelte Marionette derjenigen, die auch hinter den PR-Agenturen stehen. Wolfgang Lieb
Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen nach Hartz IV geht es wie vielen Entscheidungen dieses Gerichts:
Jeder liest heraus, was er will. Jeder interpretiert hinein, was ihm passt. Jeder bekundet dem Gericht seinen Respekt, handelt dann aber nicht danach.
So soll gerade bei Entscheidungen, die ein Handeln des Gesetzgebers verlangen, die Debatte in eine Richtung geführt werden, die der eigenen politischen Vorstellung entspricht. Auch jetzt wird mit aller Raffinesse versucht davon abzulenken, worum es geht: Das, was die Verfassung verlangt, in einfaches Recht umzusetzen. Von Rüdiger Frohn
Der FDP Vorsitzende, Guido Westerwelle, inszeniert erneut seine Diffamierungsorgien gegen die sozial Schwachen in unserer Gesellschaft – sozusagen als zynisches Patentrezept, um die FDP aus dem Umfragetief zu holen. Gleichzeitig verpasst das Bundesverfassungsgericht der Politik zum zweiten Mal in Sachen Hartz IV eine schallende Ohrfeige. Das Gericht verlangt, die Job Center sowie die Regelsätze für Hartz IV und dabei vor allem die Kinderzuschüsse auf eine verfassungsgemäße gesetzliche Grundlage zu stellen. Von Ursula Engelen-Kefer
Das Bundesverfassungsgericht hat die Berechnung der Regelsätze bei Hartz IV (Arbeitslosengeld II und Sozialgeld) für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt und die Bundesregierung verpflichtet, bis zum 1. Januar 2011 eine Neuberechnung vorzunehmen und bis dahin nötigenfalls einmalige Beihilfen zu gewähren, um Hilfebedürftigen durch Deckung ihrer Sonderbedarfe eine menschenwürdige Existenzsicherung zu gewährleisten.
Von Christoph Butterwegge